Die besten Krimis für den Sommer 2022:
Dror Mishani, Vertrauen
Ü: Markus Lemke
Diogenes, 352 S.
Avi Avraham ermittelt wieder: Dror Mishanis überragender Israel-Krimi »Vertrauen« erzählt, wie das Politische bis in die Keimzellen der Familie wirkt.
Eine Szene von biblisch-mythologischen Dimensionen: In einem Einkaufszentrum bei Tel Aviv wird eine herrenlose schwarze Tasche aufgespürt, deren Inhalt symbolische Sprengkraft hat: Denn das ausgesetzte Neugeborene, das darin liegt, ist die Frucht der kurzen Verbindung einer jungen Jüdin mit einem ebenso jungen Araber. Dass es überlebt, grenzt an ein Wunder. Denn eigentlich hätte es nie das Licht der Welt erblicken sollen.
Fast zeitgleich verschwindet ein mutmaßlicher Schweizer Tourist aus einem Strandhotel. Das Gepäck, das er zurückgelassen hat, wird von zwei Fremden abgeholt. Aber das Kokain, das später in seinem Zimmer gefunden wird, war bei Oberinspektor Avi Avrahams erster Visite noch nicht da. Der Vermisste soll für den Mossad gearbeitet haben und war mit einer Libanesin liiert. Auch von ihr fehlt jede Spur. Avi Avraham, der sich nicht länger mit Bagatelldelikten herumschlagen will, ermittelt auf eigene Faust.
»Vertrauen«, Dror Mishanis vierter Krimi um den empathischen Ermittler Avi Avraham, ist ein Titel mit einer starken Botschaft. Die zwei Fälle haben nur auf den ersten Blick nichts miteinander gemein und führen Avraham nach Paris. Dort trifft er nicht nur die Tochter des Agenten, sondern auch Danielle, die Mutter des weggelegten Babys. Sie sollte sich dort verstecken, bis Schilf über die Sache gewachsen war.
Das Bild eines ausgesetzten Kindes, erklärt der israelische Autor Dror Mishani, »ist das Herzstück so vieler nationaler Mythen: zum Beispiel unseres eigenen Nationalmythos von Moses und wie er als Ägypter, von einer ägyptischen Frau, erzogen wurde, nur um später die Hebräer aus Ägypten hinauszuführen. Vielleicht erzählt es uns, dass die Ursprünge von Nationen niemals ›rein‹ sind – und Gott sei Dank dafür! Dass wir, wenn wir geboren werden – als Nation, aber auch als Individuen –, immer schon ›gemischt‹, hybrid sind und andere in uns tragen. Es ist auch der Moment einer großen moralischen Entscheidung, der uns zeigt, wie wichtig es sein kann, ein einziges Leben zu retten: Was für eine großartige Frau ist die Tochter des Pharaos, dass sie ihren Vater verrät, sich seinem Befehl, alle jüdischen Buben zu töten, widersetzt und das Leben eines einzigen kleinen Babys rettet – aber sehen Sie nur, was das alles geändert hat!«
Das Kind im Buch bekommt den Namen »Emunah« (»Glaube«, »Vertrauen«) – ein Zeichen der Hoffnung in der Krisenregion? »Ich kann nur sagen, was es für mich bedeutet: dass das Leben überall weitergeht und entsteht, ob wir es wollen oder nicht, mit unserer Unterstützung oder ohne sie, und dass es an uns liegt, wie verantwortungsvoll wir damit umgehen.«
Die Ursprünge der Gewalt der Charaktere sind »einerseits sehr persönliche Enttäuschungen, Neid, Frustrationen, sogar Selbsthass. Diese Gefühle gären in ihnen und entladen sich dann explosionsartig an anderen Menschen. Auf der anderen Seite kommt die Gewalt im Roman von der Art und Weise, wie Nationen und staatliche Organisationen unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit manipulieren und sie auf den Hass gegen andere lenken.«
Am Ende erkennt Avi Avraham, der demnächst auch jenseits des großen Teichs ermitteln wird (eine US-Fernsehserie mit Jeff Wilbusch ist in Vorbereitung), worauf es wirklich ankommt: den Blick in die Augen des Gegenübers.
Hochsuggestiv, zutiefst berührend und von Grund auf menschlich: Dror Mishani hat dem Krimi ein neues Gesicht gegeben.
Dror Mishani im Buchkultur-Interview
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