Sie ist die personifizierte Kreativität: In ihrem Roman »Auf allen vieren« erzählt Miranda July lustvoll, ehrlich und (selbst-)ironisch von einer mittelmäßig bekannten Künstlerin, die kurz vor der Menopause das Steuer ihres Lebens herumreißt. Foto: Elizabeth Weinberg


Ein brillant-komischer, berührender Roman über weibliche Selbstfindung, Älterwerden, Liebe, Lust, Mutterschaft und der Sehnsucht, endlich nach Hause zu kommen. Die Gesamtkünstlerin im Interview über die vielleicht aufregendste und wildeste Periode im Leben einer Frau, die Triebfeder ihres Schaffens, Sexualität, ihre Beziehung zu Österreich und Kunst vor dem Hintergrund der prekären Weltlage.

Buchkultur: Was war die Initialzündung für diesen außergewöhnlichen, lustigen, berührenden und auch ernsten Roman?

Miranda July: Um die vierzig herum fing ich an, mir zunehmend Sorgen darüber zu machen, was auf mich zukommen würde. Der Weg, der vor mir lag, schien abzufallen – wie eine Klippe. Nicht nur, dass ich den grundlegendsten medizinischen Tatsachen über meinen Körper förmlich hinterherjagen musste – auch all die ambitionierten Bilder und Geschichten wurden weniger. Und ich schämte mich, dass ich mir Sorgen machte. Dass ich überhaupt so viel darüber nachdachte. Aber ich begann mich zu fragen, ob diese Scham nicht vielleicht der Korken war, der etwas Lebendigeres, Komplexeres und Aufregenderes zurückhielt. Denn es wurde mit dem Alter (41, 42, 43 …) nicht langweiliger, sondern immer wilder, und die Gespräche unter den Frauen immer radikaler. Jede hinterfragte alles – aber, auch da wieder: die Scham. Es war wie ein geheimes, geflüstertes Netzwerk über diese kartenlose, mysteriöse Zeit. Ich begann mich mit der Idee anzufreunden, all das öffentlich zu machen. Ich schrieb die Geschichte »The Metal Bowl«, und als sie im »New Yorker« veröffentlicht wurde, reagierten meine Altersgenossinnen darauf auf eine sehr emotionale Art und Weise. Sie mailten und simsten mir ihre eigenen Geschichten. Also dachte ich, dass ich nichts, aber auch wirklich nichts zu verlieren hätte (die Klippe!), wenn ich einen Roman über Ehe und Sexualität, den Körper und die Freundschaft und die Seele an diesem Punkt des Lebens schreiben würde. Ich wusste, dass ich nicht allein bin, deshalb fühlte es sich nicht mehr wie ein Risiko an. Ich schrieb mit und für alle diese Frauen, mit denen ich mich austauschte. Es war eine Herzklopfen verursachende, ekstatische Erfahrung – diese ganzen vier Jahre des Schreibens und Lebens. Und nun bin ich fünfzig und könnte nicht aufgeregter sein, dieses Buch mit den Lesenden zu teilen und mich in größerem Rahmen darüber auszutauschen – nicht mehr geflüstert, im Geheimen.

»Auf allen vieren« ist auch eine Liebesgeschichte. Sie schreiben sehr explizit und ehrlich über Sex (das ist wohl eher atypisch im prüden Amerika, nehme ich an, und äußerst erfrischend!). Weshalb spricht man (älteren) Frauen das Recht auf Sexualität und Begehren ab? Wie hat sich Ihr Blick, wie hat sich der Blick Ihrer Protagonistin auf Liebe, Sex und Älterwerden in den letzten Jahren verändert?

Was ist anders, wenn man seine Vierziger hinter sich lässt?

Ich weiß es noch nicht recht, weil ich erst seit ein paar Monaten fünfzig bin! Dieses Buch handelt von einer Frau Mitte vierzig in der Perimenopause, einer Zeit großer Veränderung, einer Zeit des Übergangs. Was man in diesen wilden Jahren lernt, lässt sich auf jedes Alter und alle Genderidentitäten übertragen, weil es eine große Expansion bedeutet. Wenn man bedenkt, dass der Körper ein solches Mysterium ist (weiß ich überhaupt, wo genau sich meine Organe befinden oder was physiologisch abläuft, wenn ich einen Orgasmus habe?) und wenn man bedenkt, dass das Gehirn so einen großen Teil der Sexualität ausmacht (»das größte Sexorgan«), würde man meinen, unsere Definition von Sex wäre eine weit geöffnete und in ständigem Wandel begriffen – und doch! Dennoch ist sie so lächerlich eng und beschränkt und hat zu so viel Schmerz und Distanz geführt. Daher wollte ich mit, in diesem Buch alle Annahmen über Sex verwerfen und wirklich, wirklich ehrlich und offen allen Dingen gegenüber sein, die Sex sein können. Ich löschte so viele Sätze, die einfach so herausflossen, aber im Grunde nicht der Wahrheit entsprachen. Ja, ich versuche, wirkliches Begehren zu beschreiben, aber auch den Stress, kein Verlangen zu haben oder auf eine Weise erregt zu werden, die man nicht für heiß gehalten hat. In diesem Buch spielt sich der Sex nicht dort ab, wo er sollte, und dann auf einmal ist der da. Er ist unberechenbar, weil ich nicht glaube, dass Frauen in sexueller Hinsicht wirklich sehr konsistent sind. Und warum sollten wir es auch sein?

Ihr Roman spielt, auch ironisch, mir autofiktionalen Elementen. Wie viel von Miranda July ist im Buch? Ist die Einführung des Popstars Arkanda auch eine Art literarische Hommage an Rihanna, die Sie einmal selbst interviewt haben?

Ich wusste, dass die Erzählerin eine Frau in meinem Alter sein würde, die ein Kind und einen Mann hat, und dass es, wie alles, was ich mache, Fiktion sein würde. Aber anstatt mir die Mühe zu machen und zu sagen: SIE IST NICHT ICH. SIE HAT ROTE HAARE UND SIE IST EINE CHIROPRAKTIKERIN, dachte ich, dass es interessanter wäre, mir einiges von dieser autofiktionalen Ambiguität zu leihen, die ich als Leserin von Sheila Heti, Dodie Bellamy oder Annie Ernaux so schätze – vielleicht könnte ich großzügig sein und meine Position mit meiner Erzählerin teilen. Es ist vielleicht ein lustigerer, weniger ängstlicher Weg, dieses Problem der Verwechslung von Autorin und Ich-Erzählerin anzusprechen und es als Werkzeug zu verwenden, das die fiktionale Geschichte erzählen hilft und ein bisschen Schwung hineinbringt. In dem Buch geht es zum Teil auch darum, sich klarzuwerden, wer man ist. Das Risiko, das darin liegt. Es lohnt sich, immer wieder wiederholen zu müssen, dass ich eine Romanautorin bin. Denn ich glaube, hinter der Frage steckt die Hoffnung, dass ich genauso mutig bin wie meine Protagonistin. Aber die Lesenden kennen die Antwort darauf bereits, ich schrieb den Roman auf eine Weise, die das deutlich macht. Was Rihanna betrifft: Wer könnte sie treffen und nicht von ihr inspiriert sein? Aber da ist tatsächlich noch eine andere atemberaubende Sängerin, die diesen Charakter letztlich genauso stark geprägt hat wie Riri – und eine Schauspielerin und … Fiktion ist so merkwürdig, es gibt keinen Charakter im Buch, der nicht aus einer Million Einzelteilen zusammengesetzt ist.

Illustration: Jorghi Poll


Ab einem bestimmten Alter werden Frauen in unserer patriarchalen Gesellschaft unsichtbar, besonders auch in Hollywood. Perimenopause und Wechseljahre werden nach wie vor als zu therapierende Krankheit missverstanden und behandelt. Frauen werden mehr oder weniger damit alleingelassen. Andererseits: Bringen Älterwerden und Menopause nicht auch eine Art Freiheit mit sich? Wenn Frauen nicht länger dem male gaze ausgesetzt sind und als (Sexual-)Objekt zur Verfügung stehen? Ist die (Peri-)Menopause für Frauen auch eine Chance, sich neu zu (er-)finden? Eine Art Wiedergeburt? Bringt sie eine Art von neuer Freiheit? Sympathisieren Sie mit Ihrer Protagonistin? Was macht sie durch?

Ich war nie besonders begeistert von der Vorstellung, dass man Freiheit durch Ignoriertwerden erlangt. Das schien mir immer so, als würde man sagen: Wir bekommen jetzt nur noch Krümel, aber wir dürfen sie jetzt endlich essen, weil uns niemand mehr zusieht! Ich glaube, ich gehöre der Denkschule an, die sich ihren Schatten stellt – in diesem Fall der Angst, dass mit zunehmenden Alter meine Kraft abnimmt und mir damit auch meine Sexualität abhanden kommt –, die sich mit dieser Angst auseinandersetzt und bewusst damit verbindet, sie zu der Party einlädt. Denn sonst wird sie mich ein Leben lang verfolgen, mein Selbstwertgefühl und meine Selbstwahrnehmung beeinträchtigen, meine Beziehungen, meine Arbeit. Als ich mich durch dieses eklige Zeug wühlte, diese Scham, wurde ich irgendwie high – wie wenn man vor einem Monster steht und sagt: Ich glaube nicht, dass du wirklich existierst, und es zerfließt und löst sich auf, und an seiner Stelle ist da all dieser Platz und diese Freiheit. Ein Geschenk dieser Periode im Leben einer Frau, die auf eine so reduzierte, limitierte Weise repräsentiert wird, ist, dass sie eine Menge Spaß, Geheimnisse und Überraschungen mit sich bringt. Wirkliche, Herzklopfen verursachende Aufregung, mit der man nicht gerechnet hätte. Während dir in der ersten Hälfte des Lebens erzählt wurde, was dich erwartet, und du dann vielleicht enttäuscht warst.

Ihre ungewöhnlichen Filme sind – Gott sei Dank – keine typischen Mainstream-Filme. Können Sie sich vorstellen, jemals für Hollywood zu arbeiten? Vor Kurzem wurde das Vergewaltigungsurteil gegen Harvey Weinstein aus dem Jahr 2020 aufgehoben. Hat die #MeToo- Bewegung das Bewusstsein für Missbrauch und Ungerechtigkeit in der Unterhaltungsbranche gar nicht geschärft?

Ich arbeite in und für Hollywood! Es ist hier alles ein und dieselbe große Industrie. Es gibt jetzt Frauenquoten und sicherlich haben die Leute Angst davor, gecancelt zu werden. Aber die Shows und Kinofilme, nach denen Studios und Streamer Ausschau halten – jetzt, wo die #MeToo-Bewegung lange vorbei ist –, werden als »WMWG« bezeichnet: »White Men with Guns«, »Weiße Männer mit Gewehren«. Es ist dreist.

Isabel Allende sagte einmal, dass es immer Frauen waren, die sie in ihrem Leben unterstützten. Wie wichtig sind Frauen in Ihrem Leben?

Ja, es gibt eine kleine Handvoll von Frauen an der Macht, die mir die Tür geöffnet haben und es auch weiterhin tun. Kuratorinnen, Programmmacherinnen, Produzentinnen, Agentinnen und Verlegerinnen – nie besonders viele, aber gerade genug, um das Gestalt annehmen zu lassen, was für mich möglich war. Als ich jünger war, sah ich nicht, wie weit sie sich für mich aus dem Fenster lehnten, Risiken für mich eingingen. Jetzt darf ich diese Person sein. Und es stellt sich heraus, dass es aufregend ist, für eine andere Frau Strategien zu entwerfen, Türen für jemanden zu öffnen, von dem man begeistert ist. All diese Jungsclubs? Diese Männerbünde? – Die Jungs machen das dort: ihren Freunden Jobs verschaffen.

Machen Sie für sich einen Unterschied, ob Sie einen Film drehen, einen Roman oder ein Drehbuch schreiben oder eine Performance machen? Welches Medium gefällt Ihnen am besten?

Ich versuche grundsätzlich mit all meiner Arbeit etwas wirklich Lebendiges zu erschaffen, etwas Überraschendes, das einen zum Nachdenken bringt – aber nicht mit dem Kopf, der urteilt, sondern mit dem Gefühl. Ich hoffe, dass mir das mit diesem Roman gelingt. Meine Eltern sind Autoren. Ich wuchs in dem Verlag auf, den sie von zuhause aus betrieben. Daher fühlt sich das Schreiben wie meine Erstsprache an, wie das mir angenehmste und natürlichste Medium. Aber Filmemachen und Performances, die vielleicht als Rebellionen begannen, haben mir so viel über das Publikum beigebracht. Ich habe die letzten vier oder fünf Entwürfe des Buchs laut gelesen, von Anfang bis zum Ende, und obwohl ich technisch gesehen allein in meinem Studio bin, habe ich an diesem Punkt meines Lebens ein starkes Gespür für das Publikum in mir – von Jahrzehnten beim Film und als Performancekünstlerin: Ich kann es spüren, wenn seine Aufmerksamkeit nachlässt, weil ich übermäßig verwirrend geworden bin oder den Faden verloren habe. Manche Leute sind stolz darauf, nie an das Publikum zu denken, aber für mich ist es eine sehr bedeutungsvolle Beziehung. Gerade Bücher werden hauptsächlich von Frauen gelesen. Viele von ihnen sind mit mir aufgewachsen und meine Peers, sogar wenn wir uns niemals begegnen.

Wir leben in unsicheren, schwierigen Zeiten: Der Ukraine-Krieg, der Nahost-Krieg, der Klimawandel, die kommenden Wahlen in den USA … Dennoch neigen wir immer noch dazu, uns zurückzuhalten und verabsäumen es, unsere Gefühle miteinander zu teilen und uns miteinander zu verbinden. Welche Aufgabe hat Kunst in diesem Kontext? Ist es ein Mittel, unsere Verletzlichkeit miteinander zu teilen? Hat Kunst heilsame Kraft? Gibt sie unserem Leben Sinn? Was bedeutet Kunst für Sie?

Ich glaube, wir Menschen brauchen eine Aufgabe, einen Sinn in diesem Leben, eine Art Fokus, nach dem wir uns richten können. Ein Gefäß, aus dem du schöpfen kannst, um dich zu entwickeln, kann dein ganzes Leben lang halten. Kunst kann das sein. Aber manche Krisen liegen außerhalb der Kunst und können nicht aufgehalten, repariert oder leicht mit Hilfe der Kunst erforscht werden. Uns bleibt die Luft weg – und es gibt keinen Orientierungspunkt und keine Rettung. Dann kann man nur noch einen Freund oder eine Freundin anrufen. Und dann, Überraschung, Überraschung, schreibt man dennoch darüber. Weil es einem hilft, damit klarzukommen.


»Meine Eltern sind Autoren. Ich wuchs in dem Verlag auf, den sie von zuhause aus betrieben. Daher fühlt sich das Schreiben wie meine Erstsprache an, wie das mir angenehmste und natürlichste Medium.«


Muss Kunst riskant sein? Darf, soll sie politisch sein? Soll Kunst polarisieren, verstören? Soll uns Kunst aus unserer Komfortzone locken?

Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass man generalisieren kann, was riskant ist. Landschaften zu malen ist für einen Künstler vielleicht riskant – aus uns unbekannten Gründen. Die Kunstgeschichte ist voll von Männern, die versuchen, Menschen aus ihrer Komfortzone zu locken und alle sagen: Wow, wie gewagt! Das Riskante in den aus Federn gebildeten Skulpturen der chilenischen Künstlerin Cecilia Vicuña dagegen ist vielleicht nicht so offensichtlich, aber viel radikaler.

Ihre Verbindung, Ihr Bezug zu Österreich, zu Wien? Kennen, schätzen Sie österreichische Künstler/innen, Autor/innen, Filmschaffende?

Die österreichische Künstlerin Friedl Kubelka vom Gröller hat mich sehr beeinflusst. Vor etwa zehn Jahren bekam ich ein Buch über ihr Werk, in das ich mich verliebte. So sehr, dass ich einen Charakter in meinem ersten Roman nach ihr benannte: Kubelko Bondy (früher war Friedls Nachname Kubelka-Bondy). Ich tat das, ohne sie zu fragen. Aber ich habe sie schließlich aufgespürt und kontaktiert. Sie war sehr nett, beeindruckend und scharfsinnig und ich spürte, dass wir so ein bisschen Seelenverwandte waren. Also habe ich mein Glück herausgefordert und sie gebeten, sich an einer Serie quasi-konzeptueller Skype-Interviews zu beteiligen. Sie sagte zu und war mir gegenüber unglaublich großzügig und offen. Ungefähr ein Jahr später fragte sie mich, ob ich eine Geschichte für sie schreiben würde, die das Vorwort zu ihrem neuen Fotoband sein könnte. Normalerweise würde ich antworten: Bist du verrückt? Weißt Du überhaupt, wie schwer es ist, eine gute Kurzgeschichte zu schreiben? Aber ich wollte Friedl unbedingt alles geben, was sie wollte, und sie bot mir im Gegenzug eine Fotografie an. Ich entschied mich für eines meiner Lieblingsbilder: eine nackte Frau, die vor einer Wand steht und diese anschaut, während ihr Mann und ihr Kind gemütlich am Frühstückstisch sitzen und ruhig und neugierig auf ihren Hintern schauen. Ich schrieb »The Metal Bowl« für sie (die Geschichte, die ich anfangs erwähnte). Und diese Geschichte war die Saat für »Auf allen vieren«. Ich habe Österreich – oder zumindest Friedl – also viel zu verdanken.


Die 1974 in Barre, Vermont, als Miranda Grossinger geborene Performancekünstlerin, Filmemacherin und Autorin Miranda July ist die aufregendste Künstlerin unserer Zeit. Ihre Arbeiten waren im Museum of Modern Art und auf der Biennale in Venedig zu sehen. Für ihre Filme »Ich und du und alle, die wir kennen«, »The Future« und »Kajillionaire« schrieb sie die Drehbücher und führte Regie. In den ersten beiden übernahm sie auch eine der Hauptrollen. Für ihren Kurzgeschichtenband »Zehn Wahrheiten« wurde sie mit dem hochdotierten Frank O’Connor-Preis ausgezeichnet. 2017 folgte der Roman »Der erste fiese Typ«. Eine Retrospektive ihres Gesamtoeuvres ist derzeit im Mailänder Osservatorio Fondazione Prada zu sehen. Eine Würdigung in Buchform ist auf Englisch erhältlich (»Miranda July«).

Miranda July
Auf allen vieren
Ü: Stefanie Jacobs
Kiepenheuer & Witsch, 416 S.