Die Autorin im ungekürzten Buchkultur-Interview zu ihrem neuen Roman „Coming of Karlo“.
Buchkultur: Ich habe das Gefühl, dass Ihr Roman „Coming of Karlo“, der auch formal und stilistisch Grenzen überschreitet, einen besonderen Stellenwert in Ihrem Werk innehat. Ist das so? Inwiefern?
Lisa Kränzler: Definitiv. Es nimmt eine Sonderstellung ein in meinem Werk. „Werk“ ist immer so ein großspuriger Begriff, aber ich kann sagen, dass sich mit „Karlo“ alles verändert hat. Mein Arbeiten hat sich komplett verändert. Ich dachte nach den ersten drei Romanen, die ich alle sehr schnell geschrieben habe – die waren alle innerhalb von einem halben Jahr fertig –, ich hätte diese Sache mit dem Schreiben im Griff. Und dann kam „Karlo“, und zunächst ging ich davon aus, dass es auch ein Roman werden würde wie die anderen. Ich dachte, in maximal einem oder einem halben Jahr bin ich damit durch. So war es dann aber nicht. Die Kontrolle darüber ist mir vollkommen entglitten. „Karlo“ zu schreiben war vielmehr wie eine gewaltige Malerei zu realisieren. Wie beim Malen, wo man meistens das Gefühl hat, dass man nicht viel oder wenig in der Hand hat. Das Material macht sich selbständig und man kämpft damit und versucht es zu bewältigen. Ich bin jeden Tag an die Schreibmaschine beziehungsweise ins Atelier gegangen und wusste nicht, was passieren würde und wusste auch nicht, wie ich durchkomme, ob ich durchkomme, was entsteht, wie ich es machen werde. Es war wie ins Wasser fallen, und dann bin ich um mein Leben geschwommen.
Was ging da so tief? Was hat sich da verselbständigt?
Die Sprache, glaube ich, das Material. Das Material, mit dem man umgeht, ist ja die Sprache. In den vorangegangenen Romanen hatte ich tatsächlich eine Art Bilderliste zu Beginn jedes Romans. Ich habe tatsächlich auf einem A4-Papier eine Liste von Bildern erstellt, die mich umtreiben, wo ich wusste, das sind die wiederkehrenden Bilder, das sind die wiederkehrenden Träume, das sind die Dinge, die ich abarbeiten muss Und dann konnte ich mehr oder weniger streng von Bild zu Bild fortschreiten. Mit „Karlo“ war das so nicht mehr möglich. Vielleicht auch, weil ich während des Schreibens erkannt habe, dass die Sache mit den Bildern eine Illusion ist, dass es gar keine tatsächlichen Bilder gibt, sondern dass es vielmehr so eine Art Klecksographien sind. Es ist etwas da, es sind Farben da, Erinnerungsfetzen, Begriffe, ja, eben Kleckse, Kleckse verschiedener Art, die ich dann schreibend weiterführe. Die Vorstellung und das Bild entstehen beim Schreiben. Ich kann eigentlich nicht darüber entscheiden, was ich mir vorstellen kann und was nicht, sondern es entscheidet sich im Prozess. Und dieser Unterschied war plötzlich bestimmend.
Das heißt, Sie haben sich bei Ihren vorherigen Romanen wie beim Malen Skizzen gemacht und diesmal haben Sie sich hineingestürzt ohne sich auf so etwas verlassen zu können?
Ja, ich konnte mich tatsächlich auf gar nichts mehr verlassen. Ich wusste auch nie, wo ich am Ende des Tages sein werde mit dem Text. Ich war nie jemand, der seine Romane so am Reißbrett entworfen hat. So bin ich sowieso nie vorgegangen. Aber es war doch so, dass ich eben aufgrund der wiederkehrenden Bilder, die ich dachte, die ich beschreibe, was sich dann irgendwie als Illusion herausgestellt hat, aber dass diese Illusion mir eine Form von Stabilität gab, weil ich dachte, ich weiß, was ich tue, ich weiß, worum es geht. Und es hat sich dann aber herausgestellt, dass das nicht so ist.
Das ist fast wie bei einer Geburt. Da gibt es einen Moment, in dem man die Kontrolle verliert und Angst hat. Man kommt an seine Grenzen. Ging Ihnen das bei „Karlo“ auch so?
Total. Ich bin über meine Grenzen gegangen mit dem Buch, die letzten drei Jahre eigentlich ständig. Ich kenne „Karlo“ seit 2007, aber ich schreibe ihn erst seit 2012. Natürlich mit Unterbrechungen, weil ich zwischendurch Lektorate hatte, große Ausstellungen und andere Dinge, die mich beschäftigt haben und ich die Arbeit dann immer wieder zeitweise unterbrechen musste. Aber es lief so seit 2012, und dann besonders intensiv die letzten drei Jahre, nachdem die anderen Bücher endgültig abgeschlossen waren und da nichts mehr zu tun war. Die letzten drei Jahre waren ein großer Kampf.
Der Protagonist Karlo wird zweifach verwundet: beim Fußballspiel und als er die Entdeckung macht, dass er jemand anderer ist, als er zu sein glaubte.
Von der Verletzung, von seinem Schienbeinbruch erfahren wir ja gleich zu Beginn. Aber was der Leser erst zum Höhepunkt hin oder im Höhepunkt erfährt, ist, dass er die Entdeckung, dass sein Vater nicht sein Vater ist – was er ja schon immer gefühlt oder vermutet hatte –, tatsächlich ja quasi zugleich macht. Er macht diese Entdeckung kurz nach der Schienbein-OP. Die beiden Verwundungen finden eigentlich zur selben Zeit statt. Und es ist gar nicht so klar, ob der Schienbeinbruch, ob diese Geschichte, dieser Schmerz, so ausgeartet wäre, wenn er nicht gleichzeitig diese Entdeckung gemacht hätte. Es wird ihm sozusagen doppelt der Boden unter den Füßen weggezogen. Einmal ganz wörtlich, er kann nicht mehr laufen, und dann – in diesem Moment der Schwäche, wo er zuhause ist und nichts machen kann – macht er noch zusätzlich die Entdeckung, dass er von seiner Mutter belogen wurde. Diese Doppelung kann er nicht verschmerzen. Das ist zu viel.
Was stellt das mit ihm an? Er ist ja eine Figur, die einem ja einmal sympathisch ist. Man leidet mit ihm mit. Und dann kommt etwas ins Spiel, das einem nicht sympathisch sein kann.
Es ist interessant, dass Sie sagen, dass Sie ihn sympathisch finden. Das freut mich natürlich. Das finde ich gar nicht so unbedingt klar. Ich liebe ihn. Dass ich ihn liebe, ist klar. Aber ich könnte mir auch gut einen Leser oder Menschen vorstellen, die ihn vollkommen ablehnen und ganz schrecklich finden. Aber was mit Gwen, was da passiert, ist wiederum ein Kontrollverlust. Er versucht ja immer die Kontrolle zu behalten. Umso mehr, seit er sie nicht mehr hat. Denn er hat keine Kontrolle über seine Schmerzen. Er hat keine Kontrolle über seine Mutter, die ihn belügt. Und jetzt verliebt er sich. Und Verlieben bedeutet natürlich Kontrollverlust. Man entscheidet nicht, ich verliebe mich jetzt, sondern das passiert, und man ist dem ausgeliefert. Und so schön diese Verliebtheit natürlich einerseits ist – denn er ist ja begeistert, besessen, verrückt nach Gwen, er ist ja auch auf diese intensiven Erlebnisse aus, er wünscht sich das ja – , spürt er aber gleichzeitig auch, dass er das nicht unter Kontrolle hat. Er hat sie nicht unter Kontrolle und er hat sich nicht unter Kontrolle. Das wird immer mehr zum Problem.
Ist diese Gewaltbereitschaft etwas Männliches? Die Zahlen sprechen ja leider für sich.
Ja, was die Zahlen angeht, könnte man es als männlich titulieren. Ich würde es nicht tun. Ich habe sowieso meine Probleme mit den Adjektiven „männlich“ und „weiblich“. Ich weiß nie so recht, was damit eigentlich gemeint ist. Kontrollverlust erzeugt ja Angst. Wir wollen Stabilität, wir wollen Sicherheit, wir wollen wissen, was Sache ist. Der Kontrollverlust erzeugt Angst, und aus dieser Angst heraus sind, denke ich, Männer wie Frauen dann zuweilen gewaltbereit. Und das kann ja unterschiedliche Gewalt sein. Und das zeigt sich ja in „Karlo“ auch. Er ist ja nicht nur gewalttätig dann Gwen gegenüber, er ist ja auch gewalttätig gegen sich selbst. Und diese Gewalt, die aus der Angst entspringende Gewalt kann man gegen sich selbst richten oder gegen andere. Das ist eine Reaktionsmöglichkeit. Es gibt immer diverse andere Möglichkeiten. Man könnte auch in eine Art Starre verfallen, oder was auch immer, was eben Angst so evozieren kann. Aber ich denke für impulsive Menschen – und Karlo ist eben nun mal ein sehr impulsiver Charakter – ist dann Gewalt vielleicht eher die „Lösung“ – natürlich ist es keine Lösung –, die Scheinlösung. Jemand mit einem anderen Charakter würde womöglich anders reagieren. Aber er hat nun mal den Charakter, den er hat.
Und diese Gewalt, die in Karlo schlummert, hat mit dem angesprochenen Kontrollverlust zu tun? Gwen wirft ihm ja vor, dass er sie besitzen will.
Ja, auch mit einer Gier. Gier nach Kontrolle. Es ist eigentlich eine Gier nach Kontrolle, aber auch eine Gier nach Sensation, Sensation im Sinne von sinnlichem Erlebnis.
Woher kommt diese Gier nach Sensationen und sinnlichen Erlebnissen? Ist die Gier heute stärker als früher?
Die Gier ist meine persönliche Erfahrung, und obzwar ich nicht ausschließe, dass andere sie ebenso kennen, würde ich sie niemals verallgemeinern.
Würden Sie sagen, dass Karlo auch eine Art narzisstischer Kränkung erfährt, als er herausfindet, dass Frank nicht sein Vater ist?
Dass Frank nicht sein Vater ist, freut ihn ja zunächst. Das findet er ja gut, denn er konnte ihn nie leiden, und der war ja auch nie ein Vorbild für ihn. Die Kränkung besteht einmal darin, dass die Mutter ihn betrogen und belogen hat. Aber vor allem, was ihn dann im Zusammenhang mit der Mutter dann vielleicht sogar noch mehr beschäftigt, ist die Frage: Liebt sie mich überhaupt so sehr oder liebt sie mich eigentlich nur, weil ich dem gleiche, den sie einmal geliebt hat? Und das könnte man dann vielleicht als narzisstische Kränkung bezeichnen, dass man sich plötzlich fragen muss: O.k., ich bin das leibliche Abbild meines Vaters und den hat sie offenbar geliebt und vielleicht, womöglich sieht sie mich gar nicht als Ich. Womöglich schaut sie mich an und sieht gar nicht mich als ihren Sohn, als ihr Kind, sondern immer nur den Vater. Und Karlo hat damit ja auch gar nicht so unrecht, denn natürlich erinnert er sie an den Vater, an ihre große Liebe.
Diesen Verlust der Kindheit, der öfter angesprochen wird, dass etwas unwiederbringlich vorbei ist –, das erlebt er ja auch als einschneidend, als traumatisch. Haben Sie das auch so erlebt? Kennen Sie das?
Ja, definitiv. Ich gehe davon aus, dass der Verlust der Kindheit mich mein Lebtag lang beschäftigen wird. Nicht einmal, weil man viel darüber nachdenkt, sondern weil es immer wieder Momente gibt, in denen die Kindheit plötzlich so wahnsinnig nah, so präsent ist – tatsächlich wie bei Proust: Man beißt in einen Keks, man riecht etwas Bestimmtes, es ist irgendetwas in der Luft, irgendeine Sache, ein Löffel fällt einem aus der Hand, was auch immer passiert – und plötzlich ist man wieder fünf Jahre alt oder sieben oder zehn. Und man ist in seinem Kinderzimmer oder im Garten oder im Wald oder wo man eben war, und sieht das alles wieder, natürlich mit dem Wissen: Es sieht nicht mehr so aus. Die ganze Umgebung sieht nicht mehr so aus. Es ist unwiederbringlich verloren. Und wenn nur deshalb, weil die Eltern zum Beispiel die Esszimmerlampen inzwischen ausgetauscht haben und sie nicht mehr so aussehen, wie sie damals waren, und damals war man fasziniert von dieser bestimmten Lampe, aber die existiert nicht mehr.
War das bei Ihnen ein bestimmtes Ereignis, das das Ende der Kindheit ausgelöst hat oder waren es viele kleine Ereignisse?
Ich glaube, es waren viele kleine Verluste. Man wächst und dieses Wachsen ist fließend und irgendwann stellt man fest, dass es jetzt vorüber ist.
Alle Ihre Romane beschäftigen sich mit der Zeit des Erwachsenwerdens, der Adoleszenz. Wie prägend ist diese Zeit des Verlustes der Kindheit, eine Zeit, die ja sehr verstörend ist, wo man gar nicht weiß, wohin mit sich und allem anderen?
Weswegen mich diese Zeit von Null bis Zwanzig beschäftigt, ist, weil es die Zeit ist, in der wir ohne Vergangenheit leben. Wir haben keine Vergangenheit, auf die wir zurückgreifen können. Es gibt nur Präsens und Zukunft. Es ist die Zeit der ersten Male. Es ist die Zeit, in der alles neu ist und gleichzeitig auch als neu erlebt wird, in der wir geprägt werden. Wenn man sich mit alten Leuten unterhält, die meinetwegen auch schon dement sind oder senil: Wovon sprechen sie? In der Regel von der Schulzeit, von der Kindheit, von Dingen, die weit zurückliegen. Denn das ist letzten Endes, was einen prägt und was bleibt und zwar tatsächlich bis zum Schluss bleibt und dann interessanterweise am Schluss auch wieder aufblüht. Wenn ich zum Beispiel an meine Großmutter denke: Das, wovon sie gesprochen hat, was sie erzählt hat, und was mich als Kind dann auch interessiert und fasziniert hat, das waren immer die Geschichten dann aus der Kindheit, als sie ein sechs-, siebenjähriges Mädchen war, was sie da erlebt hat. Es gibt, glaube ich, kaum jemanden, der intensive Erinnerungen – ich persönlich habe sie zum Beispiel nicht –, an die Zeit zwischen zwanzig und dreißig hat. Da sagt man: Ja, da habe ich halt studiert, und das sind so ein paar Sätze. Oder zwischen dreißig und vierzig. Natürlich, man ist im Leben und muss sich dann irgendwie zurechtfinden, aber man nimmt nicht mehr mit dieser Intensität auch die Umgebung wahr. Ich glaube, das liegt auch daran, dass man so eine Art Hornhaut ausbildet. Und diese Hornhaut besteht aus Gewohnheiten und Konventionen und auch aus Erziehung und aus Ängsten. Aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen baut sich eine Art Hornhaut auf, die dafür sorgt, dass wir die Umwelt nicht mehr so pur oder so intensiv oder nicht mehr so wahrnehmen, wie wir sie als Kind wahrnehmen. Es wäre auch zu viel. Man muss ja dann erwachsen sein. Mal als Beispiel: Babys nehmen alles in den Mund, um es wirklich zu begreifen, zu ertasten. Wir würden als Erwachsene nicht mehr alles in den Mund nehmen. Aber als Kind fasst man auf die heiße Herdplatte, man macht diese vielen schmerzhaften, aber auch schöne Erfahrungen, weil man sich ja auch der Erfahrung total hingibt, weil man gewisse Ängste noch nicht hat, weil man gewisse Regeln noch nicht kennt. Und das geht eben verloren. Und dadurch sind die Erfahrungen im Erwachsenenalter automatisch nicht mehr so intensiv wie in der Kindheit und in der Jugend. Und das ist es, was ich interessant finde, was mich beschäftigt, sind die intensiven, auch körperlichen intensiven Erfahrungen. Und in meinem Leben – ich kann ja immer nur von mir, von meiner Erfahrung ausgehen –, ist es so, dass diese Erfahrungsintensität ab Zwanzig rapide abgenommen hat, und dass ich längst nicht mehr so intensiv erfahre, wie ich es in dieser Zeit vorher getan habe. Und deshalb beschäftigt mich diese Zeit nach wie vor.
Aber Sie haben ja dieses wahnsinnige Glück, weil Sie sie in der Kunst auch wieder erleben, wieder erfahrbar machen.
Ja, das ist wahr. Aber natürlich ist es ein zweischneidiges Schwert, weil es einen auch angreift. Aber es ist tatsächlich so, dass ich diese Erfahrungsintensität, all die, die ich verloren habe durch das Erwachsen-Sein-Müssen, tatsächlich zurückgewonnen habe durch die Sprache, die mich wieder nur verwundbar macht. Was mir jetzt die letzten drei Jahre oder überhaupt die ganze Zeit mit „Karlo“ deutlich gemacht haben, ist, dass es interessanterweise über die Sprache wieder zu Erfahrungen kommt, mit denen ich gar nicht mehr gerechnet hätte.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel, dass man sich plötzlich auf den Knien im Atelier herumrutschend wiederfindet, und dabei ist, aus diversen Schreibmaschinenseiten mit dem Skalpell einzelne Worte auszuschneiden und die zu Sätzen anzuordnen, weil man den Satzbau ansonsten nicht mehr bewältigen kann, und man in diesem Zustand des Wahnsinns tagelang, wochenlang verweilt oder versucht durchzukommen. Und das ist etwas, womit ich nicht unbedingt gerechnet hätte, dass mir das passieren würde.
Die Adoleszenz gilt als eine Zeit besonders hoher Gefährdung und Verletzlichkeit, auch Suchtgefährdung. Weshalb ist das so?
Neurologen meinen, es läge an der Umstrukturierung des Gehirns, beziehungsweise dem dabei entstehenden Ungleichgewicht – das klingt plausibel, ist jedoch nur eine von vielen Antworten, die man, je nachdem, ob man die zugrundeliegenden Kriterien für richtig oder falsch hält, akzeptiert oder ablehnt (Wenn ich behaupte, dass Adoleszenzler allnächtlich das, aus einer wissenschaftlich unerfassbaren Substanz bestehende, Schrättele quält und sie aufgrund dieser Heimsuchungen außerordentlich dünnhäutig werden, kann niemand das Gegenteil beweisen).
Immer wieder wird behauptet, dass die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen heute steigt (bei gesunkener Hemmschwelle). Dabei werden auch die Gewalt im Internet und Drogen, Reizüberflutung usw. ins Treffen geführt, wobei neueste Studien eher die Gefahr der Sucht nach Computerspielen als die der Zunahme von Gewalt orten. Wie sehen Sie das?
Ich bin sieben Tage die Woche im Atelier, wo weder gewalt- noch friedensbereite Jugendliche vorkommen – wie soll ich eine Sicht auf ihr Verhalten haben?
Wie haben Sie die Zeit der Adoleszenz erlebt? War das eher diese Zeit des Verlusts der Kindheit und der Erfahrungsintensität?
Die Frage, wie ich diese Zeit erlebt habe, was sie mir bedeutet, wie sie sich auswirkt, worin der Zauber bestand, was den Rausch verursachte und warum er abklang, wer ich damals war und was aus diesem Menschen geworden ist, versuche ich seit vier Romanen zu beantworten.
Sie arbeiten auch als Malerin und bildende Künstlerin. Würden Sie sagen, dass Malerei und Literatur einander in Ihrem Schaffen bedingen?
Ja, es bedingt einander, denke ich. Die Trennung ist allenfalls eine zeitliche. Ich kann nicht gleichzeitig malen und an der Schreibmaschine sein. Wenn eine Trennung besteht, dann ist es die: Dass es eben Phasen gibt, in denen das eine dominiert und Phasen, in denen das andere dominiert. Jeder weiß, dass es unterschiedliche Dinge sind. Ein Text ist nicht dasselbe wie eine Malerei. Es ist überflüssig, darüber zu sprechen, das sind andere Qualitäten, andere Dinge, aber beides ist Arbeit. Ich mache das, was ich gerade machen muss.
In „Coming of Karlo“ beobachten Lilith und der Satan Sin-teth-nun das Geschehen auf der Erde. Sind das Äquivalents zu Gwen und Karlo oder auch zwei Seelen in einer Brust, die verschiedenen Stimmen in einem selber?
Es ist sozusagen ein weiteres Liebespaar. Es bestehen Ähnlichkeiten der Beziehung zwischen Lilith und Sin-teth-nun und Karlo und Gwen. Da bestehen natürlich gewisse Ähnlichkeiten, aber es ist kein Spiegelbild. Es ist nochmal eine andere Ebene. Aber das Interessante ist ja, dass es eine andere Ebene ist, die aber nicht zu einer tieferen Erkenntnis in irgendeiner Form führt. Denn davon gehe ich ja nicht aus, dass das irgendwie möglich ist. Lilith und Sin-teth-nun beobachten die Angelegenheit und man meint, sie wissen mehr, aber natürlich wissen sie eigentlich auch nicht mehr und sind selber auch versponnen in ihre merkwürdige Beziehung, die sie unterhalten. Ich denke, worauf ich damit hinauswill – wenn ich überhaupt damit auf irgendetwas hinauswill –, ist vielleicht, dass wir immer in unserem menschlichen Denken gefangen bleiben. Wenn ich jetzt sage, ich betrachte das Ganze aus der Gott-Perspektive, dann muss ich trotzdem Kriterien zu dieser Gott-Perspektive entwerfen, und diese Kriterien sind wiederum menschlich. Und dadurch gibt es nie diese totale Einsicht in alles, die tatsächlich göttlich wäre, die ist ja nicht zu erreichen.
Die Kirche, der Glaube spielt ja auch eine Rolle in Ihrem Roman. Sie sind auf dem Land und katholisch aufgewachsen wie ich?
Ja, ich bin römisch-katholisch und auch auf dem Land aufgewachsen.
Ist Karlos exzessive Sportausübung im Buch eine Art der Selbstgeißelung, der Selbstbestrafung, des Fanatismus? Sie setzen das ja in Verbindung mit den Kreuzwegstationen.
Was Karlo, als er da in den Wald verschwindet, betreibt, ist ja tatsächlich Selbstabtötung. Und durchaus eben Selbstabtötung im Sinne des Heiligen Antonius und der Mönche und so weiter. Ja, Selbstgeißelung auch, aber eben eine moderne Form der Selbstgeißelung, die aber, denke ich, vielen Menschen nicht fremd ist. Es gibt ja genügend Leute, die sich auf ähnliche Weise quälen, und es geht um Selbstabtötung. Es geht um Betäubung. Gewisse Gefühle nicht mehr fühlen zu müssen und sie zu ersetzen durch ganz konkrete physische Schmerzen, von denen man weiß, wo sie herstammen. Wenn ich weiß, ich bin jetzt gerade 2000 Meter geschwommen und meine Arme sind vollkommen lahm, dann weiß ich – cause and effect –, was ich getan habe und woher die Schmerzen kommen, das ist alles sehr konkret. Und man erlangt dadurch schrittweise auch wieder die Kontrolle zurück.
Sie sind immer noch römisch-katholisch?
Ja, bin ich. Ich bin nicht ausgetreten aus der Kirche. Womit Karlo da ringt, was ja vor allem deutlich wird, ist, dass, wer so stark zweifelt, eigentlich auch einen ziemlich starken Glauben hat. Es gibt ja auch die Stelle in der Bibel, in der darum gebeten wird: Stärke meinen Zweifel. Wer nicht zweifelt, ist kein guter Katholik. In diesem Sinne ist Karlo ein sehr, sehr guter Katholik.
Die Liebe hat wenig Chancen in „Coming of Karlo“. Das, was Karlos Mutter für ihren Mann empfindet, ist keine. Ihre große Liebe war Karlos Vater. Gwen sagt zu Karlo, dass das, was er für sie empfindet, keine Liebe ist. Wie sehen Sie das? Ist das Liebe, gibt es die überhaupt?
Liebe ist zunächst mal ja kein Gefühl, sondern ein Begriff, unter den wir alle möglichen verschiedenen Konzepte und auch Gefühle fassen. Es gibt viele unterschiedliche Konzepte und Begriffe von Liebe. Und ich denke, der größte Irrtum, dem aber viele anheimfallen, ist, dass Liebe ein Gefühl ist. Das ist sie aber nicht. Sie ist ein Begriff, der alles Mögliche fassen soll. Und es ist leider nicht so ganz klar, meint man jetzt die romantische Liebe, meint man die passionierte Liebe? Was ist gemeint, wenn wir von Liebe sprechen, welches Konzept meinen wir? Meinen wir das Hollywood-Konzept, meinen wir die amerikanische Companionship-Ehe? Was ist gemeint? Es ist gar nicht so einfach zu klären. Wenn Sie mir die Frage stellen, ob es Liebe gibt, dann kann ich die so gar nicht beantworten. Wir müssten erst mal klären, von welcher Liebe wir sprechen, von welchem Konzept, wovon sprechen wir. Und dann könnte man überlegen, vielleicht nicht mal, gibt es das oder gibt es das nicht, denn dass es das Konzept gibt, wäre dann ja klar. Dass es Liebe als Begriff gibt, ist ja auch klar. Oder als Kommunikationscode. Dass es Liebe als Kommunikationsmedium gibt, ist ja klar. Aber man würde dann eher die Frage stellen: Funktioniert es? Funktionieren im Sinne von: Befriedigt es die Bedürfnisse, erfüllt es die Erwartungen, die Hoffnungen, die Wünsche, die die jeweilige Person in das gewählte Konzept setzt? Also zum Beispiel: Ich setze meine Hoffnung in die romantische Liebe. Und dann ist die Frage: Erfüllt dann diese romantische Liebe meine Anforderung. Ich habe dann Kriterien für die romantische Liebe, die soll sich so und so gestalten, und dann ist die Frage, ob sie das tut. Und darauf würde ich jetzt antworten, in der Regel erfüllt die Liebe die Kriterien, die wir aufstellen, nicht. Denn die zwischenmenschlichen Beziehungen sind zu komplex und die Erwartungen sind in der Regel viel zu hoch, und deshalb werden wir öfter enttäuscht als total befriedigt. Aber um auf „Karlo“ zurückzukommen, auf die Liebesbeziehungen im Roman: Das, was gezeigt wird, was sich zeigt, was eigentlich die zärtlichste Beziehung und vielleicht die ist, die tatsächlich von Dauer sein könnte und wo tatsächlich eine Form der Liebe ist – man könnte sagen, vielleicht platonisch, vielleicht homoerotisch, wie auch immer – das ist die zwischen Karlo und Achim. Denn die beiden lieben sich. Ich würde sagen, sie lieben sich, ich würde nicht sagen, sie sind befreundet. Während des Schreibens musste ich oft an „Hyperion“ denken und an die Liebe im alten Griechenland, wo es ja hieß, die gibt es nur zwischen Männern. Freunde, Waffenbrüder, Kameraden, die können eine wirkliche Liebe unterhalten. Und ich will nicht sagen, dass es hundertprozentig so ist, aber es gibt Bezüge. Und wenn ich Achim und Karlo miteinander erlebt habe, dann musste ich oft an Hölderlin denken und Alabanda und Hyperion und die Briefe, die Hyperion schreibt, an diese Liebe zwischen diesen Männern.
Das ist die einzige Beziehung, die überlebt.
Die beiden fliegen nach Chile, ja, trotz allem.
In alle Ihre Romane bricht immer wieder die Gewalt in das Leben der adoleszierenden Menschen ein. Mehr als zwei Drittel der Frauen in Österreich haben sexuelle Belästigung erlebt. Dreißig Prozent leider mehr als das. Ich kenne kaum eine Frau in meinem Bekanntenkreis, die das nicht, in irgendeiner Weise, auch erlebt hat. Mussten Sie das auch erfahren, in welcher Form auch immer?
Ich finde es schwierig, mich dazu zu äußern. Ich denke, alles, was ich dazu zu sagen habe, kann man nachlesen. Ich fände es merkwürdig, im Rahmen eines Interviews quasi eine scheinbar persönliche Information über eine Belästigung oder über Gewalt, die ich erfahren habe, preiszugeben. Denn das, was ich preiszugeben habe und meine Erfahrungen, die ich gemacht habe, die stecken in den Romanen. Und da soll man das nachlesen, und ich denke, damit ist alles gesagt. Ich schreibe ja meine Texte und ich male meine Bilder und ich lasse ja vollkommen die Hosen runter. Ich halte nichts zurück und ich schütze oder schone mich auch in keiner Form. Aber es ist so, dass das, was ich zu diesem Thema, das Sie gerade angesprochen haben – was ich zum Thema Gewalt gegen Frauen oder überhaupt Gewalt oder sexuelle Gewalt oder Belästigung oder was auch immer zu sagen habe –, das findet man in meinen Büchern. Wenn man „Karlo“ liest, dann weiß man, was ich dazu zu sagen habe. Und ich würde es gerne auch dabei belassen, denn das Problem ist ja, man versucht für gewisse Dinge, die geschehen, eine Sprache zu finden, und ich kann besser schreiben als sprechen. Ich habe immer das Gefühl, dass ich eigentlich stammle, wenn ich spreche. Ich finde nicht die Worte dafür. Aus dem Stegreif die richtigen Worte für solche Erfahrungen zu finden, ist wahnsinnig schwer. Deshalb finde ich das in so einer Interviewform – wenn ich da jetzt irgendetwas erzähle, dann hätte es nicht die Form, die ich mir dafür vorstelle und die ich haben möchte. Wenn ich mich zu Gewalt oder Vergewaltigung oder was auch immer äußere, dann will ich, dass die Äußerung ästhetisch ist. Das ist vielleicht meine Obsession, meine Abartigkeit, aber so ist es. Und wenn ich da eine Aussage treffe, dann soll sie auch einen ästhetischen Wert haben, und in den Büchern hat sie den. Und deshalb würde ich gerne dazu auffordern, dass Menschen, die sich mit dieser Gewalt und sonstigen Thematik, die sich damit auseinandersetzen, die das beschäftigt, die vielleicht selber Erfahrungen gemacht haben und so weiter, dass die einfach das Buch lesen.
Glauben Sie, haben es Jugendliche, junge Menschen heute schwerer? Sie wachsen in einer sehr explizit sexualisierten Umwelt auf. Wie schwierig ist es da, ein intaktes, gesundes Bild von sich selbst, von Sexualität, von Liebe aufzubauen, wenn man dem permanent ausgesetzt ist, auch durch die modernen Medien?
Ich bin überfragt. Ich frage es mich selber. Ich beobachte Dinge, ich sehe die siebzehn- oder achtzehnjährige Kylie Jenner auf Instagram, die aussieht wie – jetzt ist es mehr Edelnutte, aber am Anfang, zuweilen war es auch sehr Straßenstrich, mit übertrieben aufgespritzten Lippen und in Posen… . Inzwischen ist sie ja älter, aber damals war sie wirklich noch siebzehn, achtzehn, und ich habe das mit einer Mischung aus Verblüffung, Entsetzen und natürlich auch einem gewissen Reiz gesehen, bei mir vielleicht tatsächlich noch der Reiz des Verbotenen, weil ich noch etwas anders aufgewachsen bin. Und ja, ich frage mich auch, wie man damit umgeht, mit diesen Bildern, mit dieser extremen Sexualisierung. Das sind ja absurde Dinge. Ich habe eine vierzehnjährige Nichte, und ich habe dann erfahren, dass sie und ihre Freundinnen irgendwelche speziellen gymnastischen Übungen zur Stärkung der Pomuskulatur durchführen, weil sie alle so einen Wahnsinns-Hintern, Kardashian-Style-Hintern haben wollen. Und dann schau ich mir dieses Video an, auf dem diese gymnastischen Übungen vorgeführt werden von einer Dame auf einem pinkfarbenen Gymnastikball, mit pinkfarben geschminkten Lippen, in einem Outfit, das der Fantasie nicht mehr viel Raum lässt, und dazu läuft im Hintergrund ein Song, in dem der Sänger singt, „Baby girl, you are so fine, I´d like to hit you from behind“. Er singt „I´d like to hit you from behind“ während sie ihr Popöchen in die Höhe streckt und dazu noch einen Schmollmund macht. Es war so grotesk, es ist grotesk. Und gleichzeitig ist mir aber klar, dass ich wahrscheinlich die Einzige bin, die auf die Lyrics achtet. Und die das überhaupt hört, was da gerade gesungen wird. Und womöglich fällt den jungen Mädchen gar nicht auf, dass die gerade ihren Schmollmund macht und ihren Push-up BH zurechtrückt, während sie ihre Poübungen macht. Es ist absurd, es ist grotesk. Im besten Fall ist es grotesk und wirklich lustig. Aber wenn man vierzehn ist, und diese Komik, diese Tragikomik noch nicht sehen kann, dann ist es natürlich hochproblematisch. Das wurde vielleicht auch schon oft gesagt, aber ich denke, es findet wahrscheinlich eine gewisse Abstumpfung gegenüber diesen Reizen statt. Es ist dann einfach normal, so eine gewisse Softpornoästhetik ist normal, und vielleicht stumpft man dann soweit dagegen ab, dass es einen vielleicht gar nicht mehr so sehr betrifft. Die jungen Menschen sind ja auch nicht blöd, die wissen auch heutzutage, dass alles gefiltert, alles gephotoshopt ist, und vielleicht nehmen sie diese Bilder dann gar nicht mehr so ernst. Und vielleicht ist das ja auch das Beste, was passieren kann, dass man das eben nicht ernst nimmt. Die Frage ist aber natürlich: Was nimmt man dann ernst? Woran orientiert man sich? Wenn die Bilder, die existieren, wenn die Vorbilder, die ich habe, wenn ich von denen weiß, dass sie alle fake sind, dann muss natürlich ein Bedürfnis nach nicht gefakten Vorbildern entstehen. Und dann ist die Frage: Wo sind die und wer ist das dann? Da kann man den jungen Menschen dann nur wünschen, dass in „real life“ dann tatsächlich Menschen vorhanden sind, die als echte Vorbilder dienen können. Aber ob das immer so ist?
Glauben Sie, dass wir da früher geschützter waren?
Ich glaube, geschützt ist man auf dieser Welt nie und auch nie gewesen. Aber vielleicht war es so, dass die Vorbilder vielleicht tatsächlich fassbarer waren, greifbarere waren. Aber ich bin mir nicht sicher. Popstars und sonstige unantastbare und eigentlich auch unwirkliche Vorbilder gab es ja immer. Aber vielleicht nicht in diesem Ausmaß, in dem es heute ist. Es gab weniger Bilder. Es gibt heute mehr Bilder. Und es ist ja eine Folter. Ich denke mir manchmal, dass es ja eine Folter der Bilder ist. Früher hatte man dann vielleicht eine Handvoll Popstars, die man sehen konnte, wenn man den Fernseher eingeschalten hat. Heute ist es eine Omnipräsenz der glatten Oberflächen, eine Omnipräsenz der scheinbar perfekten Leben und scheinbar perfekten Menschen, die dann aber ja gleichzeitig behaupten, dass sie nicht perfekt sind und ein Foto von sich machen ohne Make-up und ohne Filter, und das ist dann schon so unglaublich mutig. Diese mutige Frau, sie zeigt sich ohne Filter, wow. Es ist schon pervers. Ich bin selber verwirrt. Mir geht es, glaube ich, genauso wie den Vierzehnjährigen, ich bin auch verwirrt.
Was halten Sie denn von der #MeToo Bewegung?
Vor allem: Ich spüre diese Bewegung nicht. Mich hat da nichts berührt. Ich habe keinen Berührungspunkt. Eine Bewegung, denkt man ja, ist eine Welle, und die Welle müsste mich dann auch erfassen. Aber offenbar ist die Welle an ein Ufer geklatscht, an dem ich gerade nicht sonnenbade. Es berührt mein Leben, meinen Alltag und meine Situation einfach nicht momentan. Aber damit will ich es nicht aburteilen. Meine persönliche Lebenswelt betrifft es nicht.
Gewalt bei Männern soll auch daher kommen, dass Männer sehr kränkbar sind, dass dahinter eine große Unsicherheit steckt. Würden Sie dem zustimmen, dass der Aggression eine Kränkung vorangeht?
Oft, ja. Auf jeden Fall geht Aggression oft eine Kränkung voran. Aber wie gesagt, da wäre ich mir wieder nicht sicher, ob da „die Männer“ in Anführungszeichen schneller gekränkt sind als andere. Aber dass man zunächst gekränkt wird und dann aggressiv wird, das kommt oft vor, denke ich. Aber man darf auch nicht verschweigen und ich schließe nicht aus, dass es auch Menschen gibt, die sich mit „den Männern“ oder „den Frauen“ identifizieren oder versuchen, sich mit diesem Plural und mit diesen Aussagen über diese Gruppe zu identifizieren. Das gibt es bestimmt. Bestimmt gibt es Menschen, die sich zu „den Männern“ zählen und dann auch denken, sich dementsprechend verhalten zu müssen. Wenn man jetzt ein Mann ist, der sich zu „den Männern“ zählt und denkt, er muss sich so verhalten wie „die Männer“ sich verhalten, dann ist momentan wahrscheinlich – es war nie einfach, aber Sie haben mich ja nach der #MeToo-Bewegung gefragt –, jetzt durchaus auch eine Form von Verunsicherung da, wie man sich verhalten soll. Aber diese Unsicherheit entsteht eben auch aus dem Plural. „Die Männer“, „die Frauen“ – wie sollen sie sich verhalten. Und das ist eben eine Frage, die im Plural vollkommen falsch gestellt ist. Es geht eben nicht um den Plural, sondern es geht um den einzelnen Mann und die einzelne Frau, um zwei Menschen in einem Raum und wie die beiden sich zueinander verhalten. Darum geht es ja. Und diese Frage könnte man auch einigermaßen adäquat beantworten. Aber wenn man in diesem Plural denkt – den kann man ja auf den Einzelfall nicht anwenden. Und ich denke, dadurch entsteht noch mehr Unsicherheit. Frau X und Herr Y sind in einem Raum und versuchen aber nicht, sich wie Frau X und Herr Y zu verhalten, sondern wie „die Männer“ und die Frauen“ –, dann sind natürlich beide verunsichert. Und dann wird es schwierig.
Viele würden wahrscheinlich fragen, wie Sie es schaffen, so treffend aus der männlichen Perspektive aus zu schreiben. Diesen Unterschied „männlich-weiblich“ machen Sie so aber nicht? Mit Stereotypen können Sie wenig anfangen?
Die Sache ist die: Ich weiß nicht, was es bedeuten soll. Ich kenne Unterschiede, aber dieses „Ich fühle mich weiblich“ – das ist für mich ein unsinniger Satz. Denn was sind die Kriterien für „weiblich“? Ich denke, ich kann diesen Satz nicht sagen, ohne zu wissen, was „Ich fühle mich männlich“ bedeutet. Ich fühle mich Kränzlerisch, könnte ich sagen. Ich fühle den Körper, den ich fühle, und ich erlebe mich als das, was ich bin. Und ich gehe davon aus, dass ich zwei X-Chromosomen besitze und eine Frau bin. Aber es ist ganz schwierig, dieses: „männlich-weiblich“. Wieder geht es um Kriterien. Wieder müsste man einen Katalog erstellen, was „weiblich“ bedeutet. Und dann hätte man auf der einen Seite die biologische Seite, die Chromosomen, die Hormone und so weiter. Auf der anderen Seite hätte man gesellschaftliche Kriterien oder Mode oder was immer. Und dann könnte man sehen, was ist jetzt gemeint mit „weiblich“ und erlebe ich das so oder nicht. Aber einfach so als Adjektiv ohne klare Kriterien ist es für mich unsinnig. Ich kann damit nichts anfangen. Genauso wie ich mit „die Frauen“ und „die Männer“ nichts anfangen kann. Denn ich habe noch nie „die Männer“ getroffen oder „die Frauen“. Wer sind die?
Ist das auch der Grund, weshalb Sie genderkorrekte Sprache, genderkorrektes Schreiben, Lesen ablehnen?
Das finde ich schrecklich. Es gibt nichts Schrecklicheres als an jedes Wort diese „-rinnen“ anzuhängen. Überall „-rinnen“: Regenrinnen, Lehrerinnen, überall diese „-rinnen“. Ich finde diese Faulheit sowieso schwierig. Ich finde es wunderbar, wenn es zum Beispiel ein männliches und ein weibliches Tier gibt und man dann sagt: Eine Sau und ein Eber. Nicht Schwein und Schweinin. Oder es gibt eine Ente und einen Erpel. Das finde ich super. Aber an jedes Wort zwanghaft ein „-innen“ oder ein „-in“ anzuhängen, finde ich erst mal faul. Wenn, dann könnte man doch einen weiblichen Begriff erfinden. Wenn man das unbedingt möchte, könnte man doch ein paar schicke Neologismen erfinden, damit man so etwas hat wie Sau und Eber. Aber an jeden Begriff zwanghaft ein „-in“ anzuhängen, finde ich sprachlich unschön und deshalb mache ich es auch nicht. Und deshalb sage ich ja zum Beispiel, wenn ich von meinem Beruf spreche: Ich bin Maler. Weil mir das „Malerin“ einfach nicht gefällt. Und überhaupt ist mir persönlich die Endung „-er“, die ja eigentlich eine männliche Endung ist, viel näher als die Endung „-in“, denn ich heiße ja nicht Döblin, sondern Kränzler. Und Kränzler ist ein „-er“, und ich verbinde damit aber mich.
Meine Tochter muss in der Schule alles gendern, sogar Anglizismen.
Das ist eine Verhunzung der Sprache, und das ist faul dazu. Wie gesagt, wenn das unbedingt sein muss, dann muss man eben ein neues Nomen erfinden. Das kann man ja machen, die Sprache erlaubt das ja.
Sie flechten in „Coming of Karlo“ auch immer wieder Ihren Namen ein, Kränzler. Ist das ein bewusstes Spiel, dass Sie da Bezüge herstellen?
Es ist eher eine Nicht-Vergeheimnisung. Man könnte natürlich andere Namen dafür hernehmen, aber warum? Im Endeffekt ist es eben Kränzler. Ich könnte auch einen anderen Namen einsetzen, und es wäre trotzdem klar, dass es Kränzler ist.
Soll, darf, muss gute Kunst, Literatur verstören? Suchen Sie das Risiko in der Kunst? Darf man auch scheitern?
„Verstörung“ ist der Titel eines wunderbaren Buches von Thomas Bernhard, den ich sehr liebe, und dadurch für mich positiv konnotiert, also: Ja. Ich sage auf jeden Fall ja zur Verstörung. Ja, definitiv. Einen Text, den ich einfach abnicke und an dessen Ende ich sage, ja, bin ich vollkommen d’accord und habe ich alles verstanden und alles prima, den muss ich nicht lesen.
Suchen Sie das Risiko auch bewusst oder ist das immanent?
Ich suche es nicht, es ist immanent.
Thomas Bernhard haben Sie bereits genannt. Welche österreichischen Künstler, Autoren schätzen Sie noch?
Es ist tatsächlich so, dass ich mit Österreich nur Positives verbinde. Das fängt damit an, dass ich in meiner Kindheit alle Bücher Christine Nöstlingers verschlungen habe, und Christine Nöstlinger wirklich geliebt habe als junges Mädchen, auch alles mehrfach gelesen habe. Ich glaube, das hat mich mehr geprägt als vieles andere, was ich später gelesen habe. Und danach hat sich das fortgesetzt mit Robert Musil, Thomas Bernhard, Marlen Haushofers „Die Wand“ fand ich ganz großartig, Ingeborg Bachmann – wobei ich bei Bachmann immer eher an Max Frisch denke, der ja kein Österreicher ist – Stefan Zweig, Canetti, Karl Kraus, Peter Handke. Mir fallen extrem viele ein, die ich liebe und großartig finde – und dazu Wien als Stadt! Allein, dass es den Prater, allein, dass es eine Dauerkirmes gibt, finde ich absolut großartig. Ich bin ein großer Kirmes-Freund, kommt ja auch in „Karlo“ vor. Achterbahn, alles. Was ich am meisten liebe, sind diese blinkenden Lichter und diese schrecklichen, aber eigentlich tollen – man weiß nicht, sind sie schrecklich oder sind sie schrecklich gut –, diese geairbrushten Bilder auf diesen Buden, diese merkwürdigen Malereien, auf denen meistens die Menschen vollkommen merkwürdige Proportionen aufweisen. Und die bildenden Künstler muss ich noch hinzufügen: Erwin Wurm finde ich toll. Und der Direktor unserer Kunstakademie in Karlsruhe, Ernst Caramelle, ist ja auch Österreicher und ein großartiger Künstler, der mir übrigens letztens ein wunderbares Buch empfohlen hat. Der liest auch tolle Sachen.
Sie haben an der Kunstakademie in Karlsruhe und Freiburg studiert. Hatten Sie noch eine klassische Ausbildung? Wie schwer ist es, von der Kunst leben zu können? Gibt es genug Förderungen?
Ich kann nicht von meiner Kunst leben bislang, weder von der Malerei noch von der Schreiberei. Um kurz auf die Ausbildung einzugehen: Klassisch in dem Sinne war sie nicht. Die Kunstakademie Karlsruhe ist sehr wenig verschult. Ich habe Freie Kunst studiert, Malerei und Grafik. Die Kunstakademie Karlsruhe ist eine Akademie, die wirklich so ausgerichtet ist, dass man von vornherein als Künstler behandelt wird und dadurch sehr selbständig arbeiten muss. Man hat wenig Pflichtfächer oder irgendwelche Kurse, die man besuchen muss. Es ist ein sehr freies, aber dadurch auch ziemlich hartes Studium, weil man sich selber kümmern muss. Aber ich fand das sehr gut. Ich habe keinen Vergleich, ich habe nur dort studiert, aber für mich war es richtig. Und was das Leben von der Kunst betrifft: Ich kann nicht davon leben. Suhrkamp wollte mir seinerzeit natürlich einen Vorschuss bezahlen, und ich hatte Preise und Stipendien. Und ich habe das komplette Vorschussgeld und alles, was mir an Preisen und Stipendien glücklicherweise zugefallen ist in diesem Jahr, in die Riesenschreibmaschine investiert, eine Idee, die ich seit meiner Studienzeit verfolge. Die Reinzeichnungen und die Konstruktion, die ich zusammen mit zwei Ingenieuren auf die Beine gestellt habe, waren sehr teuer. Es hat ungefähr 20.000 Euro gekostet. Und ich habe alles, was ich an Stipendien und Preisgeldern und sonst irgendwie zusammenraffen konnte in diesem Jahr, das sehr gut lief, in die Riesenschreibmaschine gepumpt, weil ich dachte, das muss ich einfach riskieren. Das hat sich insofern auch gelohnt, als dass die Maschine nun, was die Konstruktion angeht, soweit steht, dass ich sie bauen könnte. Sie könnte morgen in die Fertigung gehen, wenn ich die entsprechenden Sponsoren hätte. Und das berührt Ihre Frage. Das Problem ist, dass das, was es an Förderungen gibt, eben Stipendien sind. Da bekommt man für sechs Monate oder zwölf Monate vielleicht maximal tausend Euro im Monat, und soll dafür auch noch sehr dankbar sein, aber wenn man überlegt, wieviel tausend Euro sind – wenn man von tausend Euro eine Wohnung, ein Atelier und irgendwie Essen, Trinken, Kleidung, Leben bezahlen muss – das reicht nicht aus. Und Preisgelder gehen in der Regel so bis 5000 Euro oder 10.000. Das reicht aber für ein großes Kunstprojekt wie zum Beispiel die Riesenschreibmaschine, für die ich mindestens 70.000 Euro bräuchte, nicht aus. Und das ist eine Farce. Denn für 70.000 Euro kann ich mir keine Malerei von Neo Rauch oder auch keine Skulptur von Erwin Wurm oder auch schon gar nicht eine Malerei von Gerhard Richter leisten. Das Geld ist ja da. Es gibt ja Geld und viel Geld. Aber für Kunstprojekte – wenn jemand sagt, ich habe hier ein Projekt und ich brauche dafür eine Förderung –, da wird es plötzlich sehr schwierig. Und wie gesagt, mit 5000 Euro kommt man da nicht weit, wenn man wirklich ein großes Kunstprojekt wie jetzt zum Beispiel die Riesenschreibmaschine bauen will, die von höchstem kulturellen und künstlerischen und überhaupt philosophischen Wert wäre, wenn sie gebaut werden würde. Aber dafür Sponsoren zu finden, ist unheimlich schwierig. Was schade ist, denn für mich drängt sich die Frage nach der Riesenschreibmaschine jetzt auf, weil ich jetzt in der Krise bin, die klassische postnatale, post-„Karlo“-Krise, und ich mich jetzt natürlich frage, wie meine Arbeit nun weitergehen soll. In welcher Form ich jetzt weiterarbeiten kann auch mit Sprache. Und der nächste konsequente Schritt, die nächstradikalere Form von Sprache für mich wäre definitiv die Arbeit auf und mit der Riesenschreibmaschine. Dafür bräuchte ich aber zunächst einige Investoren, und die zu finden, ist schwierig. Obwohl es ein Projekt ist, bei dem spontan immer Begeisterung herrscht, wenn ich jemandem erzähle, ich will eine Riesenschreibmaschine bauen, die mächtiges Format hat, auf der man mit Händen und Füßen schreibt, um herauszufinden, was für eine Sprache damit entsteht. Denn dass die Sprache, die man mit zehn Fingern tippt und die Sprache, die man von Hand schreibt, sich unterscheidet, ist ja allgemein bekannt. Jeder Schriftsteller, jeder weiß, dass man von Hand anders schreibt als maschinell. Und der nächste Schritt wäre zu sehen, was passiert, wenn der ganze Körper schreibt. Es ist ein Projekt, das in unterschiedlichster Form für Wissenschaften, Künstler wie Philosophen, interessant ist. In der Regel ist es so, dass die Leute das, wenn ich davon spreche, auch spontan begreifen. Aber den Schritt, dann den Beutel zu öffnen – so weit kommt es dann am Ende doch nicht. Das ist vielleicht das Einzige, was diese Genderidee berührt: Es sollte dringend mal eine verrückte, große Maschine von einer Frau gebaut werden. Denn in der Regel werden verrückte, große Maschinen nach wie vor von Männern gebaut.
Und das ist im Wortsinn eine Schreibmaschine.
Ja, es ist eine riesengroße begehbare Schreibmaschine. Es wird eine begehbare Tastatur, die aus Fußtasten und Handtasten besteht. Die Handtasten werden etwa auf Brusthöhe angebracht sein und die Fußtasten unten. Ansonsten ist es das Prinzip einer mechanischen Schreibmaschine, und es entstehen Texte. Es wird mit dem ganzen Körper geschrieben, mit allen vier Gliedmaßen. Der Text, der entsteht, hat ein zehnfaches Din A4-Format. Und diese Texte würden dann, so wie ich es in meinen sogenannten Zeichnungen mache, geschwärzt werden oder verändert werden. Es finden dann zeichnerische, malerische Eingriffe statt, nachdem der Text getippt ist. Und diese großen Blätter, diese riesigen Manuskriptseiten, –zehnfaches Din A4-Format –, würden dann in der Art von Malereien an der Wand präsentiert werden, und man könnte denen begegnen wie man der Malerei begegnet und wäre ein Betrachter und Leser zugleich. Die ganzkörperliche Erfahrung, die ich beim Schreiben mache, bekommt der Betrachter dann auch geliefert, indem er der Schrift, dem Text wie einer Malerei begegnen kann, weil es dieses Körperformat hat und dadurch eine andere Präsenz. Das ist die Idee. Aber wie gesagt: schwierig. Ich wäre bereit. Wer weiß, vielleicht gibt es ja in Österreich irgendwelche Firmen oder Privatsammler, die sich dafür interessieren. Vielleicht gibt es da eine Option. Die Deutschen sind ja manchmal auch etwas überkritisch und übervorsichtig.
Sie schreiben auch Ihre Bücher auf der Schreibmaschine. Brauchen Sie dieses Haptische? Ist es ein anderes Schreiben?
Ja, definitiv. Ich muss meine Manuskriptseiten anfassen und beschneiden und daran herumkritzeln. Das muss alles greifbar und da sein.
Zurück zu Ihrer Malerei: Sie arbeiten mit Lack und Tusche auf Papier?
Genau. Immer auf Papier. Seit über zehn Jahren nur noch auf Papier. Ich denke auch nicht, dass sich das nochmals ändern wird. Ich fühle mich tatsächlich auch den Plakatmalern näher als den Gemäldemalern. Wahrscheinlich auch, weil das Plakat in der Regel in Verbindung mit Schrift steht, und ich mich mehr als eine Art Plakatmaler betrachte. Und mir gefällt auch, dass es auf Papier ist, es geht kaputt, man kann es zerfetzen. Ich hatte auch eine Ausstellung, die ich tatsächlich „Fetzen“ genannt habe, eine Einzelausstellung. Es sind Fetzen an der Wand so wie auch Fetzen an der Litfaßsäule. Es ist kein hochheiliges Tafelbild, das irgendwo hängt und jetzt irgendeine Form von non plus ultra repräsentiert. Es ist schmutzig, es ist löchrig, es hat Risse, es ist angreifbar, es ist auch eine Angriffsfläche. Es ist eine Angriffsfläche, dieses Stück Papier: Einmal für mich, in dem Moment, wo ich damit arbeite und damit auch nicht vorsichtig umgehe. Ich nagle die Sachen auch an die Wand, alle meine Arbeiten sind beschädigt. Alle meine Arbeiten weisen Schäden auf. Und dann, wenn ich es aber irgendwo zeige, bin natürlich ich die Angriffsfläche. Dann repräsentiert das Malerei-Plakat mich, und der Blick des Betrachters greift dann meinen Stellvertreter an, wenn er darauf trifft. Ich liebe Papier. Ich schreibe ja auch auf Papier. Ich finde es auch großartig, dass es leicht ist, dass ich alles allein transportieren kann und tragen kann, dass ich da keine Hilfe brauche. Und eben auch, dass es verletzlich ist und altert. Ich finde diese Konservierung von Kunstwerken sowieso schwierig. Wir selbst altern, wir selbst gehen kaputt, werden osteoporös und so weiter, und so ist das eben mit den Arbeiten auch. Die leiden, die erleiden Dinge, die gehen kaputt. Bei mir werden die Malereien nicht bewusst schlecht, aber auch nicht bewusst vorsichtig behandelt. Das zeigt sich dann durch Risse, Löcher, Knicke, was auch immer. In dem Moment, in dem dann die Malerei ein Begehren beim Betrachter auslöst und er sagt, ich möchte die haben und bei mir zuhause haben, dann darf er die natürlich auch schützen. Da habe ich auch nichts dagegen. Das finde ich auch eine schöne Vorstellung. Bei mir haben die Malereien ein recht hartes Leben und die Vorstellung, dass dann irgendwann jemand kommt, der sie dann verhätschelt und einen Rahmen drumherum macht und sie ganz pfleglich behandelt, die ist sehr schön, und irgendwo wünsche ich mir das auch für die Bilder. Aber ich kann den Malereien das nicht bieten. Bei mir haben sie eben das Leben zu leben, das ich lebe und das es hier so gibt.
Sie beschäftigten sich auch mit Comics?
Ja, ich habe früher viel mit Comicvorlagen gearbeitet. Das hat mich jahrelang beschäftigt, momentan nicht mehr so. Ich finde Comic großartig, weil es die Möglichkeit bietet, Zeichnung und Sound zu verknüpfen, denn das Problem an der Malerei ist ja, dass sie stumm ist. Aber das Comic hat eben die Möglichkeit, Geräusch und Sound über Sprache ins Bild zu integrieren, und das finde ich ziemlich großartig.
Ihre Sprache ist aber nicht nur sehr bildhaft, sondern auch äußerst musikalisch. Sind Sie sehr musisch aufgewachsen? Und sind Sie in Ihrem Berufswunsch von Ihren Eltern unterstützt worden?
Ja, ich wurde unterstützt. Ja, ich hatte auch Musikunterricht und habe Musikinstrumente gespielt. Es ist es nach wie vor so, dass ich nur überlebe, weil meine Familie – nicht nur meine Eltern, früher waren das auch meine Großmutter und auch meine Schwester –, mich unterstützen, weil sie offensichtlich, mich erstaunt es selber, wohl nach wie vor denken, dass es eine Form von Wert hat, was ich mache, und deshalb bereit sind, mich zu unterstützen, damit ich das weiter machen kann. Und wenn ich nicht dieses System hätte aus teils Familienmitgliedern und meinem sogenannten Lebensmenschen wie Thomas Bernhard sagen müsste, der mich sehr lange begleitet, die mich in meiner Arbeit unterstützen und auch schon immer unterstützt haben, würde es nicht funktionieren und ich könnte es nicht machen. Ich bin sieben Tage die Woche im Atelier und habe keinen sogenannten Job, sondern ich habe nur meine Arbeit. Ich gehe nicht kellnern oder mache sonst irgendwas, sondern ich konzentriere mich voll auf meine Arbeit und ich hätte auch gar keine Kapazitäten für irgendwelche Jobs. Das würde gar nicht funktionieren. Man hat mir nie verboten, das zu machen und man hat das dann doch letzten Endes immer eher unterstützt als unterbunden. Natürlich ist es dann in der Praxis alles doch ziemlich problematisch, aber die Grundtendenz, würde ich jetzt auch rückblickend sagen, ist eher ein Unterstützen als ein Unterbinden gewesen. Ich bin ja nicht die Einzige, der es so geht, weder jetzt noch in der Vergangenheit.
Lisa Kränzler wurde 1983 in Ravensburg, Süddeutschland, geboren. Sie studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und Freiburg und war Meisterschülerin bei Tatjana Doll. Ihr Prosadebüt „Export A“ erschien 2012. Für ihren Roman „Nachhinein“ erhielt sie den 3sat-Preis. 2014 folgte „Lichtfang“. Ihre begehbare Riesenschreibmaschine ist ein Kunstprojekt, das Körper und Schreiben thematisiert. Texte, Skizzen und Zeichnungen dazu erschienen unter dem Titel „Manifest“.
Coming of Karlo
Verbrecher, 624 S.
Nachhinein
Verbrecher, 272 S.