„Die Wirklichkeit ist ein großer Erzähler, sie erzählt überraschender und gewaltsamer als alle Dichter“, sagt Alexander Kluge. Der Intellektuelle feiert am 14. Februar seinen 90. Geburtstag und ist nach wie vor hochproduktiv. Das ungekürzte Interview mit Buchkultur-Chefredakteur Jorghi Poll über seine vier neuen Bücher, über zeitgeschichtliche Cäsuren, über den Kommentar jenseits der Meinung, Erinnerungen als Gegenwärtiges, und wie der umtriebige Autor und Filmemacher seinen 90. Geburtstag verbringt. Fotos: Jürgen Bauer/SV.
Buchkultur: Sie haben im Jahr 2020 vier Bücher herausgebracht, 2021 eines, den Napoleon-Kommentar, und 2022 erscheinen meines Wissens drei Bücher. Sie müssen ja einen recht überbordenden Arbeitsalltag haben.
Alexander Kluge: Ich glaube, dass das eine Täuschung ist. Ich mach die Bücher ja nicht allein. Wenn ich den Napoleon-Kommentar schreibe, arbeite ich z.B. mit Thomas Thiede zusammen, der die Porträts gemacht hat, bei denen die eine Gesichtshälfte von Kleist, die andere von Napoleon stammt. Georg Baselitz hat für dasselbe Buch Bilder gemacht, die mich sehr bewegt haben. Er geht bei seinen Napoleon-Aquarellen zurück auf Jacques-Louis David, den Revolutionsmaler, der im Wohlfahrtsausschuss saß und der ein recht strammer Sansculotte war. Er hat eine Stunde vor deren Hinrichtung die Königin Marie-Antoinette gezeichnet. Sie sitzt stolz, aber hinfällig, also fast schon wie ein Skelett, auf ihrem Stühlchen. Nach diesem Bild malt Baselitz für mein Buch Napoleon. Womit er sagt: Dieser Herrscher ist von Anfang an kein Heroe, er sitzt da, so elend wie die Königin von Frankreich, so elend, wie er später in St. Helena ankommt. Bloß mit Worten könnte ich so etwas gar nicht ausdrücken. Das gelingt nur in der Kooperation. An der Nahtstelle zwischen Text und Bild, der Reibungsfläche. So etwas stachelt an, und dann schreibt man auch gern.
Am Anfang im Buch der Kommentare steht ein sehr interessanter Satz: „Zugleich schlägt der Autor, 1932 geboren, den Bogen über die Knotenpunkte des ‚Langen Jahrhunderts‘, das vor seiner Geburt begann und 2022 nicht enden wird.“ Bei den meisten Historiker/innen besteht einigermaßen Konsens, dass das gesellschaftspolitische 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg begann, mit dem Zerfall der alten Ordnung, dem Demokratisierungsschub, dem künstlerischen Output der beginnenden 1920er-Jahre. Manche würden sagen, dass das Jahrhundert mit dem Zerfall der Sowjetunion zu Ende gegangen ist, andere mit den Terrorattacken im September 2001 und/oder als Folge des Einzugs der Digitalisierung in den Alltag. Sie sehen das offenbar anders. Geht es Ihnen hier um das Zeitalter des Kapitalismus, den Kampf der Demokratie gegen den Faschismus oder etwas anderes?
Also, die kalendarische Idee, nämlich zu sagen, am ersten Januar 1900 beginnt ein neues Jahrhundert und es endet zu Silvester 2000, die ist ziemlich abwegig. Es gibt kurze Jahrhunderte. Das Napoleonische, von dem wir eben sprachen, reicht von 1789, also von der Französischen Revolution bis 1815, und dann beginnt schon ein neues Jahrhundert. Das Jahrhundert, in dem ich selbst lebe, hat eine eigenartige Gestalt. Für mich ist die Entgleisung der Zivilisation Europas der Anfang, der sich mit dem 1. August 1914 verbindet. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch gar nicht gelebt. Aber meine Eltern haben in einem besonderen Ton davon gesprochen. Und Historiker wie Ian Kershaw und Christopher Clark deuten an, dass dieser bittere Weltkrieg 1918 nur von einem Waffenstillstand unterbrochen wurde und erst im Jahr 1945 zu seinem Ende kam, ein zähflüssiger, zeitweise an der Oberfläche nicht sichtbarer Einunddreißigjähriger Krieg. 1912 ist Wien die geistige Metropole Europas. Sie beherbergt Sigmund Freud ebenso wie die Wiener Schule und verfügt zusätzlich zu ihrer Spitzenintelligenz über eine der lebhaftesten plebejischen Öffentlichkeiten. Von diesem Glanz berichten danach nur noch die Straßen, wie die Ringstraßen. Das frühe 20. Jahrhundert hat diese Metropole und die Habsburger Monarchie gestürzt. Wenn das am Beginn unserer neuen Zeit steht, dann lässt sich immer noch nicht sagen, wann dieses 20. Jahrhundert tatsächlich endet. Walter Benjamin würde behaupten, es endet erst, wenn wir die Abgründe, den Erfahrungsgehalt dieses Jahrhunderts, bearbeitet haben. Wir Poeten sind als Chronisten solcher Monstren, die wir Jahrhunderte nennen, tätig. Wir sammeln, wie die Brüder Grimm Märchen sammelten, die „Erzählung unserer Zeit“: die Erfahrungsmassen, die Dingen, die Institutionen, die Lebensläufe. Für mich ist Jakob Grimm mit seinem Wörterbuch ebenso Literatur wie die Romane. Das heißt, ich gehe davon aus, dass wir in der Literatur vor allem aufsammeln, „legere“ heißt „sammeln“ auf Latein, und dann erst „lesen“.
Welche Markierungen oder Ereignisse machen dann eine Cäsur aus?
Sie haben als Einschnitt das unvergessliche Ereignis vom 11. September 2001 genannt. Das war gewiss einschneidend. Ich habe an jenem Tag an einem Manuskript gearbeitet. Meine Tochter ruft mich an, „geh doch schnell mal zum Fernseher“. Was ich dort sah, hielt ich zunächst für ein Fake. Es wurde für mich erst wirklich, als das zweite Flugzeug in den anderen Hochhausturm hineinrammt. Die Wirklichkeit ist ein großer Erzähler. Sie erzählt überraschender und gewaltsamer als alle Dichter.
Wir sprachen vorhin von Kleist und Napoleon. Wenn man das Gesicht von Kleist und das des jungen Napoleon von 1799 in ein Bild montiert, linke Gesichtshälfte Kleist, rechte Gesichtshälfte Napoleon – und der Künstler Thomas Thiede, mit dem ich einen engen Dialog führe, hat eine Serie solcher Doppelporträts für mich hergestellt –, dann sieht das so aus wie ein Kindergesicht. Mit dem Jahr 1799 beginnt für die Menschen damals „gefühlt“ das neue Jahrhundert. Kalendarisch beginnt es erst mit dem Wechsel zum Jahr 1801. Aber die Menschen sind ungeduldig. Sie wollen ein neues Jahrhundert. Heine datiert sein Geburtsdatum um auf Silvester 1799. Er versetzt sein Geburtsdatum um drei Jahre, aus Lust auf ein neues Jahrhundert. Es ist die Lust, neu anzufangen. Davon habe ich beim Jahreswechsel von 2000 auf 2001 wenig beobachtet. Mühselig schauten wir, wie sich uns von Australien her die Silvesterfeuerwerke nähern.
Wir leben in unseren Lebensläufen. Ein solcher Lebenslauf ist, gemessen am Kosmos, dessen Einwohner wir ebenfalls sind, ein Schneckenhaus. Aber wie viele uralte Elemente, wie viel Zeit stecken in den Zellen unseres Körpers? Was wir in unseren Körpern, den Häusern unserer Erfahrung, in der Welt herumtragen, ist sämtlich älter als das Jahrhundert oder unser Lebenslauf. Das Poetische ist für mich identisch mit der Beschreibung aller dieser Zeiten, der kurzen und der langen. Es gibt Stimmen in mir, die erzählen (ich schreibe es nur auf). Und es gibt den „Erzähler Wirklichkeit“. Vor ihm ziehe ich den Hut. Ich fürchte diese Wirklichkeit und ich respektiere sie. Man kann das jetzt in Worten nicht so richtig fassen, ich merke, dass ich stottere. Ich bin 1932 geboren, aber die zehn Jahre vor meiner Geburt, das ist die Zeit, von der ich meine Eltern reden höre. Das, was sie an Erfahrung beschäftigt, was ich im Ohr habe (ich sitze unter dem Tisch und höre zu – ich bin ja als Kind nicht zugelassen zu den Gesprächen der Erwachsenen), gehört zu meinem Erfahrungsschatz. So reicht die Tonaufnahme meiner Ohren und die geistige Kamera etwa zehn Jahre nach rückwärts, gerechnet vom Zeitpunkt der Geburt. Ich glaube, dass das bei allen Menschen so ist, bei den Poeten wird es professionalisiert. Meine Mutter ist 1908 geboren, mein Vater 1892. Deren Erfahrungen und peak-points ihrer Interessen gehören zu meinem Leben. Das, wovon ich gerne erzähle, ist also eine längere Chronik als die, die ich selbst erlebe. Und das bezieht sich auch auf die Zukunft. Ich behaupte, dass ein guter Poet bis zu zehn Jahre in die Zukunft schauen kann.
Georg Baselitz hat vor kurzer Zeit für die Bayerische Staatsoper die Bühnenbilder für Wagners „Parsifal“ gemacht. Riesige Skulpturen, eine davon steht zu seinen Ehren vor dem Centre Pompidou in Paris (im Zuge der Ausstellung „Baselitz – The Retrospective. Centre Georges-Pompidou, Paris“, Anm.). Bei dieser Gelegenheit habe ich, weil mich die lebhafte Fantasie von Georg Baselitz in Bewegung setzt, für das Opernhausfoyer acht Monitore mit Minutenopern hingestellt. In der Opernpause kann man ja unbefangen Wagner kommentieren und Höhlen zu ihm graben, ohne sein Werk zu beschädigen. Baselitz ist ein mutiger und sehr hitziger Geist. Er hat sich darüber empört, dass die Mutter von Parsifal – sie ist der Motor der ganzen Geschichte –, die ihn aussendet, er soll lieber zum Narren werden als ein Ritter sein wie sein für Liebesbeziehungen untauglicher Vater: Dass diese Heldin Herzeloyde bei Wagner gar nicht vorkommt, hat Baselitz wie gesagt empört. Wir haben also beide beschlossen, ein Stück von der Privatreligion in Wagners Parsifal abzurüsten und dafür diese junge energische Frau und ihren „Mutterwitz“ in Form von Filmen und in der Opernpause präsent zu machen. Und aus diesem Anlass habe ich die Verserzählung von Wolfram von Eschenbach aus dem 12. Jahrhundert, die den Parsifal begründet, neu gelesen. Es gibt dort eine Szene, die mich erstaunt hat. Sie handelt von unserem Verhältnis zur Zukunft. Da trifft Parsifal auf seinen Halbbruder Feirefiz, einen Mohammedaner, im Orient gezeugt vom selben Vater, und der ist ihm militärisch überlegen. Das Schwert Parsifals liegt schon zerschmettert am Boden, und Parsifal glaubt, in der nächsten Minute ist er tot. Aber da kommen seine bis dahin noch nicht gezeugten beiden Söhne, Lohengrin und Kardeiz – den Namen Kardeiz kennt man nicht so –, die kommen aus dem Jenseits, noch nicht geboren, sie wollen aber geboren werden, und sie geben dem Feirefiz ein, es sei nicht edelmännisch, einen Waffenlosen zu töten. Die Brüder setzen sich also an den Wegrand, und Parsifal ist gerettet. Das sind zwei Zeilen aus dem 12. Jahrhundert. Ich habe sie nicht gedichtet, ich habe sie nur eingesammelt. Aber sie zeigen, dass die Poetik ein tiefes Verhältnis zur Zukunft möglich macht. Ich wünsche mir eben eine Kassandra, die nicht nur Unheil verkündet, sondern eine Kassandra der Notausgänge. Jede Tragödie wird gewürzt, wenn ich weiß, wo ich – falls das Theater brennt – den Ausgang finde. Das ist mein Glaubensbekenntnis, verstehen Sie? Wie kommt man während eines Bombardements aus dem Luftschutzkeller raus? Durch den Mauerdurchbruch zum Nachbarkeller. Das ist der Instinkt für Chroniken. Die sind kein Luxusgut. Es geht nicht darum, der Literatur einige Geschichten mehr einzuverleiben, sondern wir brauchen Orientierung. Wir müssen Erfahrung darüber gewinnen: Wo geht es in der Not, zumindest für die Kinder, raus?
Sie haben ja auch das Jahr 2042 genannt im Zusammenhang mit der Entwicklung von Planungshorizonten, die bis zu dieser Zeit möglich sein könnte.
Jedes Jahr besuche ich die Münchner Sicherheitskonferenz. Auf der Spurensuche nach Zukunft. Dabei hat mich betroffen gemacht, wie weit die Planungen des Pentagon in die Zukunft reichen. Womit befassen sich die militärischen Planer für das Jahr 2042? Da gibt es abenteuerliche Pläne und Planspiele. Und ich weiß, dass auch vor 1914 solche Planspiele gemacht wurden, und von 1908 sehe ich da ein Planspiel, den Schlieffen-Plan. Keiner dieser Pläne ist je in Erfüllung gegangen. Dennoch arbeiten Strategen in unserer Welt mit Planungen, die den Plänen von Göttern ähnlich sind. Wie im Barocktheater. Sie sind aber inzwischen zusätzlich mit den digitalen Fähigkeiten und auch den Allmachtsfantasien von Silicon Valley verbunden. Als gäbe es die Oper „Götterdämmerung“ nicht. Es ist gut, solche Metaphern in Erinnerung zu rufen. Und das machen Poeten.
Sie verstehen „Kommentar“ nicht als Meinung, sondern als Vertiefung. Der Untertitel „Unruhiger Garten der Seele“ bezieht sich auf die Aussage einer Habilitandin an der Humboldt-Universität Berlin, die die klassische Aufteilung der Dichtkunst (Epik, Dramatik, Lyrik, Kritik) infrage gestellt hat. Anstelle von Epik schlägt sie die Bezeichnung „Poetische Gärten“ vor. „In Gärten gilt es zu pflanzen.“ Das Bild des Gartens ist auch eng mit einem anderen Bild verknüpft, als Gegensatzpaar, dem des Labyrinths, von dem bspw. Borges lebenslang fasziniert war. Es gibt dieses Zitat, ich weiß leider nicht mehr, woher ich es genau habe: „Geschichten sind die Gärten im Labyrinth der Menschen, der Garten im Labyrinth einer Geschichte ist der Mensch.“ In der Überschrift zu dem genannten Kapitel reihen Sie Folgendes: „Kommentar, Epik, Dramatik, Lyrik“. Gehen Sie also von einem Primat des Kommentars aus?
Mich hat verblüfft, dass Jürgen Habermas, der zur Kritischen Theorie gehört – und die Kritische Theorie ist sozusagen in allem, was an Gewissheiten vor dem Zeitalter der Aufklärung liegt, z.B. gegenüber Glaubensgewissheiten, vorsichtig gewesen –, er dehnt jetzt das philosophische Interesse zeitlich noch einmal um tausendfünfhundert Jahre aus: auf die Achsenzeit (ca. 800–200 v.Chr., Anm.). In seinem ersten Band stößt Habermas dabei auf die sogenannten Kommentatoren. „Kommentatoren“ nennen sich die Gelehrten, die im 12. Jahrhundert die ersten Universitäten gründeten, das sind die Juristen von Bologna. Es gibt den Codex Justinianus (528/9 n. Chr.) von Kaiser Justinian. In diesem Werk wurden einst die Rechtssätze und Erfahrungen – das sind keine Urteile von Gerichten, sondern es sind Gutachten – gesammelt und wie in einem Gefängnis, wie in einer Arche Noah eingesperrt. Der Codex sollte sicher durch die Zeiten segeln. Dieser Codex durfte nicht kommentiert werden. Und die Gelehrten im 12. Jahrhundert, viele Jahrhunderte später also, sagen jetzt: Aber so kann das Recht doch nicht auf die Praxis stoßen. Die Praxis ist etwas Lebendiges und braucht Anpassung. Deshalb verfassten diese Juristen erst Glossen, kurze Bemerkungen, und dann ihre Kommentare, in denen dann auf fünf Zeilen des römischen Klassikers Ulpian 60 oder 120 Seiten Erklärung und Vertiefung kommen. Das ist eine vertikale Erzählform, die Erzählform der Gründlichkeit. So wie ein Archäologe arbeitet oder wie man ein Bergwerk errichtet. Dies ist eine elementare Erzählform. Sie ergänzt die linearen Erzählformen, die ich auch gut finde. Aber von denen haben wir schon sehr viel. Etwas dramatisieren, das haben wir alles schon mit den wichtigsten Gefühlen und Tatsachen gemacht. Dem Epischen ist das Kommentieren natürlich auch verwandt, also erzählen vom Erzählen vom Erzählen, und davon erzählen. Das ist sozusagen die Urform, und sie ist eine Form des Kommentars. Sie erzählt in der Ilias, was auf einem einzigen Gegenstand, auf dem Schild des Achilles, alles zu sehen ist. Und das wird zu vielen tausend Versen.
Ein Kommentar ist ja übergreifend, er kann die Epik oder Stellen der Epik vertiefen, ebenso die Dramatik oder Lyrik. Er hat also, wie Sie sagen, eine vertikale Form …
Ein Netz. Wie das der Weberin Arachne in Byzanz. Das war eine junge Frau, eine begabte Frau, die webte die Weltgeschichte in die Kleider hinein. Wie man sich das vorzustellen hat, weiß ich nicht, das muss so ein Kleid gewesen sein wie der Teppich von Bayeux, bestehend aus lauter Geschichten. Und diese Weberin, Arachne, war eine bessere Künstlerin als Athene und wurde – so berichtet es Ovid – aus Rivalität in eine Spinne verwandelt. So ist sie heute das Emblem des Internets. Und ich nehme sie als mein Wappentier. Das Weben und Vernetzen bestimmt auch die Kooperation. Geben Sie mir einen Satz von Robert Musil als Überschrift, dann schreibe ich Ihnen eine Geschichte. Geben Sie mir einen Vers von Ben Lerner oder von Friederike Mayröcker – sie ist eine ganz Große, in jeder Zeile –, dann schreibe ich darüber eine längere Geschichte. Das ist die Arbeitsweise der Arachne. Ich könnte ein zweites Wappentier hinzufügen. Den Maulwurf z.B. – er hat Grabehände, die sehen aus wie Menschenhände, nackt und schön. Und er kann unter jedem Zaun hindurch. Die Schriften, an die es anzuknüpfen gilt, sind aber nicht nur diejenigen der anderen Poetinnen und Poeten, sondern sie stehen am Himmel geschrieben. Vom Sternbild des Perseus geht ein kosmischer Wettersturm aus, ein Sternenwind, der sich über 600 Lichtjahre erstreckt. Und die entgegengesetzte Schrift, sozusagen „das Kleingedruckte der Natur und das Kleingedruckte in der Schrift an der Wand“, wäre dann das Virus, ein fremdes Lebewesen, sehr klein, auch im Elektronenmikroskop nur sichtbar, wenn es im Pulk auftritt. Wir sollten es nicht nur bekämpfen – das müssen wir sicher tun –, sondern auch davon erzählen. Es gibt nicht nur böse Viren, das hat mir Karin Mölling, die Virologin von der Universität Zürich, beigebracht. Die sagt, dass in uns Menschen, in unserem Genom, d.h. in jeder Zelle, die wir mit uns tragen, ein Virus von vor 5 Millionen Jahren steckt, das einst zu einem Vorfahren von uns übergelaufen ist. Wie die Hugenotten – Flüchtlinge aus Religionsgründen – in Preußen oder Österreich Patrioten wurden, beste Kameralisten. So lebt jetzt jener patriotische Virus in uns und führt imaginäre Kämpfe gegen Gefahren, die den Menschen bedrohten vor 5 Millionen Jahren. Die Gefahren sind ausgestorben, aber dieser Winzling arbeitet immer noch in unserem Erbgut. Könnten wir mit ihm sprechen, wäre er ein „verallgemeinerter Impfstoff“. Man hat ihn jetzt wieder zusammengesetzt und er lebt in einem Tier. Da haben Sie jetzt etwas extrem Kleines. Den Gegenpol zum „bestirnten Himmel“. Und dazwischen wir Menschen, in Mittelgröße.
Solche Perspektiven sind das, was mir den Alltag versüßt. Mein Hauptinteresse bleiben die Lebensläufe. Und das, was in unserem Inneren vorgeht. Aber das kann ich nur mit etwas Authentischem verbinden, wenn ich respektiere, dass es so extreme Dinge wie Milchstraßen im Großen und die physikalischen Konstanten der Planck-Länge im ganz Kleinen gibt. Erst das stellt Realität her.
Kommen wir zur Erinnerung und zur Gegenwärtigkeit von Erinnerung. Mich interessiert, wie Sie das Verhältnis betrachten zwischen individueller und kollektivierter bzw. kollektivierbarer Erinnerung und bis zum Begriff „kulturelles Gedächtnis“. Kann man sich in der heutigen Zeit mit einer individuellen Erinnerung in ein kollektives Gedächtnis einschreiben, z. B. die Memes im Netz, oder kann das nur so eine Art Virus, wie es jetzt ja gerade passiert?
Unsere individuelle Erfahrung ist nicht raumgreifend genug. Wir sind nicht die Herren, und wir sind auch nicht die Erzähler, sondern „in mir ist etwas, das erzählt“. Das sind nicht nur meine Eltern und meine Schwester, sondern alles, was ich beobachte.
Ein wunderschönes Zitat übrigens im Buch der Kommentare: der Rhythmus der Schritte ihres Vaters im ersten Stock, der zum Rhythmus der Sätze wird, der Pulsschlag der Mutter …
Bei meiner Erinnerungsfähigkeit geht es um die Tonlage, und wie einer spricht. Die Stimme, mit der man zu Bett gebracht wird als Kind, die ist schon leise, das ist keine Trompete, auf Befehl schläft kein Kind ein. Also ist es eine verführerische, erzählerische Stimme von meiner Kinderfrau oder meiner Mutter. Und diese Töne und ihre Unterscheidungen, das ist der Kammerton A. Sie können auch sagen: unmittelbare Erfahrung. Nicht was ich gesehen oder gelesen habe im Fernsehen oder im Film, sondern was ich selber erlebe und spüre, wo ich hingeknallt bin und mir das Knie gebrochen habe, das ist die Wurzel meiner Erinnerungsfähigkeit und MEINE UNMITTELBARE ERFAHRUNG. Und gleichzeitig aber bin ich angeschlossen durch meine Neugier an die Welt. Schon morgens, wenn ich auf der Toilette sitze, habe ich ein Buch in der Hand. Diese Bücher, das sind ja Schiffe, die kommen von Alexandria her. Die Bibliothek dort ist verbrannt, die gibt’s nicht mehr, aber die Bücher und ihre Inhalte, die sind von so vielen Mönchen weitergeschrieben und kopiert worden, später gedruckt. Und da können Sie überall, auch im wörtlichsten Sinne zwischen den Zeilen, einsteigen und die unmittelbare Erfahrung einbetten. Und das ist jetzt das kollektive Gedächtnis. Sehen Sie mal, da gibt es eine Rechnung von einem Aussteller, der im Jahr 1901 in Halberstadt Exoten ausgestellt hat. Das missbilligen wir heute, politisch korrekt. Man stellt nicht „fremde Menschen“ aus. Der Unternehmer kam damals von Berlin nach Halberstadt. Das ist dokumentiert in einer Quittung. In ihr sind Ausgaben und Einnahmen verzeichnet. Das ist kein Buch. Und doch rührt mich das an. Ich erfahre von etwas, was ich für einen Missbrauch halte, und meine Einbildungskraft setzt sich sogleich in Bewegung in Richtung fremder Kontinente, die es ja doch wirklich gibt. Die Nachricht von einem Irrtum setzt mein Interesse in Gang. Das ist INDIREKTE ERFAHRUNG. Sie arbeitet mit Spiegelung. So viele Tode können Sie gar nicht sterben, wie notwendig sind, um wirklich unsere Welt zu erleben. Der Transfer aber in der Zeit, das ist das, was modern ist. Wenn ich als Kind einen Luftangriff in Halberstadt erlebe, und ich sehe jetzt einen Luftangriff in Aleppo oder Idlib oder die smarten Drohnen in Bergkarabach, dann lebe ich in einer Realität. Für die Poetik ist dies eine zusammenhängende Aktualität. Sie sehen an ihr – was mich mit Erbitterung erfüllt –, wie lebhaft der Fortschritt sich auf der Ebene der Waffen und Logarithmen vollzieht und wie wenig wir Menschen in unserem Bewusstsein fortschreiten.
Übrigens: Ich erzähle das nicht deswegen, weil ich mich für Krieg interessiere. Ich interessiere mich ausschließlich für die Vermeidung von Krieg, da können Sie ganz sicher sein. Darin bin ich mehrfach schutzgeimpft, drei Mal (lacht). Aber mich interessiert es natürlich auch, wenn Sie beobachten können, was bei jungen Menschen der Zeitgeist, der durch unsere Moderne, durch die Medien auch sehr stark potenziert wird, die Versprechungen, wo noch alles was Interessantes zu holen ist, so stark anrichten. Die Vorbilder für Liebesgeschichten, die dort vorgeführt und erzählt werden und in ihr Extrem gebracht werden, sind so stark, dass für das praktische Leben zu zweit oder zu dritt oder zu fünft, je nachdem, wie weit Ihre Liebesverhältnisse gehen, weniger Zeit zur Verfügung ist. Ich werde dann, wenn ich mit dem, den ich liebe, zusammen bin, schon unruhig, weil ich noch jemand anderen lieben könnte. Jedes Medium sagt mir: Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, wenn an der nächsten Ecke schon ein anderer steht. Was für ein bitterer, böser, zynischer Schlagertext aus den Zwanzigerjahren. Die Verknappung der Zeit in der Hingabefähigkeit, auf der männlichen Seite ein neuer Don-Giovannismus, entspricht der Beobachtung.
Und er verunmöglicht eine Vertiefung.
Für Love-Politics entspricht das dem Krieg. Ich weiß nicht, was eine libidinöse Drohne wäre, aber die großen Risse in unserem Leben liegen nicht bloß auf der Seite des offenen Kriegs.
Als Sinnbild für die gesellschaftliche Verortung von Intelligenz im Umfeld von Macht haben Sie die Pilotfische genannt, die häufig im Geleitzug mit Haien zu finden sind, ihnen die Haut säubern und ausgezeichnete Navigatoren sind. Im Gegensatz zu den Pilotfischen, die nicht von Haien verschluckt werden, gerät die menschliche Intelligenz aber in Gefahr, durch den Algorithmus und durch die Märkte zu verschwinden.
Es ist nicht nur das Kapital. Denn zum Beispiel die Währung zwischen Google oder den Big Five im Silicon Valley und uns ist ja in Wirklichkeit gar nicht das Kapital, sondern es sind Daten und Lebenszeit. Wir tauschen ein Stück Lebenszeit gegen eine interessantere Sortierung der Wirklichkeiten und der Tatsachen und einer Öffnung der Partizipation und der Kommunikation. Früher gab es als Währung die Ehre, meinetwegen für den Ritter oder den Offizier. In der digitalen Algorithmenwelt ist die Währung die Lebenszeit. Ich gebe ein Stück von meiner Zeit, und Sie machen meine Zeit interessanter. Das sind die modernen Sirenen. Die Big Five in Silicon Valley sind die modernen Sirenen. Sie werden in Zukunft besser und schneller meine Wünsche verstehen, als ich sie selbst auswendig hersagen könnte. Das, und nicht die Roboter, ist die künstliche Intelligenz. Es geht hier um etwas in unserem Inneren, das in früheren Zeiten der Poetik gehörte. Besäße die Algorithmenwelt nicht den Zugriff auf unsere Subjektivität, könnte sie uns nicht locken. Das verändert den Status der Intelligenz („der Pilotfische“). Karl Marx spricht davon, die Intelligenz (und damit die Poetik und Musik) sei dem Kapital „nur formell subsumiert“. Das galt bisher für fast jede Herrschaft. Mozart ist finanziell vom Erzbischof von Salzburg abhängig und schreibt für ihn Musik, aber der Erzbischof kann keine Noten schreiben und lesen, d.h. er kann ihm nicht genau sagen, wie Mozart komponieren soll. Auch Einstein kann nicht vom Staatschef beauftragt werden, seine berühmte Formel zu entwickeln. Und so ist die Intelligenz historisch auf eine bezaubernde Weise selbstständig, der Sklaverei nicht unterworfen. Wenn Sie länger in einer Fernsehanstalt tätig sind oder in einer Werbeabteilung, und die Marketingfirmen werben nur, wenn hohe Quote ist, dann werden Sie irgendwann in Ihrem Einfallsreichtum beschnitten. Dann dient Ihre Einbildungskraft. Sie ist immer noch formell vorhanden, sie wird dadurch erzeugt, dass Sie selber etwas tun und wollen, aber sie gehört plötzlich jemand anderem. Und sie tritt Ihnen gegenüber. Dann sind Sie wie Odysseus, der sich besser an seinen Mastbaum bindet, wenn die Sirenen singen. Diese Gefahr hat Hans-Jürgen Krahl während der studentischen Protestbewegung zur Begründung genommen, dass die Studenten rebellieren sollen an den Universitäten. Sie sollten ihre Arbeitsstätten für sich selbst erobern und autonom bestimmen. Sie sollten sich dabei juvenifizieren, d.h. das Jugendstadium der studentischen Rebellion in alle Erwachsenheiten ausdehnen. „Wir wollen gar nicht erst Erwachsene werden, die so sind wie unsere Väter.“ Krahl hat dabei davon gesprochen, wie der Prophet Jona im Bauch des Wals steckt, sozusagen von der Realität verschluckt wurde, vom Objektiven. Dann schreit Jona im Bauch. Und in der Bibel ist es ja so, dass Jona mit einem Rülpser des Wals wieder ausgespuckt wird. Krahl hat dazu bemerkt, dass man auf die Bibel nicht vertrauen solle, sondern sich ein Verhalten überlegt: Wie findet Jona von sich aus den Notausgang aus diesem Bauch?
Was mir sehr gefällt, sind diese Pilotfische, die es ja wirklich gibt, die schwirren um das Maul des Hais herum, aber die werden nie gefressen von diesen Raubtieren. Die könnten ja mal naschen … aber nein. Und diese Pilotfische wiederum helfen den Haien navigieren. Ob das ganz genau stimmt, das kann ich nicht sagen, ich bin kein Biologe, aber als Poet darf ich, wenn mir in meiner Kindheit so etwas erzählt wurde, dann darf ich es jetzt als Metapher beschreiben. Wenn die Intelligenz zwar ohne Macht ist, aber am richtigen Ort gewissermaßen Navigationsleistung macht und sich, obwohl Haifische gefährlich sind, sich vor Haifischen nicht fürchtet – dann hätten Sie den Punkt: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Das ist nach Immanuel Kant der Ausgangspunkt der Aufklärung. Das ist keine Phrase. Wenn Sie sich ohnmächtig fühlen, sind Sie für den Prozess der Aufklärung verloren. Ich sitze am 6. Januar mit meiner Frau und meiner Tochter vor dem Fernseher. Ich sehe den Sturm auf das Kapitol: Die haben sich kostümiert, als wären sie aus den Ölgemälden aus dem Kapitol herabgestiegen, und dann ist da ein ganz eigenartiges Gefühl der Nichtteilhabe. Wir sind nicht einmal Wähler in den USA, aber wenn irgendwas in der Welt geschieht, wird es dort oder in China entschieden. Und diese große Macht ist plötzlich belagert auf einen Abend von den Trump-Anhängern, und das können Sie sich ja auch bewaffnet vorstellen, also als Prätorianer, eine Eliteeinheit. Wenn ein Präsident sich siebenmal so schwierig anstellt wie Trump, eine wirkliche Krise bewirkt, dann könnte eine solche Einheit das Weiße Haus räumen. Wir sitzen nach wie vor hier in Mitteleuropa machtlos vor den Fernsehschirmen und warten auf das Samstagprogramm unserer Fernsehanstalten. Das ist irgendwie nicht ganz die Haltung, die Immanuel Kant im Auge hatte, und der hat in zwei Jahren dreihundertsten Geburtstag. Das heißt, wir hätten dreihundert Jahre Zeit gehabt, um geduldig zu arbeiten.
In Ihrem Napoleon-Kommentar nehmen Sie diese ambivalente Lichtgestalt der Aufklärung unter die Lupe und zeigen, dass mit einer solchen Figur sowohl hochfliegende Hoffnungen verbunden sind als auch auf den Abgrund zugesteuert werden kann. Auch der Selbstvergleich Hitlers mit Napoleon (NK, S. 32) ist durchaus interessant. Hitler war ja bis zum Schluss zutiefst von diesem Selbstbild überzeugt, was auch letzte Bilder seiner Musterung der HJ vor dem Führerbunker zeigen. Besonders interessant ist dabei, dass er die Napoleongeste, die seit der Antike als Zeichen sittlicher Tugend gesehen wurde und als Symbol der Stilisierung eines Herrschers als kontrolliert und besonnen galt, in gewissem Sinne übernimmt und gleichzeitig pervertiert, indem er seine von der Parkinsonkrankheit zitternde Hand hinter dem Rücken verbirgt. Trotzdem war Hitler, das sieht man auf den letzten Bildern und Aufnahmen, finde ich, sehr gut, bis zuletzt in dieser eingebildeten Napoleonrolle.
Sie dürfen jetzt nicht denken, dass ich ein Verehrer von Napoleon bin. Und was Hitler betrifft: Mein Geburtsjahr 1932 sagt mir was, nämlich dass man im Jahr 1929 Hitler noch hätte abwehren können. Vierzigtausend Lehrerinnen und Lehrer in der Erwachsenenbildung – Hitler hatte zu diesem Zeitpunkt vier Prozent Wähler in Sachsen und Mecklenburg –, man hätte ihn besiegen können. Und sehen Sie: Was mich dazu gebracht hat, dieses Buch zu schreiben, war die Entdeckung in Kafkas Tagebüchern, dass er vorhatte, den Rückzug Napoleons im Jahre 1912 in einen Roman zu kleiden. Kafka hat nur sechs Wochen daran gearbeitet, aber mir gibt seine Absicht, obwohl ich nicht so schreiben kann wie Kafka, den Grund für mein Buch.
Was war der Grund dafür, dass Sie das Thema Zirkus, das Sie Ihr Leben lang begleitet hat, neu aufgegriffen haben, abseits der Jugenderinnerungen? Weil man den Zirkus auf viele gesellschaftliche Prozesse umlegen kann oder weil er eine Synthese darstellt aus Hochleistung, Berechnung, Intuition und Empathie?
Sie bezeichnen das ja. Als Kind, bevor ich lesen konnte, sitze ich da in diesem Zelt und sehe den Lichterglanz, die Zirkuskapelle, die Löwen, die Elefanten, die Artisten, die Clowns. Diese Faszination kann ich heute nur noch erinnern. Es ist nicht so, dass ich laufenden Meters in den Zirkus gehe. Aber etwas, das mich früher fasziniert hat, kann ich heute übersetzen und transponieren. Nicht nur die Zirkusunternehmen, sondern auch die Hochindustrie, die Hochöfen des Ruhrgebiets haben in der Globalität ihre frühere Pracht eingebüßt. Es gibt den „Bauern“ in uns, den „Städter“ in uns. Und so rückt das Außen einer früheren Zeit, die Industrie, inzwischen in unser Inneres. In der Praxis der Hochöfen und der GROSSEN MASCHINERIE gab es die sog. „gefügeartige Arbeit“. An der Bewegung eines industriellen Objekts sind dort sechzehn Arbeiter koordiniert tätig: Eine maschinelle Konstellation wird umgerückt, und keiner der Arbeiter darf ehrgeizig werden, keiner darf zögern. Die Arbeitskraft muss genau aufeinander abgestimmt sein. Mit dem Feingefühl, mit dem eine komplizierte Schraube befestigt wird, ja mit dem Feingefühl eines Chirurgen. Das ist ZIRKUS im wörtlichsten Sinne. Insofern hat mich der Zirkus in meinem Film „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ angeregt, charakteristische Beobachtungen in der studentischen Protestbewegung festzuhalten. Oben in der Zirkuskuppel sind, immer durch Absturz gefährdet, politisch-akrobatische Artisten tätig. Und zugleich gibt es, gravitativ, lotgerecht zum Erdmittelpunkt, die Füße der Elefanten in der Manege. Das ist die Metapher für BODENHAFTUNG. Beides ist wichtig: der Schwung und die Flugfähigkeit der Einbildungskraft und diese Bodenhaftung. Auch die der Hoffnung, die Wünsche und der Konjunktiv. Und wiederum als Zweites: die Sachlichkeit. Beides zusammen gehört zur Poetik.
Schauen Sie mal (blättert im Buch): Da haben Sie hier ein Bild von zwei Liebenden und unten das Bild der Dinosaurier. Etwas liegt dazwischen. Wir arbeiten immer mit dem Dazwischen. Bei den Worten ohnehin. Zwischen den Worten und der Einbildungskraft des Lesers, da ist ein Gap, in dem alles möglich ist, dünne Fantasie, dicke Fantasie, fliegende, bewegliche, unbewegliche, alles. So ähnlich verhält es sich zwischen den Künsten. Deswegen arbeite ich mit anderen zusammen, denn an der Nahtstelle zwischen Verschiedenheiten, bei Leibniz ist das die sog. SEPARATRIX, da entsteht die Überraschung, das Unerwartete. Sie fragten vorhin nach dem gesellschaftlichen Gedächtnis. Da liegt das gesellschaftliche Gedächtnis, das liegt zwischen Menschen, nicht im Menschen.
Sie verwenden die beiden Begriffe Kommentar und Kontainer. Wie unterscheiden die sich?
Ein Kontainer ist zunächst eine Sammlung. Heiner Müller hat gesagt, das Poetische heißt sammeln. Sie könnten auch sagen, das Poetische heißt gestalten, das wäre aber nicht meine Meinung. Wenn der Autor sich aufbläst und sagt: Ich forme jetzt, dann verfälscht er das Material. Und man muss zwischen dem Material, das z.B. die Kamera aufnimmt, oder dem Gegenstand, von dem der Poet schreibt, Respekt haben. Und diesen Respekt drücke ich aus, indem ich sage: zunächst lieber sammeln und nebeneinanderstellen. Die Substanz verdichtet sich dann übrigens von selbst. Die Sache selbst versteht von der Form mehr als der Autor. Also: Meine Egoschranke senke ich, wenn ich schreibe. Und dann ist etwas in mir, das spricht. Wenn ich sage „ich“, sprechen da eine ganze Kette von toten und lebendigen Menschen, die ich liebe, Menschen, die mich überrascht haben, Menschen, deren Arbeit ich fortsetze. Kontainer ist sozusagen die einfachste Form, so etwas zu stapeln. Wie in den Vorratshäusern des Pharaos. Aus Respekt vor einem so weiten Land wie Russland heißt es „Russland Kontainer“.
Es gibt auch Fälle, in denen etwas in sich ruht. Wo etwas fertig wird. Das gilt für einige meiner Geschichten, die Teile der Kapitel oder Stationen sind. Es gilt vor allem für die sog. Minutenfilme, die ich mache. Beim Kommentar kommen zusätzliche Elemente hinzu. Die Steuerung des Kommentars geht von der Einzelheit, dem Besonderen aus, dem Subtext. Das ist eine Sammlung „strukturiert von unten“.
Nehmen Sie die drei Worte „Zorn des Achilles“. Die Worte stehen in den ersten Versen der Ilias. Ich nehme sie als Thema. Damit steht der Text oben. Unten kann ich jetzt das Wort „Zorn“ entfalten. Beim Bohren oder Graben (das ist unten) stoße ich darauf, dass es ganz schwer ist, den Zorn aufzubewahren. Zorn ist eine hitzige Emotion, besitzt Gewalt, aber ist auf eigentümliche Weise störbar. Man sagt von einem jähzornigen Menschen in Halberstadt „sein Zorn übersteht das Mittagessen nicht“. Nehmen sie Othello. Es stört mich schon immer, dass in Shakespeares Stück rituell die schöne Desdemona stets stirbt. Nun nehme ich an, dass in einem Einzelfall die plebejische Magd der Desdemona, Emilia, an die Tür pocht, während Othello Desdemona würgt. Er geht an die Tür, entrüstet über die Störung. Er schnauzt. Das Mädchen, es kommt vom Lande, schnauzt dawieder. Er antwortet lautstark. Und am Ende ist sein Zorn verbraucht. Als er sich zu Desdemona zurückwendet, vermag er sie nicht mehr zu töten. Ein solcher „Stollenbau“, „Maulwurfsbau“, der das Schicksal sabotiert, das ist eine Kommentarerzählung. Die ewige Wiederholung des Fatums, der Bericht über die „Macht des Faktischen“ wäre das Gegenteil. Kommentare sind weitläufig. Ich käme jetzt erst zur Nachricht über Achilles, ein Mythos, der ein reiches Wurzelwerk besitzt.
Ich hab immer den Eindruck, dass auch Hagen eigentlich ständig von Zorn erfüllt gewesen sein muss.
Ja. Er ist ein Verwalter von Zorn. Er hat ja viele verschiedene Eigenschaften. Ich bin wirklich kein Anhänger von irgendwelchen Heroen. Ich meine nur, dass der Vergleich zwischen diesen Erzählungen interessant ist. Hagen ist ein Konservativer, ein Leiter der Rückzüge, und duldet nicht, dass da ein Neuerer (Siegfried) kommt und alles umstößt. Diese Temperamentsrichtung, die beobachte ich in ihrer Vielfalt, und die Zusammenarbeit mit Jonathan Meese gibt mir dazu die Freiheit. Wie der den Hagen malt, das gibt mir Freiheit. Alle Oberlehrer sind weit weg. Mich wundert von jeher, warum die Menschen in Worms einem so finsteren, grimmigen Helden vertrauen. Er führt alle Burgunden ins Unglück. Seine Handlungen erinnern mich an die Endphase des Zweiten Weltkriegs, an die Zeit von Stalingrad bis April 1945.
Mir ist übrigens, ich weiß nicht warum erst jetzt, zum ersten Mal aufgefallen, wie viele Parallelen es gibt zwischen dem Nibelungenlied und der Ilias. Hector tötet Patroklos im Glauben, es sei Achilles, wie Hagen Siegfried tötet. Hector wird von Achilles getötet und entwürdigt, wie Hagen von Kriemhild entwürdigt wird. Auch andere Motive finden sich: die Schuld der Könige, die Rache hier wie dort, der Schatz des Priamos und der Schatz der Nibelungen, die asiatischen Trojaner hier, die Hunnen auf der anderen Seite, auch das Motto: „Wie die Liebe am Schluss immer Leid gibt“ uvm. Das ist frappierend. Das Interessante ist, dass diese Irrtümer da, möglicherweise schematisch, im Nibelungenlied noch einmal neu für die entsprechende Zeit dargestellt wurden, für eine andere Gesellschaft.
Eigentlich rede ich nur von uns im Jahr 2022. Die Obertonreihe geht da nicht in die Höhe beim Erzählen, sondern die geht rückwärts in der Zeit und kommt dann wieder zurück zu uns. Sie kennen das mit den Obertönen: Wenn Sie C anschlagen auf dem Klavier, dann hören Sie eine ganze Säule von Tönen, die sich über diesem Ton erheben. Sie können von diesen Obertönen zu immer neuen Konstellationen gelangen, z.B. aus der Vergangenheit in die Gegenwart. In meinem Napoleon Kommentar haben Sie einen QR-Code mit einem Film. In dem Film sehen Sie Caspar David Friedrichs Bild von dem Chasseur, der vor dem deutschen Wald steht und sich fürchtet. Klein mit Helm und Uniform, und da ist ein riesiger dunkler Wald. Die Obertonreihe davon verliefe jetzt in das Jahr 1941. Oberleutnant Meyer, ein deutscher Panzeroffizier, fürchtet sich vor der russischen Weite, die kein Ende hat. Die Grenzenlosigkeit erschreckt ihn. Eine andere Obertonreihe führt auf den Flughafen von Kabul, zu den letzten fünf Minuten, in denen die letzten Flugzeuge starten. Die digital gesteuerte Artillerie, die den Flughafen geschützt hat, ist schon zerstört. Zu dunkel und zu mächtig (wie der mitteleuropäische Wald), und zu grenzenlos (wie Russland), „die Uhr ist abgelaufen“ (wie in Kabul), so etwas ist eine Klangfolge, eine Spiegelung. Das ist das, was ich im Grunde ausmale. Von solchen Bildfolgen zehren die Gegenalgorithmen gegen die Algorithmenwelt von Silicon Valley, die wir für die Gleichgewichte des Gefühls brauchen. Wir können dann fröhlich sagen, dass wir die digitale Welt genießen und ihre Chancen nutzen. Aber das können Sie nur, wenn Sie schwere Anker haben an der Arche, in der wir fahren.
Darf ich Ihnen vielleicht eine letzte Frage stellen, die auch ein wenig persönlich ist: Wie verbringen Sie Ihren 90. Geburtstag?
Den selber gar nicht, da bin ich mit meiner Familie zusammen. Die Tage vorher, am 12. und 13. Februar habe ich bei den Kammerspielen München einen Musikabend und eine Matinee, und dann ist längere Zeit Ruhe, und an meinem Geburtstag mache ich nichts Besonderes. Das ist so behaftet von Kindergeburtstagen, die man als Erwachsener nicht mehr nachmacht.
Das heißt aber, Sie arbeiten schon weiter an neuen Büchern?
Jawohl, und an Filmen.
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Autor, Filme- und Ausstellungsmacher und einer der vielseitigsten deutschen Intellektuellen. In den 60er- und 70er-Jahren war er einer der einflussreichsten Vertreter des Neuen Deutschen Films und gehörte als Autor zur Gruppe 47. Für sein Werk erhielt er u.a. den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.
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Alexander Kluge
Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele
Suhrkamp, 400 S.
Alexander Kluge
Zirkus / Kommentar
Suhrkamp, 176 S.
Alexander Kluge
Napoleon Kommentar. „Ein Mensch aus Trümmern gegossen“
Spector Books, 448 S.
Alexander Kluge, Jonathan Meese
Schramme am Himmel. Nachrichten vom Helden Hagen
Spector Books, 356 S.