Zwei neue Essayreihen kommen aus den Verlagen Droschl und Kremayr & Scheriau. Beide nehmen Schlagworte zum Anlass, über Mensch & Gesellschaft zu reflektieren.


Gedankenspiele. Was für ein schöner Titel für eine neue Reihe von Kurzessays. Die ersten Bände offerieren subjektive Zugänge zu Glück, Kompromiss, Mut und Neugier. Der Journalist Paul Jandl sinniert über das »Glück«, bekanntlich ein Vogerl. Das Schlechte am Glück: dass es relativ ist. Das Gute am Glück? Dass es relativ ist. Er zitiert einen Satz aus »Das Glücksdiktat« der Soziologin Eva Illouz und des Psychologen Edgar Cabanas, ihrer Analyse der Glücksindustrie von Ratgebern bis zur Selbstoptimierung: »Das meiste von dem, was wir für unser Glück tun, ob es uns nutzt, enttäuscht, irreführt oder nicht, nutzt unterm Strich zuallererst jenen, die die Wahrheit über das Glück zu hüten beanspruchen.« Und wieder sind nur die andern »happy«.

Jandl schreibt über Glück und Beziehungen und gelangt zur schönen Einsicht: Vielleicht lebt man sich nicht auseinander – vielleicht geht es in der Liebe darum, dass man sich zusammenlebt. Und sagt: Das Glück, es liegt noch vor uns! Er denkt mäandernd über Glück und Internetportale, Reichtum, Wünsche, über Unglück und Familie nach.

Der »Kompromiss«, so Eva Menasse, ist die Königsdisziplin der politischen Kunst. Der »wahre Kompromiss, die echte Kompromissfähigkeit« (Menasse) ist unbeliebt, weil mühselig, da Arbeit, und so rar wie manche vom Aussterben bedrohte Tiergattungen. Sie geht auf aktuelle gesellschaftliche Debatten über Toleranz und Sprache, Sprachreinigung, »kulturelle Aneignung« und »Korrektheit« ein. Und auf die verblüffenden Grenzen des Kompromisses: »Denn kompromissunfähig, das sind doch immer nur die anderen.« Ein Kompromiss, das ist das, was zum sofortschnellen Hier und Jetzt der Digitalgegenwart konträr ist – da langwierig, flexibel, ruhmlos, in die Tiefe gehend, detailreich. Menasse: »›Gegen‹ die Vereinfachung ist immer ›für‹ den Kompromiss.« Dieses Plädoyer für den Kompromiss ist auch ein Plädoyer für mehr Gelassenheit. Für größere Gelassenheit mit den anderen wie mit sich selbst.

Gelassen sind auch die Gedanken Lotte Tobischs über den »Mut«. Man denkt, ein Gespräch zu erleben. Die Schauspielerin, 15 Jahre lang Leiterin des Wiener Opernballs, hat den Text gesprochen, im Jänner 2019, neun Monate vor ihrem Tod mit 95 Jahren. Über bestimmte Stichworte, so etwa falscher Mut, ein mutiges Kind, nicht übermütig sein, Mut und Tod, Mut und Miteinander, Mut in der Politik, erlernbarer Mut, Mut und eigenständiges Denken, Mut und Feigheit, räsoniert sie anregend wie autobiografisch. Fazit: »Mut ist notwendig für ein selbstbestimmtes Leben.« »Neugier ist ein eigenartiger Trieb.« Neugierige sind Jägerinnen und Sammler. Aber Erkenntnis ist mit »Neugier« noch längst nicht verbunden. Die zweite Form der Neugier ist das Reisen. Lange galt Neugier als Leidenschaft. Und diese Leidenschaft war gefährlich und schmerzhaft. Neugier war in der Historie die Feindin der Demut. Für den Kirchenvater Augustinus war sie die Sünde des Stolzes und der Selbstüberhebung. Ihre Reputation wurde über Jahrhunderte desavouiert. Sie galt als Anmaßung. Enzyklopädien beschrieben sie als keck, müßig, naseweis. Aber: Neugier zeigt Vielschichtigkeit auf und Nuancen. Wichtig dabei: die Skepsis, »der Hofnarr der Neugier«. Ilija Trojanow hat recht: Wie langweilig, da neugierlos muss das konstant glückliche Paradies sein. »Neugier ist mein Dank an die Natur für ihre Wunder. Mit Neugier würdige ich die Vielfalt kulturellen Seins.« Interessanter Gedanke: Hat man Interesse an dem, was existiert, hat man Interesse an dem, was sein könnte. Eben ein Gedankenspiel.

Paul Jandl, „Gedankenspiele über das Glück“ (Droschl), 48 S.
Eva Menasse, „Gedankenspiele über den Kompromiss“ (Droschl), 48 S.
Lotte Tobisch, „Gedankenspiele über den Mut“ (Droschl), 48 S.
Ilija Trojanow, „Gedankenspiele über die Neugier“ (Droschl), 56 S.


Angst hat Konjunktur. Lebensangst. Angst vor Ansteckung, Einsamkeit, dem Tod. Angst vor Menschenansammlungen oder Schlangen. Angst durchzieht die Moderne. Und die Gegenwart. Angst ist zutiefst individuell. Sie verdankt sich nicht zuletzt fragmentierter Individualität. Angst ist vieles. Nicht zuletzt auch Treibmittel und für manche auch Treibstoff. »Die Angst ist in dem Sinne eine Kraft, die uns sabotieren oder auch aktivieren kann«, so Willi Butollo, viele Jahre Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie in München. Und nach Angst wurde die Journalistin Petra Ramsauer, lange für den ORF, Kurier und News tätig und seit Jahren Krisen- und Kriegsberichterstatterin, oft gefragt. »Haben Sie nie Angst?« hieß es da, als sie von Libyen, Syrien und dem Irak erzählte. Aber: Wovor fürchten wir uns eigentlich? Ramsauer hat Angst am eigenen gebrechlichen Leib erfahren – bei einer Tumorerkrankung als Jugendliche, später dann bei Bombardierungen. Sehr gut lesbar ist dieser Band, zugleich sehr nachdenklich stimmend.

»Ich habe nie gelernt, eine andere Geschichte zu erzählen als die meinige. Das habe ich lange Zeit für eine Schwäche gehalten, für etwas, das egozentrisch und unflexibel ist. Heute weiß ich, dass meine Stärke darin liegt, meine Stimme für die Dinge zu erheben, die ich kenne.« Denn: »Ich sauge mir nichts aus den Fingern, ich er- und durchlebe jedes Wort.« Jacqueline Scheiber ist ganz offen. Die 28-jährige Burgenländerin, die seit 2012 in Wien als Sozialarbeiterin, Kolumnistin und Bloggerin lebt, spielt als digitale Persona »Minusgold« auf virtuellen und realen, kleinen und großen Bühnen eine Rolle. »Ich trage mein Herz nicht auf der Zunge, ich schiebe es vor mir her wie einen überfüllten Einkaufswagen.«

Offenheit wird in der Zukunft die Basis für Empathie und gegenseitige Bereicherung sein. Autobiografisch bedeutete Offenheit für Scheiber, Unterstützung zu bekommen und Zuspruch, daraus Selbstvertrauen zu ziehen. Zu unverstellt gestellter Offenheit gehören auch gelegentlich schiefe Sprachbilder, das Verwerfen von Konventionen, was heutzutage konventionell ist, der Anhauch offen kitschiger Wendungen. Offenheit ist Entblößung, Zurschaustellung von Schmerz, Verlust, Schicksalsschlägen, der eigenen psychischen Erkrankung. Manchmal auch nur das Flanieren über Gemeinplätze. Aber – welch’ schöner Gedanke – zugleich ist schonungslose Authentizität auch »lebenslanges Lernen, seinen Platz in dieser Welt zu verorten, eine Stimme zu finden und den Grad der Darstellung nach außen zu adjustieren«.

Erhard Busek, seit einem halben Jahrhundert politischer Intellektueller und einst lange aktiv in der Politik, als Wiener Vizebürgermeister, Bundesminister, Parteiobmann der ÖVP, ist Jahrgang 1941. Muamer Becirović, Publizist, drei Jahre lang Bezirksobmann der Jungen Volkspartei in Wien-Rudolfsheim-Fünfhaus ist um 55 Jahre jünger. Wann beginnt Heimat? Ist Europa eine? Worin besteht Heimatlosigkeit? Warum ist Heimatsuche eine »Sisyphossuche«? Wie wird aus der Zusammenführung diverser Kulturen, Religionen, ethnischer Prägungen eine einigende Heimat? Und haben die USA – deren offizielles Motto ja noch immer lautet »E pluribus unum«, aus vielen eines – da Europa, insbesondere Österreich etwas voraus – an Flexibilität, Progressivität, Identitätsstiftung? So schmal das Buch daherkommt, so schwer, groß, aufwühlend und virulent sind die Fragen, für deren Räsonnement die Autoren klug in die Geschichte, Soziologie, zu politischen Ereignissen wie Revirements zurückgehen.

Petra Ramsauer, „Angst“ (Kremayr & Scheriau),128 S.
Jacqueline Scheiber, „Offenheit“ (Kremayr & Scheriau), 112 S.
Erhard Busek und Muamer Becirović, „Heimat“ (Kremayr & Scheriau), 128 S.

Dieser Text erschien zuerst in Buchkultur Österreich Spezial 2020: