Geboren aus dem Schmerz: ein ebenso erschütternder wie mutiger Debütroman aus dem Libanon. Foto: Martin Hangen/Hangenfoto.
Haneen Al-Sayeghs »Das unsichtbare Band« erzählt autofiktional von der jungen Drusin Amal, die sich von den Fesseln der ultrastrengen Religionsgemeinschaft und einer gewalttätigen Ehe zu befreien sucht und allen Widerständen zum Trotz ihren Weg geht. Ein Buch der Hoffnung inmitten großer Dunkelheit, voller Poesie und starker Gefühle. Die Autorin im Interview über Freiheit, Frauenrechte, Religion, Angst, Empathie, Mutterschaft und die Hoffnung als Motor ihres Lebens.
—
Buchkultur: Der Titel Ihres Romans lautet »Das unsichtbare Band« – wofür steht er, was bedeutet er für Sie (auch im Gegensatz zur Kette, die Sie auch im Buch erwähnen)? Wie hat Ihnen das unsichtbare Band, die Solidarität zwischen Frauen, in Ihrem Leben geholfen?
Haneen Al-Sayegh: Im ganzen Roman geht es um den Kontrast zwischen zwei verschiedenen Welten. Die Welt des Bergdorfes, die von der Kette der Tradition, der Religion, der Zwänge und der Angst beherrscht wird, steht im Gegensatz zu einer größeren, freien Welt, die von der American University of Beirut repräsentiert wird, wo die Protagonistin Freiheit und wahre Liebe erfährt. Es scheint keine Brücken zwischen diesen beiden Welten zu geben. Möglich gemacht wird der Übergang von einer Welt in die andere nur von Frauen, nämlich der Mutter, die ihr ganzes Leben lang Brot gebacken und verkauft hat, um das Schulgeld für ihre Töchter zu sichern. Auf einer anderen Ebene steht das unsichtbare Band für das gemeinsame Leiden der Frauen, die in allen Kulturen und auf verschiedenen Ebenen Unterdrückung, Beschämung und Herabwürdigung erfahren.
Beim Lesen Ihres Romans hatte ich das starke Gefühl, dass vieles von dem, worüber Sie schreiben, auf Umständen beruht, die Sie sehr gut kennen. Ist das der Fall? Darf ich Sie fragen: Wie autobiografisch ist Ihr Roman? Mussten Sie ähnliche Situationen, Leiden, Gewalt und Schwierigkeiten erleben wie Amal im Roman? Sind Sie mit der drusischen Religion aufgewachsen? Wie hat sie Sie und Ihr Leben beeinflusst?
Ich bin in einer konservativen drusischen Familie in einem Dorf in den Bergen des Libanon geboren und aufgewachsen. Das hat nicht nur das Buch beeinflusst, sondern auch jedes Detail geprägt. Ich habe mich immer mit dem Leiden der Frauen um mich herum beschäftigt und wollte diesen Frauen eine Stimme geben, deshalb ist keine der Frauen in meinem Roman fiktiv. Auch die einzige Emanzipationsgeschichte im Roman ist meine eigene. Beim Schreiben des Romans wurde mir jedoch klar, dass sich meine Figuren von den ursprünglichen Charakteren unabhängig gemacht haben und stellvertretend für eine größere Gruppe von Frauen stehen. Auch wenn der Roman in der Realität wurzelt, erfordert der Schreibprozess natürlich mehr als eine bloße Dokumentation der Ereignisse. Ich musste literarische Techniken anwenden, die Zeit manipulieren, Figuren kombinieren und die Lücken mit Imagination überbrücken.
Religiöser Fundamentalismus ist in vielen Ländern auf dem Vormarsch, auch in den Ländern der sogenannten westlichen Welt (zum Beispiel in den USA). Wie gefährlich ist das?
Frauen (und Männer) werden im Namen Gottes, im Namen der Religion unterdrückt. Kriege werden im Namen Gottes geführt. Menschen werden im Namen Gottes verfolgt. Ihr Mann, der Schriftsteller Hamed Abdel-Samad, wurde selbst von radikalen Islamisten mit einer Fatwa bedroht. Darf ich Sie fragen: Wie leben Sie mit dieser ständigen Bedrohung? Glauben Sie noch an Gott, ist die Religion für Sie noch wichtig?
Ich kann nicht sagen, dass ich noch eine Drusin im religiösen Sinne bin, aber die Kultur, die Menschen und das damit verbundene Leben werden immer ein Teil von mir sein. Doch auch wenn ich nicht mehr religiös bin, verstehe ich, warum sich viele an religiöse Erzählungen klammern, denn die Menschen werden in einer schnelllebigen und sich ständig verändernden Welt immer einsamer und verletzlicher. Problematisch und sogar gefährlich wird es jedoch, wenn der Glaube politisiert und sogar militarisiert wird, um die Kritiker dieses Glaubens zum Schweigen zu bringen oder zu vernichten. Ich finde es schockierend, dass ein Schriftsteller wie Hamed 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz leben muss, nur weil er seine kritischen Gedanken mit Menschen teilt, und das im Europa des Jahres 2024. Die Bedrohung und die Angst waren schon immer da, aber mit dem Schrecken der Situation wurde ich erst bei einer von Hameds Buchpräsentationen konfrontiert, als eine Gruppe junger Islamisten Krawall machte und den Saal in Angst und Schrecken versetzte. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, was wäre, wenn einer von ihnen eine Waffe bei sich hätte? Und ich erinnerte mich daran, was mit Salman Rushdie und den Redakteuren von Charlie Hebdo geschehen war.
Das Problem war nicht die Religion an sich, sondern es waren die Männer (das Patriarchat), die sich die Rolle Gottes anmaßen und in seinem Namen herrschen, sagt Amal in Ihrem Buch. Und es stimmt, dass die großen Weltreligionen schon immer von Männern angeführt wurden und Frauen unterdrücken. Könnten Sie das ein wenig erläutern?
Religion gibt es immer noch, weil sie an die Grundbedürfnisse der Menschen appelliert: die Suche nach Sinn, Trost und Geborgenheit. Aber auch das Bedürfnis, andere im Namen einer höheren Sache oder moralischer Ideale zu kontrollieren. So entstand die Vorstellung von einer höheren Autorität namens »Gott«, der vom Himmel aus über die Menschen wacht, sie bestraft und ihnen Schuldgefühle einredet. Diese Vorstellung von Gott war lediglich eine Erweiterung des orientalischen Stammesführers. Der Aufstieg des religiös gestützten Patriarchats hat seinen Ursprung in der Vorstellung vom abrahamitischen Gott, der im Orient die Verehrung von Naturphänomenen und die Verehrung der Frau als Synonym für Natur und Fruchtbarkeit ablöste. Die spätere Verflechtung von Religion mit Wirtschaft und Politik erleichterte es den Männern, Frauen an den Rand zu drängen und sie noch mehr zu unterdrücken. Die Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen hat ihren Ursprung in dieser Zeit, als die Religion gleichzeitig das Konzept der Liebe und den Körper der Frau vereinnahmte.
Wie schwierig und wie wichtig war es für Sie, Ihre eigene Stimme zu finden? Ist es Ihnen gelungen, sich mit der Welt, mit der Gesellschaft, aus der Sie kommen, zu versöhnen? Was hat Ihnen geholfen, Heilung zu finden?
Meine eigene Stimme zu finden, war mein Lebensprojekt. Nichts war schwieriger, aber auch lohnender als dies. Es wäre keine echte Versöhnung gewesen, wenn ich nicht zuerst meine Stimme gefunden hätte, denn Kapitulation ist keine Versöhnung. Mit anderen Worten: Um uns zu versöhnen, müssen wir zuerst diejenigen, die uns verletzt haben, mit Mut und Ehrlichkeit konfrontieren. Was mir geholfen hat, zu heilen, war, ehrlich zu mir selbst zu sein, Bildung und harte Arbeit, der Glaube, dass ich Freiheit verdiene, und nicht zuletzt Liebe, die frei von Normen, kulturellen Trennlinien und Ego-Spielen ist.
Bildung ist eine Waffe für Mädchen, heißt es in dem Buch. Bildung ist für Frauen unerlässlich, um sich zu emanzipieren, um sich von Umständen zu befreien, die sie krank machen. Leider erlauben die Männer in vielen Ländern den Frauen nicht, zu studieren oder gar zur Schule zu gehen; in Afghanistan werden Mädchen und junge Frauen, die eine Schule besuchen, vergiftet. Der Besuch der Universität ist ihnen inzwischen verboten. Im Iran werden den Frauen ihre grundlegenden Menschenrechte vorenthalten. Wir stehen vor einer Art Rückschlag, einem Gegenschlag in der Entwicklung der Frauenrechte weltweit. Wie ist das im 21. Jahrhundert möglich? Was können wir dagegen tun?
Damit sich die Idee der Freiheit in einer Gesellschaft entfalten kann, muss diese Gesellschaft die Freiheit zu einem Leitprinzip in der Politik, in der Gesetzgebung und im sozialen Miteinander machen. Geschieht dies nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Freiheit als eine Bedrohung für die Gesellschaft deklariert wird. Eines der Probleme in der islamischen Welt besteht darin, dass die Emanzipation der Frau als eine westliche Idee aufgefasst wird, und wie Sie wissen, haben der Westen und seine Werte in der islamischen Welt nicht gerade den besten Ruf. Darüber hinaus hängt die weltweite Aushöhlung der Frauenrechte mit dem Wiedererstarken kollektiver Identitäten zusammen, die in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen in den Vordergrund treten und die individuellen Rechte in den Hintergrund drängen.
Um eine wirksame Lösung zu finden, muss der Wandel innerhalb der Gesellschaft stattfinden und darf nicht von außen aufgezwungen werden. Auf individueller Ebene muss der Umbruch bei den Frauen selbst beginnen. Die Frauen müssen sich selbst davon überzeugen, dass sie Freiheit verdienen, bevor sie nach außen hin dafür kämpfen. Frauenrechtsorganisationen müssen damit beginnen, die Frauen zu sensibilisieren, bevor sie die Männer für dieses Ungleichgewicht verdammen. Und natürlich sollten wir nicht aufhören, uns mit den wirtschaftlichen, politischen und religiösen Dimensionen dieses Problems zu befassen.
Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?
Freiheit ist vielschichtig und lässt sich nicht an einem bestimmten Thema festmachen. Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt, wenn von Freiheit die Rede ist, ist die Freiheit der Entscheidungsfindung (Ausbildung, Beruf, Wahl des Partners, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit usw.). Als ich jedoch reifer wurde und mir die oben genannten Freiheiten sicherte, begann ich zu erkennen, dass die eigentliche Arbeit darin besteht, innere Freiheit zu erlangen, z. B. Freiheit von Angst, Unsicherheit, Wut, Voreingenommenheit … usw. Und das ist nur möglich, wenn ich mir ständig meiner Gedanken und Reaktionen gegenüber anderen und der Welt bewusst bin. Die meisten Frauen wissen nicht, woher ihre Frustrationen, Unsicherheiten und Ängste wirklich kommen und bleiben deshalb in ihrer eigenen Psyche gefangen, selbst wenn sie alle äußerlichen Freiheiten genießen.
Wie schätzen Sie die angespannte Situation im krisenzerrütteten Libanon (wo de facto die Hisbollah herrscht) seit dem Terroranschlag der Hamas und dem Krieg im Nahen Osten ein? Was fürchten Sie? Was hoffen Sie und was wünschen Sie sich für das Land?
Da ich in einem vom Krieg zerrütteten Land geboren und aufgewachsen bin, kenne ich die Gefahr von Sektierertum und religiösem Fundamentalismus, weil sie gute Menschen dazu verleiten, Gräueltaten zu begehen, während sie glauben, etwas Tugendhaftes zu tun. Deshalb habe ich mich für die Literatur entschieden, um mich zu artikulieren und über die Welt da draußen zu reflektieren, auch, weil die Literatur über ethnische, religiöse und kulturelle Grenzen hinausgeht und uns lehrt, anderen gegenüber mitfühlend zu sein, ungeachtet ihrer Herkunft. Ich befürchte, dass der aktuelle Krieg an den Grenzen die alten Wunden des Bürgerkriegs, die seit Jahren schlummern, wieder aufreißen könnte. Ein Bürgerkrieg im Libanon würde einen Flächenbrand in der gesamten Region bedeuten. Ich wünsche mir, dass der Kreislauf von Hass, Terror und Vergeltung bald ein Ende hat und diese Region endlich zu einem friedlichen Zusammenleben findet. Das kann nur geschehen, wenn der religiös motivierte Hass aufhört und wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wird.
In Ihrem Roman sprechen Sie sehr offen über die Widersprüche, die mit dem Muttersein verbunden sind, insbesondere in patriarchalischen Gesellschaften. Frauen fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Arbeit und Mutterschaft, zwischen den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt, und ihrer eigenen Erfüllung. Wie haben Sie dieses Dilemma für sich selbst gelöst?
Ich bin mit Vollzeitmüttern aufgewachsen, die sich gegenüber ihren Kindern schuldig fühlten und dachten, sie würden nicht genug tun. Ich habe akzeptiert, dass Schuldgefühle ein unvermeidlicher Teil des Mutterseins sind. Aber ich habe festgestellt, dass es besser ist, eine Teilzeitmutter zu sein, die ihr Kind voll akzeptiert, als eine Vollzeitmutter, die unglücklich ist und versucht, ihrer Tochter ihre unerfüllten Träume aufzuzwingen.
Sie haben den Roman Ihrer Tochter gewidmet. Was wünschen Sie sich für sie? Wie können wir unsere Töchter stark und gesund machen?
Ich habe keine Erziehungstipps parat, da ich selbst immer noch versuche, es herauszufinden. Ich glaube aber, dass »Vorleben statt Belehren« eine sehr wirksame Methode ist. Unsere Töchter werden erst dann wissen, dass Freiheit und Glück möglich sind, wenn sie uns frei und glücklich sehen. Es ist auch wichtig, dass wir – die Mütter – akzeptieren, dass wir das Leben unserer Kinder nicht steuern können (auch wenn es zu ihrem Besten ist), und vor allem können wir unsere Töchter nicht vor Kummer bewahren. Wir können nur für sie da sein, wenn sie ihm begegnen. Von unseren Müttern mit all unseren Fehlern und Unsicherheiten akzeptiert zu werden, ist viel wichtiger, als von ihnen Vorträge zu hören, denn ein Großteil des emotionalen Gepäcks und der Traumata von Frauen stammt aus ihren komplexen Beziehungen zu ihren Müttern. Außerdem müssen sich Mütter von der Vorstellung einer »perfekten Mutterliebe« verabschieden, die in allen Kulturen tief verwurzelt ist und das Gewissen von Müttern seit Jahrhunderten belastet und ihnen Schuldgefühle auferlegt hat. Wir alle sind oft frustriert, und wir alle fühlen uns von der Mutterschaft überfordert. Niemand ist perfekt, keine Liebe ist perfekt.
Ich wünsche mir für meine Tochter, was ich ihr im letzten Brief des Romans geschrieben habe. Ich hoffe, dass sie den Glauben, die Wahrheit und das Glück in ihrem eigenen Herzen findet, anstatt sie in der Außenwelt zu suchen. Ich möchte, dass sie liebevoll zu sich selbst und zu anderen wird.
Neben der dunklen Seite ist Ihr Roman aber auch voller Hoffnung. Was gibt Ihnen Hoffnung und worauf hoffen Sie?
Ich habe die Protagonistin in meinem Roman »Amal« genannt, was Hoffnung bedeutet. Die Meilen, die ich seit meinem 15. Lebensjahr zurückgelegt habe, haben meine Hoffnung mit jedem Schritt erneuert und mir gezeigt, dass Ehrlichkeit, Resilienz und Liebe unser Leben völlig verändern und uns alle unseren Träumen näherbringen können. Meine Metamorphose hat meine Hoffnung auf die Menschheit im Allgemeinen erneuert, weil sie mir gezeigt hat, dass die Menschen nicht nur zu Veränderungen fähig, sondern dazu bestimmt sind. Wenn die Hoffnung auf unseren eigenen Erfahrungen und auf unserem eigenen Wissen beruht, geht es nicht darum, einem vagen Traum nachzujagen, sondern unserer eigenen Wahrheit zu folgen.
Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad.
Haneen Al-Sayegh wurde 1986 im Mount Lebanon geboren. Sie studierte Englische Literatur an der American University of Beirut und arbeitet als Dozentin und Übersetzerin. Für ihre Lyrik wurde sie mit dem renommierten Naji Noaman Literary Award ausgezeichnet. »Das unsichtbare Band« ist ihr Debütroman. Haneen Al-Sayegh lebt in Beirut und Berlin.
—
Haneen Al-Sayegh
Das unsichtbare Band
Ü: Hamed Abdel-Samad
dtv, 336 S.