Ein Dazwischen, in dem sie nie ankommt: Protagonistin Huzur ist in Nadire Biskins Debütroman zwischen zwei Welten zuhause, in der Türkei und in Deutschland. In „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ (dtv) behandelt Biskin die drängende Frage, ob aus zwei Heimaten je eine ganze werden kann. Mit Buchkultur spricht sie über ihren Schreibprozess, den Reiz des Alltäglichen und ungefragten Ratschlägen. Foto: Jens Oellermann.


Buchkultur: „Ein Spiegel für mein Gegenüber“ ist Ihr Debütroman. Wie lange haben Sie schon mit der Idee gespielt, diesen Roman zu schreiben und wie lange dauerte der Schreibprozess?

Nadire Biskin: Ich hatte beschlossen, einen Roman zu schreiben und bin erstmal nach dem Ausschlussprinzip vorgegangen. Ich wollte nicht mit der Migrationsgeschichte meiner Familie debütieren, weil ich das Gefühl hatte, sowas würden die Verlage gerne lesen. Ich wollte nicht über mein Vergangenes, einen autofiktionalen Text im klassischen Sinne schreiben, sondern was mich aktuell beschäftigt. Zu dem Zeitpunkt beschäftigte mich die Frage der Mutterschaft, wann ist man eine Mutter, was sind die Beweggründe für eine Mutterschaft vor dem Hintergrund der Migration, Rassismus, Weiblichkeit und des Aspekts von Klasse. Als ich vor ungefähr sechs Jahren anfing, kamen viele syrische Geflüchtete in die Türkei und es wurde kaum thematisiert – und natürlich unbegleitete Minderjährige nach Deutschland. So entschied ich mich, das eine mit dem anderen zu verbinden und einen mehrschichtigen Roman zu schreiben. Ich schrieb in meiner Freizeit, nach Feierabend, vor der Arbeit, in jeder freien Minute. Der Roman ist das Ergebnis von sechs Jahren schreiben, denken, schreiben.

Die Protagonistin Huzur steckt zwischen (mindestens) zwei Welten: Der türkischen und deutschen Gesellschaft, Bucak und Berlin – alles steht in dieser Spannung. Huzur selbst sagt, sie sei „immer im Migrationsmodus“. Wenn Sie jetzt auf die Situation, auf die Thematik blicken: Glauben Sie, dass ein Mensch (und/oder jemand wie Huzur) überhaupt in einem Land – oder auch einem Milieu – ankommen kann? Beziehungsweise für ihr eigenes Seelenheil sogar ankommen muss? Oder geht es um die Akzeptanz dieser Ambivalenz?

Entweder passt man sich an, geht bis an seine Grenzen und assimiliert sich total oder man rekonstruiert das Ankommen. Warum sollte man vollständig irgendwo ankommen? Ist es so vollkommen, so perfekt, gibt es einen solchen Raum auf der Welt? Ich denke nicht. Natürlich ist es auch immer eine Frage der Möglichkeiten und der Verluste. Daher glaube ich auch, dass wir phasenweise ganz unterschiedlich, teilweise auf den ersten Blick widersprüchlich handeln. Grundsätzlich ist dies übrigens eine Frage, die auch Menschen ohne Migrationshintergrund begrifft, auch sie betreten Räume, sind geprägt von Anforderungen ihrer Mitmenschen, von Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Huzur macht im Roman eine ganz wichtige Entwicklung durch. Was zu der Frage führt: Wie kommt man überhaupt bei sich selbst an?

Das Ich ist ja nie von vornherein vollständig. Es ist immer dabei zu werden. Dennoch gibt es Grundzüge, Charakteristika, die uns auszeichnen. Ich bin beispielsweise ein extrovertierter Mensch und das wird vermutlich, mehr oder weniger, immer so bleiben. Mit der Zeit und vor allem durch Milieuwechsel wie beispielsweise bei einem Klassenaufstieg entfernt sich der Mensch manchmal von sich selbst. Das ist im Fall von Huzur ganz deutlich. Sie ist eine Gewinnerin, die mindestens doppelt so hart arbeiten musste und doch hat sie zwischenzeitig einiges verloren, auch Teile von sich selbst. Dabei helfen ihr die inneren Dialoge ihren Kern zu finden mehr als die mit der Außenwelt.

Ein Teilsatz, der mir beim Lesen sehr geblieben ist „[…] weil man das in Deutschland so macht“. Dieses Motiv begleitet Ihre Protagonistin durch das ganz Buch und zieht sich durch ihr Leben: Als Jugendliche pudert sie sich das Gesicht heller, lernt, bis ihre Noten gut sind und behauptet später sie sei Vegetarierin, um bei ihren Freund/innen dazuzugehören – sie versucht unsichtbare, aber erfahrbare Grenzen zu überwinden. Ein wahnsinniger Kraftakt, um jene Situationen zu meiden, in denen ihre Eltern sich regelmäßig wiedergefunden haben. Was interessiert Sie besonders an dieser alltäglichen Ebene?

Das Alltägliche wird häufig mit dem Banalen gleichgesetzt. Dabei macht es uns sowohl aus, formt uns und unsere Träume in der Nacht! Durch die Begegnungen, Erzählungen solcher Mikrosituationen verständige ich mich besser. Dabei ist es nicht mein Ziel, irgendetwas mit meinem Roman zu erklären, zu belehren, es ist kein Lehrbuch. Romane sollten vielmehr Fragen bei der Lektüre hervorrufen und am besten auch nach der Lektüre, im Alltag einen begleiten.

Zurück in Berlin trifft Huzur auf die zehnjährige Hiba, ein aus Syrien geflüchtetes Mädchen ohne Familie. Ist ein über sich hinauswachsen erst möglich, wenn man Verantwortung für jemanden anderen übernimmt? Liegt darin der entscheidende Schritt für Huzur? Und was sagt uns das über den Wert von Solidarität in einer Gesellschaft?

Ich denke, wie viele Jugendliche mit Migrationshintergrund und jüngeren Geschwistern, hat auch Huzur viel Verantwortung getragen, ganz zu schweigen von der Verantwortung als angehende Lehrerin, daher hadert Huzur auch. Hier stellt sich die Frage, wie sehr sie sich von ihren Ängsten dominieren lässt und damit auch die Frage der Solidarität ebenso wie Selfcare. Können wir die gleiche Solidarität von marginalisierten Menschen verlangen wie von privilegierten Menschen, sind sie durch ihre Erfahrungen emphatischer, was bedeutet das für unsere Entscheidungen? Wie können wir solidarischen Menschen am besten begegnen und sie unterstützen, somit auch unseren Teil der Solidarität beitragen?

Huzurs Freund, bezeichnenderweise Raphael Blanc genannt, kommt aus einem bürgerlichen Haus, seine Eltern sind aus der französischen Schweiz. Die Familie scheint es gut zu meinen, und doch verteilt sie lieber ungefragt Ratschläge, als anderen Leuten eine Stimme zu geben (und deren Stimme aushalten zu können). Sind gute Absichten immer ein Hindernis?

Ich habe in der Schule gelernt, dass Fragen mit „immer“ meistens mit „Nein“ beantwortet werden sollten (lacht). Allein der gute Wille reicht nicht aus. Diese Ratschläge, die ungefragten, die gibt es häufiger, wenn es Probleme oder Herausforderungen gibt. Sie sind nicht immer hilfreich, es geht da auch um eine gewisse Dominanz, die sich widerspiegelt, teilweise ist es sogar verletzend. Die Familie Blanc, eine nette Familie, wohlwollend und wohlhabend, sie tragen definitiv zu Huzurs Entwicklung bei und Huzur hoffentlich auch zur ihrer.


Nadire Biskin wurde 1987 in Berlin-Wedding geboren. Sie hat Philosophie, Ethik und Spanisch studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht, heute arbeitet sie als Lehrerin. Ihre Prosatexte sind in zahlreichen Magazinen erschienen. ›Ein Spiegel für mein Gegenüber‹ ist ihr erster Roman.

Nadire Biskin
Ein Spiegel für mein Gegenüber
dtv, 176 S.