»Nevermore« von Cécile Wajsbrot ist das »Buch der Jahre«, ausgewählt von der Darmstädter Jury.
Die elfköpfige Darmstädter Jury zeichnet seit mehr als siebzig Jahren jeden Monat ein besonderes literarisches Werk aus. Alle zwei Jahre wird eines dieser Werke noch einmal als »Buch der Jahre« hervorgehoben. Im April 2022 war das »Buch des Monats«: »Nevermore« von Cécile Wajsbrot und jetzt, am 13. Mai, wurde dieses Buch wieder und diesmal ganz besonders mit dem »Literaturpreis der Darmstädter Jury« ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Anne Weber, die »Nevermore« auch ins Deutsche übertragen hat.
Nun wäre es ein Leichtes, sich den Lobpreisungen der Jury anzuschließen, aber es soll hier und jetzt doch eigene Begeisterung ausgedrückt werden. Die französische Autorin und Essayistin Cécile Wajsbrot – zuletzt war in der BUCHKULTUR 209 eine Rezension ihres Buchs »Mémorial« zu lesen – reizt in »Nevermore« die Form des Romans bis an seine Grenzen aus. Es gibt einen roten Faden, der sich durch das Buch zieht. In dem geht es um die Übersetzung des Mittelteils von »To the Lighthouse« von Virginia Woolf. Daneben schwirren Assoziationen als Ausdruck eines »bindungsfreien Lebens«, das dem Zufall und Impulsen gehorcht, tun sich andere Erzählstränge auf, die hier gar nicht alle erwähnt werden können. Dazu schiebt sie noch Zwischenspiele ins Geschehen, die auf der blumenbewachsenen High-Line in New York angesiedelt sind. (Das erste dieser Zwischenspiele beginnt mit dem Wort »Promenade«, so dass einem Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung« in den Sinn kommen, die ja auch durch eine »Promenade« verbunden sind.) Sie findet eine Verbindung von Dresden aus, wohin sie sich für ihre Arbeit zurückgezogen hat, hin zu Coventry und Tschernobyl, schweift ab zu anderen Büchern, Filmen und Musikstücken und zu all dem, was ihr so durch den Kopf geht, z. B., dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter des Unbewussten war und »dass die große Angelegenheit des 21. Jahrhunderts das Bewusstsein sein wird.« (Da kann man schon eine Weile innehalten und darüber nachdenken, Woolf hin oder her!) Dennoch ist das Übersetzen das Hauptthema, man kann mitverfolgen, wie mühsam es sein kann. »Jeder Versuch einer Transkription ist zum Scheitern verurteilt.« Man muss bedenken, dass Wajsbrot ja nur den knappen Mittelteil von »To the Lighthouse« dort in Dresden übersetzt hat, diesen kleinen »Korridor zwischen zwei Blöcken«, wie Woolf einmal geschrieben hat, der nicht einmal zwanzig Seiten lang ist. Wajsbrot verfasst darüber ein über 200 Seiten dickes Buch. Und jetzt muss unbedingt Anne Weber ins Spiel kommen. Weber ist ja selbst Schriftstellerin – sie bekam für »Annette, ein Heldinnenepos« 2020 den Preis der Leipziger Buchmesse) und Übersetzerin. Sie hat all das, womit sich Wajsbrot beim Übersetzen vom Englischen ins Französische herumgeschlagen hat, vom Französischen ins Deutsche übertragen. Somit ist »Nevermore«, ist dieses »Buch der Jahre« ein Hochfest der literarischen Übersetzung.
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Cécile Wajsbrot
Nevermore
Ü: Anne Weber
Wallstein, 229 S.
International Booker Prize für Jenny Erpenbeck
Als erste deutsche Autorin erhielt Jenny Erpenbeck heuer den »International Booker Prize« für ihren 2021 erschienenen Roman »Kairos«. Dieser Preis wird – laut WIKIPEDIA – seit 2016 für einen fremdsprachigen, ins Englische übersetzten und im Vereinigten Königreich veröffentlichten Roman oder für Kurzgeschichten verliehen. Erpenbeck erhielt schon einmal, und zwar 2015, den Vorläufer dieses Preises, den »International Foreign Fiction Prize« für »Aller Tage Abend«, im Englischen »The End of Days«. »Kairos« ist Liebes- und Zeitgeschichte. Die Zeitgeschichte behandelt den Zerfall der DDR, die Liebesgeschichte passiert zwischen einem 18-jährigen Mädchen und einem um mehr als dreißig Jahre älteren verheirateten Mann. Zufällig lernen sich die beiden in einem überfüllten Autobus kennen, sie verlieben sich so schön und intensiv ineinander, wie das nur deutsche Autorinnen zu beschreiben vermögen. Und dennoch spürt man, dass die Geschichte nicht gut ausgehen wird. Denn, wie Erpenbeck schon in ihrem Roman »Heimsuchung« schrieb: »Jetzt ist allen glücklichen Zufällen der Atem ausgegangen.« Das geschieht auch in »Kairos«. Die Jury des »International Booker Prize« befand das Buch »außergewöhnlich, sowohl schön als auch unangenehm, persönlich und politisch«. Und weiter: »Erpenbeck lädt dazu ein, die Verbindung zwischen diesen generationsbestimmenden politischen Entwicklungen und einer verheerenden, ja brutalen Liebesbeziehung herzustellen und die Frage nach dem Wesen von Schicksal und Macht zu stellen.« Dann ist noch von einer »leuchtenden Prosa« die Rede. Und somit kommt der Übersetzer ins Spiel. Übersetzer und Autor erhalten diesen International Booker Prize nämlich zu gleichen Teilen. Übersetzer von »Kairos« ist Michael Hofmann, Sohn des deutschen Schriftstellers Gerd Hofmann (1931–1993). Vater Hofmann erhielt vor 45 Jahren den Bachmann-Preis, der damals, 1979, gerade zum dritten Mal stattfand. Er wurde auch 1995 – also posthum – mit dem zuvor angesprochenen Intependent Foreign Fiction Prize für »Der Kinoerzähler« aus dem Jahr 1990 geehrt. Übersetzt hat damals schon – und somit schließt sich der Kreis – Sohn Michael Hofmann. Er gab dem Roman den Titel »The Film Explorer«.
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Jenny Erpenbeck
Kairos
Penguin, 384 S.