Sie gab Polens Literatur eine neue Sprache: Dorota Masłowska, Autorin des Kultbuchs „Schneeweiß und Russenrot“, demaskiert das Polen der Gegenwart. „Andere Leute“ zeigt ein gespaltenes Land in der Krise: böse, provokant, voll schwarzer Komik, von immensem Sog. Foto: Karol Grygoruk.
Buchkultur: „Andere Leute“ zeigt die Einsamkeit, Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit mehrerer Generationen im heutigen Polen, 30 Jahre nach dem Ende des Kommunismus. Das Klima in Polen ist vergiftet. Hat sich nichts zum Besseren verändert? Was sind die Gründe für die Sinnkrise und den Werteverlust, für diese brutale Einsamkeit Ihrer Charaktere, der Menschen heute, auch in Beziehungen? Worauf bezieht sich der Titel „Andere Leute“?
Masłowska: „Andere Leute“ ist ein zweischneidiger Ausdruck. Einerseits ist es beeindruckend, wie er in der Umgangssprache funktioniert, wie oft Menschen unbewusst den Ausdruck „andere Leute“ benutzen, um in diese Dinge hineinzuprojizieren, die sie über sich selbst nicht wissen wollen. Für mich scheint dieser überstrapazierte Begriff „andere Leute“ ein sprachlicher Mechanismus der Projektion und der Verdrängung zu sein.
Und die andere Bedeutung ist eine wortwörtliche: Leute, die vollkommen verschieden von uns sind, Menschen, deren Standpunkte wir nicht verstehen. Die letzten zehn oder zwanzig Jahre waren in Polen eine Zeit fortschreitender gesellschaftlicher Polarisierung. Der soziale Konflikt eskalierte spürbar: Er ist sogar in Familien sichtbar. Demarkationslinien gehen durch alle möglichen Themenbereiche: Geld, Bildung, Religion, Sex, die Haltung zur EU. Und da sind die sozialen Medien, die es den Menschen erlauben, in ihren Blasen zu leben, sie haben keine Vorstellung, was und vor allem WER draußen ist.
Sind die Armut in Polen, die soziale Kluft zwischen den Klassen, nach dem Ende des Kommunismus größer geworden?
Ich würde nicht sagen größer. Ich würde sagen, dass sich das eigentliche MODELL geändert hat. Wahrscheinlich war die Kluft im Kommunismus sogar noch drastischer – die Reichen waren extrem reich und der ganze Rest war bettelarm. Wir hatten nicht viel Einfluss auf unseren materiellen Status – das Leben war für (mehr oder weniger) jeden genauso lausig, wenn man einige Bereiche von ausgebuffteren oder privilegierteren Leuten beiseite lässt. Der ganze Transformationsprozess, den wir durchlebt haben, und dann unser Beitritt zur EU, haben die soziale Leiter auf den Kopf gestellt. Plötzlich ist Polen kein Land für ältere Menschen. Kein Land für Schwache, Arme, ungeschickte Loser. Dies ist ein Land für Gebildete, gut Orientierte, Junge, Starke, Schöne, Hinterhältige. Sie haben das Sagen, sie zeigen ihre Superappartements, Autos, Yachten auf Instagram.
Der Begriff von Armut hat sich vollkommen verändert. Einst verehrten wir diese traditionelle katholische Figur des „heiligen Bettlers“, nun ist sie ein Objekt der Verachtung und des Spotts. Junge Menschen verhöhnen die Armut – es ist das ganze Phänomen auf Internet: Ich glaube, es zeigt, in welchem Ausmaß es verwirrend und lahm für eine neue Generation ist, arm zu sein.
Was für ein Mensch ist Kamil? Ist er prototypisch für eine Generation? Kennen Sie Leute wie ihn? Die aus einem desolaten Zuhause kommen, ein Macho, xenophob, ohne Arbeit, der über Schwule, Schwarze und die Ukrainer räsoniert, die den Polen angeblich die Arbeit wegnehmen, und der gewalttätig gegen sie und eine Frau wird, je frustrierter und zorniger er wird. Gehört er zu einer Generation, die von Politik und Gesellschaft betrogen wurden? Ist er zugleich Opfer und Täter? Haben Politik und Gesellschaft versagt?
Für mich ist dieser Typ Mann sehr symptomatisch. Sogar, wenn diese Haltung nicht sehr üblich und repräsentativ für die neue Generation ist. Seine Haltung ist ein bisschen veraltet, würde ich sagen: In der Zeit steckengeblieben, aber immer noch sehr aktiv und sichtbar im öffentlichen Raum, ausgestattet mit all den unbestreitbaren Superkräften wie Frustration, Verachtung, Hass, die Eignung zu physischer Aggression. Machos, die von frustrierten, überarbeiteten, erstickten Müttern aufgezogen wurden. Und auf den Straßen. Aus meiner Perspektive sind sie sehr interessant, denn sie sind besonders anfällig für Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit: Mangel an persönlichem Erfolg macht sie empfänglich für all diese populistischen Phantasien über den Ruhm eines Landes, nationalen Stolz und farbenprächtige heroische Mythen.
Und es gibt Iwona, eine Frau, die oberflächlich betrachtet zu den Gewinnern des postkommunistischen Polen gehört. Sie und ihr Mann sind relativ reich, sie leben den westlichen Traum, aber sie sind nicht glücklich. Sie ist ebenfalls sehr einsam und sucht nach der Liebe. Geht die Isolation durch alle Klassen und Schichten der Bevölkerung? Führen Kapitalismus, Konsumwahn zu einer neuen Form der Entfremdung?
Kapitalismus und Konsum werden üblicherweise in postkommunistischen Ländern ohne Anleitung eingeführt, wie man das Geld verwendet, wie man Wohlbefinden aufbaut, nicht nur Wohlstand. Und ohne Hinweis darauf, dass bessere Wohnungen, Autos und Objekte ständig durch noch bessere ersetzt werden können, aber das bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Menschen zufrieden oder vollständig sind. Indem wir hysterisch unseren Reichtum aufbauten, vernachlässigten wir den Aufbau einer guten, ausgeglichenen, fairen Gesellschaft, und diese Vernachlässigung rächt sich nun. Die Menschen vermissen verzweifelt einfache Dinge wie Gemeinschaft, Bindungen, Zusammengehörigkeitsgefühl, Lebensqualität. Darüber können einen Gegenstände nicht hinwegtrösten.
Auf der anderen Seite wollte ich zeigen, dass sich unser Leben mehr und mehr um das Konsumieren von Dingen dreht, um das Abgeben von Bewertungen, Daumen hoch oder runter. Dieses Modell beginnt auch unsere Beziehungen und Bindungen zu dominieren – wir konsumieren Menschen und Beziehungen – Iwona „bestellt“ Kamil einfach zu sich nach Hause und konsumiert ihn, danach schmeißt sie ihn hinaus. Auf dieser Ebene gleicht „Andere Leute“ auffallend Andrey Zvyagintsevs Film „Loveless“.
Wie haben Sie selbst Ihre Adoleszenz erlebt? Fühlten Sie sich jemals als Außenseiter? Haben Sie das Leben im Plattenbau, das Sie beschreiben, selbst erlebt? Kennen Sie dieses Milieu aus Ihrer eigenen Erfahrung?
Ich wuchs in einem Wohnungsbauprojekt in einer kleinen Stadt bei Danzig auf. Das ist sehr typisch für meine Generation – wir sind meistens Kinder riesiger Projekte, erbaut von den Kommunisten an der Wende der 70er zu den 80er Jahren. Ich denke, es hat auf eine Weise unser Leben beeinflusst, unsere Entwicklung – Bevölkerungsboom, der Hof voller Kinder, überfüllte gigantische Schulen, tatsächlich wirklich grausam, demokratisch und vollkommen unelitär. Meine Kindheit war also sehr sozial: Ich setzte mich die ganze Zeit über mit einer Gruppe auseinander, ihrer Hierarchie, ihren Dynamiken. Die Kindheit meiner Tochter ist vollkommen anders. Das sind für gewöhnlich Einzelkinder, keine Geschwister, das Tablet in der einen Hand, das Smartphone in der anderen. Sogar wenn sie Zeit miteinander verbringen, schauen sie in der Regel einfach in dasselbe Smartphone.
Sie wurden 1983 geboren. Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an das kommunistische Polen?
Ja, sie sind ziemlich lebendig. Lebhaftes Grau. 50 Shades of Grey.
„Schneeweiß und Russenrot“ war ein riesiger Erfolg nicht nur in Polen, sondern auch in den deutschsprachigen Ländern. Haben Sie je damit gerechnet? Der Erfolg kam, als sie noch sehr jung waren. War es schwierig, mit der enormen medialen Aufmerksamkeit zurechtzukommen? Hatten Sie danach Angst, Sorge, den großen Erwartungen gerecht zu werden?
Das war wirklich schwierig: Als ich die Reife erreichte, wurde ich eine öffentliche Figur und, was noch schlimmer war, eine kontroversielle. Der Erfolg meines Buchs geriet außer Kontrolle. Niemand erwartete ihn und niemand konnte mich vor dessen Tortur retten. Ich war ein Mädchen aus einer kleinen Stadt – vielleicht gescheit, aber vollkommen unfähig dazu und unvorbereitet darauf, ein Star zu sein, interviewt zu werden, fotografiert und – zur selben Zeit – kritisiert, verspottet, gehasst, gedemütigt.
Wie dem auch sei: Ich bin froh, dass ich den Druck überlebt und mir die Freude am Schreiben bewahrt habe. Ich mag es immer noch nicht sehr, berühmt zu sein, tatsächlich tue ich alles, um nicht erkannt zu werden, aber nun ist es ein bisschen schwer, das rückgängig zu machen. Besonders, wenn ich meinen Lebensunterhalt mit Schreiben verdienen will.
Sie sind eine präzise Beobachterin der Jugendkultur, -sprache, des Straßenslangs? Aber Ihre Sprache ist sehr kunstvoll, ausgearbeitet. Was verlangen Sie von sich selbst als Autorin, als Künstlerin? Wie wichtig ist Sprache für Sie?
Sprache war immer meine „specialité de la maison“, meine Hausspezialität: das Erfassen von Sprache in ihren aktivsten, umgangssprachlichsten und defektesten Varianten; sprachliche und stilistische Verzerrungen auf die Spitze zu treiben und damit zu spielen. Sie vorzutäuschen, zu parodieren, zu verspotten und zu verformen bis zu dem Ausmaß, wo Sprache beginnt, einen unterschwelligen Gehalt zu enthüllen. Manchmal einfach aus Spaß, manchmal, um unsere nationalen Obsessionen und Komplexe zu entlarven.
Ihre Sprache ist sehr musikalisch, rhythmisch, poetisch. Sie singen und rappen auch? Wie wichtig ist es Ihnen, Grenzen zwischen Genres und Menschen aufzubrechen?
Die polnische Sprache ist eine sehr musikalische – sie hat diese ungewöhnliche Syntax und Flexibilität in der Grammatik. Es gibt keine feste Wortstellung im Satz und man improvisiert immer. Wir verwenden ein breites Spektrum an Diminuitiven – das ganze sprachliche System, um Dinge kleiner, niedlicher, süßer, winziger und dann – im Gegenteil – größer, schmutziger, ordinärer oder einfach vulgärer zu machen. In der polnischen Sprache geht es um Intuition, Kreativität und Improvisation, nicht um Reihenfolge oder Logik. Man kann damit praktisch SPIELEN wie auf irgendeinem bizarren Instrument. Ich produzierte früher Musik, vor ein paar Jahren veröffentlichte ich das Album mit Liedern, die ich mit GarageBand komponierte, diese sehr primitive Anwendungssoftware von Apple zur Musikproduktion. Es war einfach nur zum Spaß, nur, um mich davon zu befreien, eine seriöse, langweilige Schriftstellerin zu sein. Ich bin musikalisch nicht sehr ausgebildet, aber irgendwann brauchte ich etwas von der Literatur Verschiedenes, etwas, wovon ich keine Ahnung hatte, wie ich es tun sollte.
Aber „Andere Leute“ ist eine Art Fortsetzung dieser Faszination: Meine Idee war es, Musik ohne Musik zu schaffen – nur mit Sprache.
Sie schreiben oft aus der männlichen Perspektive und demaskieren so männliche Rollenbilder. Was ist der Grund dafür? Und glauben Sie, gibt es so etwas wie ein weibliches Schreiben? Schreiben Frauen anders als Männer?
Schwer zu sagen, weshalb ich die männliche Perspektive so oft benutze. Sie sollten mit meinem Psychotherapeuten reden. Manchmal denke ich, es ist einfach ein Vergnügen, sich zu verkleiden, vorzugeben, jemand anderer zu sein. Manchmal scheint Literatur eine Art sehr fortgeschrittene, ernste, erwachsene, verbale PLAYSTATION zu sein. Und ich entscheide mich einfach dafür, häufiger männliche Charaktere zu spielen als weibliche.
Die Rolle der Frauen in Polen: Hat sie sich verändert? Verändert sie sich gerade?
Radikal. Sogar wenn in einer solch katholischen, konservativen, machistischen Gesellschaft Veränderungen langsam vor sich gehen und für gewöhnlich schwierig und aufwendig sind, sind sie aller Anstrengungen wert, die möglich sind. Ganz zu schweigen von unseren Müttern, aber sogar Mädchen meiner Generation wurden auf diese sehr eigenartige Weise erzogen – dazu, leise zu sein, fleißig, ruhig, weniger wert, unfähig, sich selbst zu behaupten. Immer beschämt, schlechter und schwächer als Buben. Kein Wunder, dass unsere Köpfe immer noch angefüllt sind mit diesen unbewussten dummen Barrieren, Blockaden und Beschränkungen, gegen die schwer anzukämpfen ist. Aber zur selben Zeit – dazu erzogen, härter zu arbeiten, zu kämpfen, ständig unseren Wert zu beweisen –, wurden wir stärker, entschlossener als Männer, wir sind an höhere Erwartungen gewöhnt.
Der Wendepunkt war 2016, als unsere wahnsinnige Regierung versuchte, ein sehr radikales Anti-Abtreibungsgesetz einzuführen – die feministischen Proteste haben das Land fast in die Luft gejagt.
Würden Sie sagen, dass es das Ziel von Literatur, Kunst ist, zu verstören, zu polarisieren, uns aufzurütteln? Der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten?
Das erste Ziel von Literatur ist sehr egoistisch – ein Schriftsteller möchte einfach die Realität erkunden mit diesem seltsamen Instrument, dem Instrument der Literatur. Um in einige tiefere Ebenen davon zu gelangen, die normalerweise, im Alltag, vollkommen unverfügbar sind. Natürlich ist es nicht nur das. Es ist auch ein Weg, um in Kontakt zu treten mit einem anderen menschlichen Wesen – irgendeinen merkwürdigen, superausgeklügelten Code zu erschaffen, der in jemandes Kopf erblühen wird, der durch dessen Intelligenz, Vorstellungskraft und Erfahrung dechiffriert werden wird. Und schließlich, im Großen gesehen, reflektiert ein Schriftsteller die Realität der Menschen, erweitert deren Wahrnehmung und Vorstellung, stellt ihnen Fragen, revitalisiert ihre Sensibilität.
Vorurteile gegen Homosexuelle, Juden scheinen immer noch sehr lebendig zu sein in Polen. Die polnische Regierung hat 2015 auch keine Flüchtlinge aufgenommen. Was glauben Sie, ist der Grund für all das?
Ich kann nur sagen, dass das immer noch nicht die schlimmsten Dinge sind, die diese Regierung tat oder unterließ. Die PiS-Regierung ist ohne Zweifel der finsterste und peinlichste Abschnitt der modernen Geschichte Polens.
Die katholische Kirche war immer von großer Wichtigkeit in Polen und Teil seiner nationalen Identität. Ist das immer noch so?
Es ist paradox, denn alle Studien und Umfragen zeigen, dass die Polen immer weniger religiös und konservativ sind. Zugleich ist die Kirche immer noch eine riesige politische Macht. Unsere Regierung weiß das sehr gut und verbündet sich sehr zynisch mit der Kirche in diesen schwachsinnigen anti-homosexuellen, anti-weiblichen und anti-menschlichen Kreuzzügen, um die Stimmen zu gewinnen.
In Ihren Büchern, Stücken geht es auch um (falschen) Patriotismus, Nationalismus. Unglücklicherweise sind in den letzten Jahren Nationalismus und rechte Parteien in Europa erstarkt. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?
Historisch gesehen blickt Polen auf eine lange Geschichte von Niederlagen, Annexionen und eine relativ kurze Geschichte der Freiheit und Unabhängigkeit zurück. Wie sehr beeinflusst Polens Geschichte die gegenwärtige Situation? Alte heroische Mythen werden von der PiS-Regierung hochgehalten. Am Unabhängigkeitstag marschierten Rechtsextreme mit Mitgliedern der PiS. Wie ist das möglich? Wo endet der Patriotismus? Es lässt einen wirklich vor Angst erstarren. Besonders jetzt, wo es höchste Zeit ist, dass wir uns verbünden und uns im verzweifelten Kampf für die Erde vereinigen, ist dieses nationalistische Fieber in höchstem Maß beides: furchterregend und nutzlos.
Sind Autoren, Künstler Repressalien von Seiten der PiS-Regierung ausgesetzt? Ich las, dass es den Versuch gab, bestimmte polnische Autoren, Freigeister, aus dem offiziellen Schulkanon zu verbannen und stattdessen durch nationalistischere Denker zu ersetzen. Ihr Wort dazu?
Die Kultur in Polen wurde nun schon vier Jahre lang systematisch und sukzessive ruiniert und in eine lächerliche Propaganda-Trompete umfunktioniert. Alle Institutionen, die unsere Kultur gedeihen ließen, wurden einem „UMSTRUKTURIERUNGS“-Prozess unterzogen, was für gewöhnlich bedeutet, dass alle erfahrenen, kompetenten Arbeiter und Amtsträger durch Marionetten ausgetauscht wurden. Die rebellischsten, kritischen Theater und Institutionen wurden einfach fortgewischt, ganz zu schweigen vom Fernsehen. Olga Tokarczuk, die gerade den Literaturnobelpreis bekommen hat, wurde offiziell zur Anti-Polin erklärt und verboten. Ein paar Tage vor der Bekanntgabe wurde der Kulturminister von einem Journalisten nach ihren Büchern gefragt. Und er verkündete stolz, dass er einige begonnen, aber keines je beendet habe.
Sie kennen die neue Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk? Schätzen Sie sie? Ist es ein starkes Signal, dass eine PiS-kritische Autorin die höchste Auszeichnung bekommen hat? Was bedeutet der Preis für die polnische Literatur?
Ich kenne Olga Tokarczuk, jeder kennt Olga Tokarczuk, nicht nur wegen des Nobelpreises. Sie war in den vergangenen Jahren eine entscheidende Figur der kulturellen Opposition gegen die PiS. Sie ist alles, was unsere Regierung am meisten zu bekämpfen versucht: eine Frau, eine Feministin, eine Umweltschützerin, mit kritischer Haltung der polnischen Geschichte gegenüber. Außerdem: frei, im Ausland anerkannt, unmöglich zu diskreditieren. Für die PiS laufen alle diese Faktoren auf „antipolnisch“ hinaus.
Wir freuen uns über die Maßen für sie und sind überaus stolz auf sie, aber ich glaube, der Preis ist auch ein Symbol für alle Polen, denen ein Polen am Herzen liegt, das vollkommen anders ist als jenes, das die PiS im Sinn hat.
Wie sind Sie aufgewachsen? Haben Sie Geschwister? Sie leben immer noch in Warschau?
Ich wurde 1983 im Norden Polens geboren. Ich hatte eine normale, langweilige Kindheit in dem Wohnprojekt, im selben Block, in dem auch Emilia Smechowski („Wir Strebermigranten“) ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Ich habe einen Bruder. Ich begann Psychologie an der Universität von Danzig zu studieren und dann „Anthropological Sciences“ an der Universität von Warschau. Ich habe keines davon abgeschlossen. Ich kann nichts außer schreiben. Mein Freund ist auch Schriftsteller. Ich lebe in Warschau in der Nähe des Flughafens, weil ich viel reise. Ich habe eine Tochter, eine Katze und einen Hund.
—
Dorota Masłowska wurde 1983 in Wejherowo im Norden Polens geboren. Sie studierte Psychologie und „Anthropological Sciences“ in Danzig und Warschau. Ihr Debütroman „Schneeweiß und Russenrot“ (2002) war eine literarische Sensation. Es folgten „Die Reiherkönigin“ sowie „Liebling, ich habe die Katzen getötet“. Masłowska schrieb auch fürs Theater. Mittels Sprache entlarvt sie Rollenbilder und gesellschaftliche Missstände.
„Andere Leute“ (Rowohlt Berlin),
Übers. v. Olaf Kühl, 160 S.
„Schneeweiß und Russenrot“ (Kiepenheuer & Witsch)
Übers. v. Olaf Kühl, 240 S.