Die chilenisch-US-amerikanische Autorin und Humanistin Isabel Allende, 78, hat soeben ihr autobiographisches Essay „Was wir Frauen wollen“ über die feministischen Stationen ihres Lebens veröffentlicht. Im Buchkultur-Interview spricht die Verfasserin des Weltsellers „Das Geisterhaus“ über Feminismus, die Fragilität der Frauenrechte und ihre Stiftung, die unterprivilegierten Frauen und Mädchen hilft. Foto: Lori Barra.


Buchkultur: Sie wuchsen in Chile auf, einem Land, das vom Machismo geprägt war. Wie fanden Sie zum Feminismus? Wie hat sich die Situation in Chile seit damals verändert? Profitiert das Land immer noch von Michelle Bachelets Regierungszeit (Bachelet wurde 2006 als erste Präsidentin Chiles vereidigt und regierte zwei Amtsperioden lang, Anm. d. Red.)?

Isabel Allende: In meinem langen Leben habe ich gesehen, wie der Feminismus die Kultur in meinem Land verändert hat. Aber es ist immer noch ein Patriarchat – wie auch die übrige Welt. Heute lassen sich die meisten jungen Frauen die Macho-Einstellungen nicht mehr gefallen, aber es muss immer noch viel mehr getan werden. Ich wuchs in einer katholischen, konservativen, männlich-chauvinistischen Familie und Gesellschaft auf. Ich hörte bis in meine späte Jugend nichts über Feminismus, aber ich rebellierte instinktiv gegen männliche Autorität. In meinen Zwanzigern entdeckte ich, dass ich nicht verrückt war, sondern dass es da draußen eine Bewegung gab, den Befreiungskampf der Frauen. Es gab feministische Aktivistinnen und Autorinnen, die ich lesen und denen ich nacheifern konnte. Ich begann bei einer feministischen Frauenzeitschrift zu arbeiten, die sehr progressiv war. Wir waren einfach vier junge Frauen, die die neuesten Nachrichten über den Feminismus verbreiteten, und ich glaube, wir konnten die Kultur auf signifikante Weise beeinflussen.

Während ihrer Regierungszeit hat Michelle Bachelet Frauen und der Familie den Vorrang gegeben. Sie richtete ihren Fokus auf den Kampf gegen häusliche Gewalt und darauf, Frauen wirtschaftlich zu stärken. Sie schuf das Ministerio de la Mujer, das „Ministerium der Frau und der Gleichstellung der Geschlechter“, und setzte Reformen durch, die schließlich zum Beispiel dazu führten, Abtreibung in Fällen, in denen der Fötus außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig ist oder die Gesundheit der Mutter auf dem Spiel steht, und in Fällen von Vergewaltigung zu entkriminalisieren.

Wir erfahren gerade einen Backlash, was Frauenrechte weltweit betrifft. In Ländern wie Polen, Russland, Ungarn stehen grundlegende Frauenrechte und auch die Rechte von LGBTIQ-Menschen wieder auf der Kippe. Auch in den USA unter Trump wurden die Frauenrechte massiv beschnitten. Haben Sie Sorge vor einer konservativen Wende? Was können wir dagegen tun? Was hätte Trumps Wiederwahl bedeutet?

Trumps Wiederwahl wäre ein Desaster für die USA und sehr schlecht für die Welt gewesen. Frauenrechte waren nicht die einzigen Rechte, die auf dem Spiel standen. Viele fundamentale demokratische Institutionen wurden von Trump bedroht. Wie auch immer: Ich bin zuversichtlich, dass der Feminismus langfristig gesehen nicht gestoppt wird. Er ist die bedeutendste Revolution in der Geschichte, weil er die Hälfte der Menschheit betrifft. Er hat Rückschläge erlitten, und manchmal scheint es, als wäre alles verloren. Aber dann bringt eine neue Generation junger Frauen der Bewegung neuen Schwung. Das geschah zum Beispiel mit #MeToo. Frauenrechte werden sehr leicht weggenommen. Wir müssen wachsam und aktiv sein.

In vielen Ländern der Welt gelten die Leben von Frauen und Mädchen immer noch nicht so viel wie die der Männer und Buben. Sie haben in Indien eine Erfahrung gemacht, die zur Gründung Ihrer Foundation für unterprivilegierte Frauen und Mädchen führte (mehr dazu auf: www.isabelallende.org). Sie arbeiten auch viel mit (weiblichen) Flüchtlingen?

Die Idee für meine Stiftung kam mir auf einer Reise nach Indien, als eine junge Frau in einer abgelegenen ländlichen Gegend versuchte, mir ihr Baby zu geben, weil es ein Mädchen war und „niemand ein Mädchen will“. Die Mission meiner Stiftung ist es, in die Kraft von Frauen und in Mädchen wie dieses kleine Baby zu investieren. Wir unterstützen gemeinnützige Organisationen und Programme, die mit Frauen und Kindern im Bereich Bildung, Gesundheitswesen – das schließt natürlich auch Reproduktionsrechte mit ein – und Schutz vor Ausbeutung und Gewalt arbeiten. Flüchtlinge zählen zu den verletzlichsten Menschen auf der Welt, die meisten davon sind Frauen und Kinder. Wir unterstützen Organisationen, die mit Flüchtlingen arbeiten, besonders an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, wo es eine humanitäre Krise unter den Migranten und Migrantinnen und Asylsuchenden gibt.

Frauen sind die großen Verliererinnen der Coronakrise. Sie übernahmen während des Lockdowns die Hauptlast der zusätzlichen Kinderbetreuung und verloren öfter ihre Arbeit als Männer. Auch die Fälle häuslicher Gewalt nahmen zu. Wie gefährlich ist die Coronakrise langfristig gesehen für Frauen? Wie wichtig ist es, danach nicht zur „alten Normalität“ zurückzukehren?

Frauen sind immer die ersten Opfer in Zeiten von Krieg, Katastrophen, Wirtschaftskrisen etc. Die Pandemie hat diese Ungleichheit deutlich und sichtbar gemacht. Wenn die globale Krise vorbei sein wird, werden Frauen die letzten sein, die sich davon erholen. Ich hoffe, dass die Menschheit nach dieser Pandemie eine wirkliche Chance haben wird, sich eine neue und bessere „Normalität“ vorzustellen – gerechter, inklusiv und mitfühlend. Ich träume davon, dass das Patriarchat eines Tages enden wird und von einer neuen und entwickelteren Zivilisation abgelöst werden wird, in der Frauen und Männer sich die Verwaltung der Welt in gleicher Anzahl und zu gleichen Bedingungen teilen. Ich selbst werde es nicht mehr erleben, aber vielleicht meine Enkelinnen.

Welche Verantwortung haben wir? Was muss sich wirklich verändern, damit sich die Situation der Frauen weltweit verbessert? Was erhoffen Sie sich? Was macht Ihnen Hoffnung?

Wir brauchen eine entscheidende Zahl von Frauen in Machtpositionen, um das Ruder herumzureißen und das Patriarchat zu beenden. Frauen müssen ausgebildet, informiert und wirtschaftlich selbständig werden, Zugang zum Gesundheitswesen haben und miteinander vernetzt sein. Sie müssen die Kontrolle über ihren Körper, ihre Fruchtbarkeit und ihre Finanzen haben. Sie müssen sicher vor Gewalt und Diskriminierung sein. Es ist nicht unmöglich. Wir haben die Mittel, es zu erreichen, wenn wir uns engagieren. Wir müssen uns daran erinnern, dass uns niemand etwas gibt. Wir müssen es uns schnappen und verteidigen.


„Was wir Frauen wollen“ (Suhrkamp)
Übers. v. Svenja Becker, 184 S.