Ein Schriftsteller erfand einen Ort, dessen Name sich selbständig gemacht hat und der seit mittlerweile über neunzig Jahren weltweit als ein Synonym für das Paradies schlechthin gehalten wird.


Der britische Schriftsteller James Hilton (1900–1954) hatte mit »Leb wohl, Mister Chips« (2023 neu aufgelegt bei Kampa), der humorvollen Geschichte eines englischen Latein- und Griechischlehrers, 1934 einen ersten schriftstellerischen Erfolg. Doch der wurde in den Schatten gestellt von seinem schon zuvor erschienenen Buch »Lost Horizon«, zu Deutsch »Der verlorene Horizont«, in der Neuauflage »Shangri-La. Irgendwo in Tibet«. »Shangri-La«, das Paradies auf Erden. Und auch, wenn der Roman mittlerweile über 90 Jahre alt ist, er erfüllt die Sehnsucht auch heutiger Menschen nach einem Ort, der nicht nur unwirklich schön ist, sondern an dem ein ganz besonderes atmosphärisches wie spirituelles Klima herrscht. Man kann verstehen, dass sich Hilton nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs so etwas ersehnt hat. Er hat es geschafft, diese Sehnsucht nach Schönheit und Glück literarisch zu verwirklichen. Eingebettet in eine Rahmenhandlung wird die Geschichte von vier Menschen erzählt, die aus politischen Wirren (unwillkürlich denkt man an die fürchterlichen Geschehnisse, als die internationalen Truppen aus Afghanistan abzogen) in eine völlig abgeschlossene Gegend irgendwo in Tibet gebracht werden. In dieser Traumlandschaft von wunderbarer Schönheit herrschen eigentlich unvorstellbare Zustände des Glücklichseins, die von den vier Protagonist/innen verschieden auf- und angenommen werden. Die Hauptrolle spielt Hugh Conway, ein königlich-britischer Konsul, mit ihm sind sein junger Kollege Mallinson, ein Amerikaner namens Barnard und die Missionarin Roberta Brinklow nach Shangri-La gekommen. Conway, »in dem ein mystischer Zug sich seltsam mit Skeptizismus verband« gelingt es am besten, sich im Ort und in der dortigen, stark vom Buddhismus beeinflussten spirituellen Haltung, einzuleben. »Unser Grundsatz ist Mäßigung. Und eins von den Dingen, worin wir immer mäßig sind, ist Tätigkeit.« Conway wird vom Hohen Lama sogar angeboten, seine Nachfolge anzutreten. Dazu kommt es dann aber nicht, das Paradies wird aus allzu menschlichen Gründen verlassen. Doch Hilton gibt nicht ganz auf: Im abschließenden Teil der Rahmenhandlung lässt er die Möglichkeit offen, dass es Conway gelungen ist, wieder nach Shangri-La zurückzukehren. Oder lese nur ich das in meiner naiven Sehnsucht nach einem Happy-End so heraus?

James Hilton
Shangri-La. Irgendwo in Tibet
Ü: Herberth E. Herlitschka
Dörlemann, 272 S.