Große Literatur aus Norwegen: Ein Werk von epochaler Kraft, hochkomplexer Thematik und großer literarischer Schönheit – das ist Johan Harstads mehr als tausend Seiten umfassendes Epos »Unter dem Pflaster liegt der Strand«. Foto: John Erik Riley.
Im Mittelpunkt des Romans und des Interesses der Nachrichtendienste steht ein Stein, der kein gewöhnlicher Stein ist. Wenn man ihn berührt, erfährt man in nur sieben Minuten (s)ein ganzes künftiges Leben und es erscheint einem so real, dass man nicht mehr unterscheiden kann, was wirklich ist und was nicht. Der bedeutende norwegische Schriftsteller im Interview über die kurze Spanne zwischen Kindheit und Erwachsensein (die einem als Jugendlicher wie eine halbe Ewigkeit erscheint), die Zeit, Klimawandel, Rechtsruck und was Lesen und Literatur mit Empathie und Demokratie zu tun haben.
Buchkultur: Was inspirierte Sie zu diesem außergewöhnlichen Roman?
Johan Harstad: Ich finde es immer schwierig, einen bestimmten Ausgangspunkt für meine Bücher zu benennen. Es ist nicht so, dass eine einzelne Idee besonders hervorstechen und mich dazu veranlassen würde, zu arbeiten zu beginnen. Wenn ich es mir recht überlege: Alle meine Romane waren ursprünglich vollkommen anders angelegt. »Unter dem Pflaster liegt der Strand« begann als Kurzroman über Geriatrie, genauer gesagt: über zwei alte Leute, die beide Angst davor hatten, dass der andere vor ihnen sterben könnte. Es ist vielleicht sogar falsch, diesen Roman als denselben, der jetzt vorliegt, zu bezeichnen, denn es überlebten nur ein paar Absätze davon und auch der Arbeitstitel war ein ganz anderer und er enthielt keines der anderen Themen der jetzigen Version. Aber dieser Fehlstart brachte mich auf die Idee der Zeit selbst und wie wenig wir tatsächlich über sie wissen oder davon verstehen und dass Lebensende und Lebensanfang einander ähneln, insofern, als dass man keine Ahnung hat, was einen erwartet. Also begann ich, über die Teenagerjahre zu schreiben, und von da an sprudelten sozusagen nur so die Ideen: das verlassene Haus in Forus, die Vorstellung, dass ich immer schon eine Spionagegeschichte schreiben wollte, meine Faszination mit der Insel Tristan da Cunha, Kernenergie, Container-Schifffahrt und alle diese Dinge. Man könnte sagen, dass der Ausgangspunkt eines Romans der Zusammenfluss vieler Ideen ist, die eine Art interessanter mentaler mathematischer Form annehmen, die meine Aufmerksamkeit herausfordert und in mir den Wunsch weckt, das alles weiter zu erforschen. Als der Roman wuchs, wurde mir klar, dass es wieder ein sehr langer Roman wird. Und eigentlich hatte ich mir nach »Max, Mischa & die Tet-Offensive« mehr oder weniger geschworen, das nie wieder zu tun, da die Arbeit an solchen Projekten extrem anstrengend ist. Mir wurde klar, dass ich – wenn ich etwas Langes und ziemlich Komplexes schreiben wollte –, es jetzt tun müsste, weil in fünf oder zehn Jahren vielleicht niemand mehr einen solchen Roman verlegen wird – zumindest nicht in einem Band. Und dass man ihn dann kürzen und vereinfachen müsste für Leute, die keine Energie mehr haben, zu lesen, aber unterhalten werden wollen, während sie joggen, den Abwasch erledigen, im Stau stehen oder auf das automatische Abspielen der nächsten Netflix-Folge warten, weil die Konzentration und der Wille nicht mehr vorhanden sind, alleine und ungestört in einem Zimmer zu sitzen mit nichts anderem als den Text vor sich. Dieser Gedanke wurde selbst zum Motor und fiel zeitlich mit meiner erstmaligen Lektüre von Thomas Pynchons »Die Enden der Parabel« zusammen – ein Roman, der einerseits wirklich großartig, aber andererseits unglaublich schwer zu lesen ist, und manchmal geradezu unverständlich. Ich wollte nicht, dass mein Roman genauso leserfeindlich wird. Auch fehlt mir Pynchons Talent dazu, selbst wenn ich so schreiben wollte wie er. Aber was ich von der Lektüre mitnahm, war Freiheit: Die Freiheit zu schreiben, was ich will und exakt, wie ich es will, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob es markttauglich wäre oder nicht. Mein Roman ist in vielerlei Hinsicht ein Protest. Ein letzter Protest gegen die Simplifizierung von allem und gegen unsere Furcht vor Komplexität und Nuancen. Ein Protest gegen Faschismus und Autokratie, gegen starke Männer mit bösen Ideen. Und schließlich auch ein Protest gegen die Zeit selbst, die uns ständig engleitet, Minute für Minute; die höllische Zeit, die es uns nicht erlaubt, all die Dinge zu erledigen, die man tun möchte; Zeit, die es Kindern nicht erlaubt, für immer Kind zu bleiben, sondern sie zwingt, erwachsen zu werden und das Haus zu verlassen; ein Protest dagegen, wie endlos lang die Tage in einem Krankenhausbett oder in einem Schützengraben sind oder wenn man im Stau steht, während die Momente extremer Freude unfair kurz und flüchtig sind. Der Roman handelt von der Zeit und es war notwendig, ihm auch eine Form zu geben, für die die Zeit ausläuft.
Was symbolisiert der Stein, wofür steht er?
Auf den Titel bezogen meint es einen Slogan, der auf die Proteste in Paris (und generell Frankreich) 1968 zurückgeht. Als die revolutionären Student/innen begannen, Pflastersteine aus den Straßen herauszureißen, um Barrikaden zu bauen oder sie zu werfen, entdeckten sie den gelben Sand darunter, der zum Symbol für die Möglichkeit der Veränderung wurde und ihre Sicht auf die moderne, dehumanisierende Gesellschaft und Kontrolle darstellte. Für mich, und den Roman, steht er für das Versprechen einer immer möglichen Alternative. Er ist ein Ausdruck dafür, dass sich unter der harten Oberfläche etwas Schönes und Weicheres verbirgt. Wie Glück irgendwo in weiter Ferne, wenn man nur lange genug durchhält. Das wird natürlich durch die Tatsache verkompliziert, dass im Mittelpunkt des Romans ein schwarzes, wie ein Pflasterstein aussehendes Artefakt steht. Wenn man es berührt, hat man die Illusion, in etwas mehr als sieben Minuten ein ganzes Leben zu erfahren. Dann stellt sich die Frage, ob diese Definition des Strandes (oder des Sandes) in Bezug auf das Artefakt möglich ist oder nicht.
Ingmar, Ebba, Jonatan und Peter wachsen in den Neunzigern, kurz nach dem Ende des Kalten Krieges auf, ein Jahrzehnt, das (zumindest im Westen) eine Zeit der Hoffnung, des Friedens, des Wohlstands und der endlosen Möglichkeiten zu sein schien. Aber vielleicht war das ja auch eine Illusion, wenn wir uns die Folgen bis heute vergegenwärtigen. Was ist aus ihren, aus unseren Jugendträumen geworden? Was bleibt?
Es war definitiv eine glückliche, hoffnungsvolle Zeit (wenn man vom Tschetschenien-Krieg, den schrecklichen Balkan-Kriegen und dem Völkermord in Ruanda absieht) für die meisten Europäer/innen, obwohl ich nicht glaube, dass wir uns dessen bewusst waren, was sowohl schön als auch traurig ist. Nein, es war keine Illusion, es war sehr real. Aber unglücklicherweise begannen wir, es (und die Demokratie) für selbstverständlich zu halten, damit haben wir einigen alten Männern Tür und Tor geöffnet, um Kriege anzuzetteln, Wahlbetrug zu behaupten und ihre eigene Wahrheit zu erfinden, was finster und bizarr ist und womit wir jetzt alle leben müssen.
»Mein Roman ist ein Protest, ein letzter Protest gegen die Simplifizierung von allem und gegen unsere Furcht vor Komplexität und Nuancen.«
In Ihrem Roman geht es auch um Freundschaft, ums Erwachsenwerden und um die Jugendzeit, die niemals wieder zurückkommt. Die Vier verbringen viel Zeit im Keller, auf den Spielplätzen und im Industriegelände von Forus, Stavanger. Sie wuchsen selbst in Forus auf und haben Ihren Roman Ihren Freunden in der Vorstadt gewidmet. Wie erinnern Sie diese Zeit? Mit welchen Gefühlen blicken Sie zurück?
Ich schreibe nicht autofiktional, aber ich komme aus denselben Straßen in Forus und Stavanger wie diese Teenager. Meine Erfahrung ist sehr nah an der ihren im Buch, einschließlich meiner Hassliebe für die Vororte, für dieses magische Leuchten, das die Kinder umgab, die im Stadtzentrum lebten. Und viele der Plätze, an denen sie ihre Zeit verbringen, sind dieselben, an denen wir damals auch herumhingen. Und wir taten so ziemlich dasselbe wie sie, nämlich einfach herumspazieren und reden. Ich ging sogar eines Abends in das verlassene Haus, das im Buch vorkommt, als ich sechzehn oder siebzehn war. Dieser Roman, das sagte ich auch meinen Freunden, erzählt so nah wie möglich an unserem Leben in den Vorstädten, ohne aber unser wirkliches Leben nachzuerzählen. Unsere eigene, wahre Geschichte wird immer die unsere sein und nur unsere. Denn ich versprach ihnen vor vielen Jahren: Wer was wann und warum gesagt hat und die wichtigen Details unseres Leben, das wir miteinander teilten, wird niemals plötzlich auf irgendeiner Buchseite enthüllt werden.
In Ihrem Roman geht es viel um die Zeit und ums Warten (was Heranwachsende tun). Und auch darum, was wir vielleicht – als Individuen, als Menschheit – verabsäumt haben zu tun. Was ist Zeit? Worauf warten wir?
Edith Piafs »Je ne regrette rien« ist ein großartiges Lied. Aber ich dachte mir oft, dass es nicht für mich gilt. Denn es gibt Dinge, die ich bereue. Wollten Sie jemals nochmals ganz von vorne beginnen, auf eine Zeitreise gehen? Was würden Sie anders machen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, mehrere Leben zu leben? Wie sehr können wir unsere Zukunft beeinflussen? Und ist es nicht besser, nicht zu wissen, was passieren wird?
Ich habe keine Vorstellung davon, was Zeit wirklich ist. Ob sie überhaupt als etwas anderes als ein praktisches philosophisches Hilfsmittel existiert, um Ereignisse zu verstehen, oder ob sie nur ein Kalender für die Entropie ist, die zum großen Wärmetod des Universums führen wird. Aber ich muss sagen, dass ich die Zeit sowohl genieße, als auch Angst davor habe, wie sie hinter unserem Rücken gegen uns zu arbeiten scheint.
Für mich war dieser Roman auch eine Überlebensstrategie. Etwas, an dem ich mich festhalten und dass ich bis zu einem gewissen Grad kontrollieren konnte, während die Welt um uns herum auseinanderbricht. Wir stehen an der Schwelle zu einem verheerenden, umwälzenden Wandel in der Welt und haben gleichzeitig das seltsame Gefühl, dass dieser Wandel im Nu rückgängig gemacht werden kann, dass alles passieren kann. Das vorausgesetzt, erscheint es vielleicht nicht so verwunderlich, dass ein Roman über den Wunsch nach einer zweiten Chance, einer neuen Richtung entsteht. Und als Überlebensstrategie war es für mich wahrscheinlich wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht sicher ist, ob es geholfen hätte, noch einmal leben zu können oder ein anderes Leben zu leben. Und dass es dann ohnehin seine eigenen, unerwünschten Konsequenzen mit sich gebracht hätte.
Wie bei den meisten Menschen gibt es Dinge, die ich bereue und die ich immer mit mir herumtrage. Das betrifft meistens Dinge, die ich hätte tun sollen (und nicht getan habe), und nicht so sehr das, was ich gemacht habe. Einfache Dinge wie, dass ich vermutlich mit mehr Menschen hätte schlafen sollen, als ich jünger war – solche idiotischen Sachen. Oder ein paar Jahre im Ausland hätte leben sollen. Im Großen und Ganzen bereue ich wenig. Ich konnte ein Leben leben, in dem ich mehr oder weniger genau das tun konnte, was ich schon mit vierzehn wollte, als ich zu schreiben begann. Und das Schreiben hat dazu geführt, dass ich Europa, die USA und Kanada bereiste, Indien, Kenia, Australien und Hong Kong und alle diese anderen Orte – was ich mir niemals hätte träumen lassen. Aber in einer früheren Version des Romans gab es ein ganzes Kapitel über einen alten, sterbenden Mann im Krankenhaus, der zuerst von sich behauptete, dass er im Wortsinn der »Je ne regrette rien«-Typ sei, bevor er schließlich einknickte und zugab, dass er jede einzelne Entscheidung seines Lebens bereute – angefangen damit, wen er geheiratet hatte, welches Haus er gekauft hatte, welchen Job er gehabt hatte, bis zu dem, was er zum Frühstück gehabt hatte und dem Kauf zu vieler Briefmarken und was immer Sie sonst noch wollen. Zehn Seiten lang zählte er alles auf, was er bereute. Das war sehr kathartisch zu schreiben, aber es funktionierte für den Roman nicht.
Um noch einmal auf den Titel Ihres Romans zurückzukommen: Was ist von dem Slogan der 68er-Bewegung geblieben?
Ich glaube, der Slogan ist genauso relevant wie eh und je und dass wir wieder damit beginnen müssen, die Pflastersteine aus den Straßen zu reißen und die heranrollende Welle des Faschismus bekämpfen müssen, die von Leuten angeführt wird, die entweder keine Geschichtsbücher lesen und/oder eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne haben und ein schlechtes Gedächtnis.
Peter schließt sich am Ende den Ökoterroristen an. Frisst die Revolution ihre eigenen Kinder?
Manchmal. Aber nicht immer. Ich glaube, Subcomandante Marcos ist ein Beispiel dafür, dass es nicht immer so ist. Er scheint einen kühlen Kopf behalten und seine Sache gut gemacht zu haben. Aber ich bin kein Experte. Das Problem ist nicht, eine Revolution zu beginnen, sondern worum sie sich dreht und wo sie hinsteuert. Und dass es sehr schwierig sein kann, die Bremsen zu ziehen, wenn die Dinge erst einmal in Fahrt gekommen sind. In Peters Fall ist das Problem, dass seine revolutionären Gedanken auch zu seiner Persona werden, und da wird es heikel. Ich glaube aber, dass er kurz davorsteht, sich selbst wiederzuentdecken, und er scheint nach einem Ausstieg zu suchen.
Der erwachsene Ingmar ist für die Entsorgung des nuklearen Mülls zuständig. Im Buch geht es auch um den Kalten Krieg, um Atomkraft und natürlich um den Stein, hinter dem die Geheimdienste her sind, weil sie ihn zur Entwicklung von noch mehr nuklearen Waffensystemen missbrauchen wollen anstatt zugunsten eines friedlichen Zusammenlebens auf der Erde. Glauben Sie, dass wir die selbstgemachte Zerstörung der (Um-)Welt noch aufhalten können? Dass Wissenschaft und Forschung auf friedliche Weise eingesetzt werden? In Ihrem Roman geht es auch um Entropie. Was bedeutet das in diesem Kontext?
Ich weiß es wirklich nicht. Ich wäre gern optimistisch, und die Menschheit hat ja auch gezeigt, dass sie dazu in der Lage ist, die Forschung für humanitäre Zwecke einzusetzen. Aber die Kehrseite vieler Forschung ist, dass sich mit ihrer Hilfe auch Waffen entwickeln lassen, wie man etwa bei der Atomkraft gesehen hat, die ursprünglich nicht für militärische Zwecke vorgesehen war. Ich schätze, im Endeffekt kommt es auf die Fähigkeit oder die Bereitschaft des Menschen an, zusammenzuleben. Wir haben offenbar eine extreme Veranlagung zur sinnlosen Zerstörung und zur Grausamkeit gegenüber den anderen. Aber wir haben auch eine große Veranlagung für Liebe und Fürsorge – wesentlich mehr als viele Tiere. Es hängt alles davon ab, was als nächstes passiert. Ich glaube, wir spüren alle, dass wir an der Schwelle zu einer tiefgreifenden Umwälzung stehen, die so oder so ausgehen kann: Das betrifft die Energiefrage, den Klimawandel, die verheerenden Kriege, die sich auszubreiten scheinen, und das große, große Unbekannte: KI. Und nein, wir können die Entropie nicht stoppen. Aber Entropie bedeutet auch Entwicklung, und manchmal ist es eine gute Sache – wie bei einer Mahlzeit, die in einem Restaurant vor Ihnen steht: Die Entropie hat definitiv zugenommen, wenn Sie aufgegessen haben, was auf dem Teller war, von dem Sie ein paar Minuten vorher ein Bild auf Instagram gepostet haben. Aber Sie fühlen sich jetzt besser. Ich weiß auch nicht, aber ich entscheide mich dafür, positiv zu sein, und sei es nur deshalb, weil die Alternative bedeuten würde, aufzugeben. Es erinnert mich an die Worte des norwegischen Dichters Jan Erik Vold, der Mitte der Sechzigerjahre schrieb: »Es ist hoffnungslos und wir geben nicht auf.«
Das Besondere an Mikaelsens Geschichte (der den Stein berührt), heißt es im Buch, ist, dass er an keiner Stelle irgendeine Form des Fortschritts erwähnt. Haben wir das Ende des Wachstums, des Fortschritts erreicht?
Nochmals: Laut Entropie nicht. Alles wird auf die eine oder andere Weise fortschreiten und wachsen, bis nirgendwo mehr Energie vorhanden ist. Aber ob wir diesen Fortschritt und dieses Wachstum wertschätzen werden, ist eine andere Frage. Wie auch immer: Ich bin auch kein großer Fan des Konservativismus und des Rückschritts. Ich schätze, wir müssen die Fahrt einfach antreten und sehen, wohin sie uns führt.
Ganz sicher kann ein Endlager nie sein, heißt es im Roman, darüber herrscht Konsens. Norwegen überlegt den Einstieg in die Kernenergie. Sogar Greta Thunberg sprach sich für den Moment für den Weiterbetrieb schon laufender Atomkraftwerke aus (anstatt stattdessen vermehrt auf Kohle zu setzen). Glaubt der Mensch, alles kontrollieren können? Ist die angeblich saubere Atomenergie wirklich eine Alternative zur klimaschädlichen Kohle? Können wir das Ruder noch herumreißen?
Ich bin ein Kind der Tschernobyl-Katastrophe und habe daher von vornherein Angst vor der Atomkraft und ihrem Schadenspotenzial. Aber ich bin auch ein Kind des norwegischen Ölindustriezeitalters. Ich wuchs in Stavanger auf, wo alle Ölkonzerne ihre Büros haben und acht von zehn Eltern entweder auf den Bohrinseln oder für eines dieser Unternehmen arbeiteten. Ich habe auch das Schadenspotenzial der Ölindustrie gesehen und den Preis, den die Umwelt dafür zahlt. Das hat wahrscheinlich dazu geführt, dass ich die Kernenergie für eine bessere Option halte. Vor allem, wenn wir es schaffen würden, die Kernfusion zum Laufen zu bringen im Gegensatz zur Kernspaltung, die derzeit das Einzige ist, das wir aufrechterhalten und mit dem wir arbeiten können. Also ja, ich bin kein so großer Gegner der Atomkraft mehr wie früher. Aber ich bin kein Experte, das ist mir wichtig zu betonen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen ihren eigenen Meinungen offenbar mehr vertrauen als denen von Experten. Das ist Irrsinn. Wahre Intelligenz besteht für mich darin, zu erkennen, wie wenig wir wirklich wissen. Ich sage das, weil von der Kernfusion in den vergangenen vierzig Jahren immer als etwas, das »vierzig Jahre in der Zukunft« liegt, gesprochen wurde: Wenn sich mehr Politiker weniger damit beschäftigt hätten, was schnelle Ergebnisse erzielte und ihre Wiederwahl sicherte, und sich mehr darauf konzentriert hätten, Entscheidungen zu treffen, die vielleicht erst Jahrzehnte nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt großartige Resultate zeitigen würden, dann wäre die Finanzierung der Fusionsforschung einfacher und wir würden vielleicht sogar rascher dorthin kommen. Aber so, wie wir uns nicht vorstellen können, wie das Leben auf der Erde in 100.000 Jahren aussieht, ist es für Politiker offenbar unmöglich, sich Dinge vorzustellen, die fünf Jahre in der Zukunft liegen.
Die vielen Kriege, der Konflikt zwischen dem Westen und Putin (der nukleare Anlagen in der Ukraine bombardiert), das neue atomare Wettrüsten, der Klimawandel, der Rechtsruck: Ihr Roman ist – mehr als dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges – keinesfalls dystopisch. Die Situation ist gefährlicher denn je. Ist der Mensch eine auf (Selbst-)Zerstörung ausgerichtete Spezies? Macht Ihnen das Angst? Welche Welt hinterlassen wir unseren Kindern? Und was gibt Ihnen Hoffnung?
Ja, es war mir sehr wichtig, dass der Roman keine Dystopie wurde. Er enthält, glaube ich, einen Funken Hoffnung, einen Beweis für das Gute, das es wert ist, geschützt zu werden. Ich wollte, dass der Roman in gewisser Weise ein Safe Place für die Lesenden ist. Aber als erwachsener Zivilist mache ich mir Sorgen, ich mache mir große Sorgen. Aber da mir das nicht gutzutun scheint, versuche ich, mich darauf zu konzentrieren, mein Bestes zu geben und mir einen gewissen Optimismus zu bewahren. Denn sie wollen, dass wir aufgeben und einfach tun, was und wie uns gesagt wird.
Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie lange Sie an dem Roman gearbeitet haben müssen und wie Sie es geschafft haben, die vielen verschiedenen Handlungsstränge zusammenzuhalten!
Wenn man die falschen Anfänge und den Geriatrie-Roman, den ich zu Beginn erwähnte, dazuzählt, waren es in etwa sechs Jahre. Man könnte aber auch sagen, dass ich drei Jahre über die Geschichte nachgedacht und sie »ausgegraben« habe und dann drei Jahre damit verbracht habe, sie aufzuschreiben.
Meine Bücher waren immer eine Mischung aus Planung und Improvisation, je nachdem, was passiert, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze. Ich hatte oft ein paar grundsätzliche Ideen, in welche Richtung es gehen sollte, aber auch die Willenskraft, alles über Bord zu werfen, wenn es nicht funktionierte. Aber diesmal schrieb ich von vielen verschiedenen Plätzen aus, und es war klar, dass es im Nachhinein zueinander gefügt werden müsste und nicht von Anfang bis Ende durchgeschrieben werden würde. Das gab dem Ganzen auch eine andere Art von Freiheit, weil die Geschichte einen anderen Rhythmus haben konnte, der nicht von vornherein feststand. Ich entschied schon früh, dass es kein Buch sein sollte, in dem ein Kapitel den/die Leser/in zum nächsten ziehen würde, sondern dass jedes Kapitel für sich allein funktionieren sollte: als eigenständige Einheit, die dann hoffentlich ein Licht auf die umgebenden Kapitel werfen würde. Das ermöglichte es mir auch, separat an den einzelnen Kapiteln zu arbeiten. Musik war mir immer wichtig. Und damit meine ich nicht die Lieder, die meine Protagonist/innen im Roman hören, sondern die Musik, die ich während des Schreibens höre. Normalerweise ist das eine ziemlich umfangreiche und eklektische Musikliste. Aber dieses Mal waren es zwei Bands, die fast den gesamten Raum einnahmen: die kanadische Post-Rock-Band »Godspeed You! Black Emperor« und die norwegische Avantgarde-Jazzgruppe »Supersilent«. Beide Gruppen waren für mich mehr als zwanzig Jahre lang enorm wichtig. Aber vor allem »Supersilent« spielte eine entscheidende Rolle während des Schreibprozesses mit ihrer improvisatorischen, ungeplanten Herangehensweise an jedes ihrer Konzerte, bei denen die verschiedenen Bandmitglieder einander zuhören und versuchen, einen Punkt zu finden, wo alles zueinanderpasst. Oder auseinanderfällt. Und »Godspeed« wiederum hat wahrscheinlich der protestartigeren Natur des Romans viel Zündstoff gegeben.
Was das Zusammenhalten der verschiedenen Handlungsstränge in einem so langen Buch betrifft: Das ist wirklich nur eine Frage der Konzentration. Wenn man erst einmal in dieser Zone ist, ungestört, mit kompletten Tunnelblick, nachdem man jahrelang an dem Projekt gearbeitet hat, geschrieben und umgeschrieben hat, stellt das nicht mehr so ein großes Problem dar. Außerdem lernt man, sich Notizen zu machen. Dennoch passieren Fehler, die einen manchmal dazu zwingen, Dinge neu zu schreiben oder Textstellen zu verwerfen, weil es einfach nicht mehr passt.
Einer Ihrer Nebencharaktere schildert über zehn Seiten lang eine 107 Minuten lang dauernde Duellszene in einem italienischen Western. Mir gefiel, wie das manchmal ironisch mit Ihrer eigenen Schreibweise korrelierte. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer mehr abnimmt. In der Schule gibt es Punkteabzüge, wenn man im Deutschunterricht zu viele Wörter schreibt. Ohnehin liest kaum noch jemand analog. Wie kann/soll sich Literatur heute noch behaupten?
Ja, die Aufmerksamkeitsspanne ist kurz, und das ist ein Problem. Aber ich glaube, das wird sich ändern. Zumindest hoffe ich das. Meine Hoffnung ist, dass die nächste Generation gegen TikTok und Facebook, Snapchat und Instagram und all den Bullshit rebellieren wird – so ähnlich wie die Kinder in den Sechzigern gegen die Entscheidungen ihrer Eltern rebellierten. Und dass das zu einer Wiedergeburt von Dingen führen wird, die Aufmerksamkeit und Konzentration verlangen, Dinge von wirklichem Wert wie ein physisches Buch, und dass sie es nicht länger akzeptieren wird, nur ein Produkt zu sein. Das heißt nicht, dass Bücher und Romane jemals wieder so wichtig werden, wie sie es einmal waren. Diese Zeiten sind vorbei, glaube ich. Ich bin einfach froh, dass ich für eine kurze Zeit ein Teil davon war. Ich beschäftige mich neben dem Schreiben auch mit bildender Kunst und Grafikdesign. Und ich habe in den vergangenen zehn Jahren, insbesondere bei meiner Arbeit für die norwegische Band »Motorpsycho«, gesehen, dass Vinyl-Schallplatten ein großes Comeback erlebt haben – wie ein Protest gegen die Spotifycation der Musik. Auch das wird nicht mehr so populär werden wie in den 1980ern. Aber vor zehn Jahren konnte man sein neuestes Album innerhalb von wenigen Wochen von einer Plattenfabrik drucken lassen. Heute muss man das Artwork vier Monate im Voraus einreichen, weil die Fabriken mit Bestellungen überschwemmt werden. Das gefällt mir.
Kommt es aber nicht zu dieser Wiedergeburt, das heißt, wenn die Literatur weiter an Attraktivität verliert und die Menschen aufhören zu lesen, wird das zur Folge haben, dass wir weniger Empathie und weniger Verständnis für den oder die andere/n aufbringen. Und vor allem wird dieser Weg direkt in den Faschismus führen, denn was Faschismus und Autokratien am meisten lieben, sind Menschen, die nicht selbst denken und das Kleingedruckte nicht lesen.
Auch Ihr Kollege Karl Ove Knausgård schreibt enorm lange Bücher (allerdings oft Autofiktion). Ist das eine norwegische Spezialität?
Ich denke, das ist einfach Zufall. Aber ich muss sagen, was Knausgård für die norwegische Literatur und für die Literatur im Allgemeinen getan hat, ist beeindruckend. Ich könnte nie so schreiben wie er und würde es auch nicht wollen. Aber ich habe großen Respekt davor, wie die Literatur dank ihm vielen Menschen wichtig geworden ist. Und ich liebe es, wie jedes neue Buch von ihm diese große Vorfreude, Erwartungshaltung weckt, sowohl hier in Norwegen als auch im Ausland: Was wird er als Nächstes tun!
Welche österreichischen Autor/innen, Künstler/innen schätzen, kennen Sie?
Mit Anfang Zwanzig habe ich die frühen Bücher Peter Handkes sehr genossen, auch wenn ich sagen muss, dass ich seine Analyse Serbiens und der Balkankriege gelinde gesagt für falsch halte. Da habe ich ein bisschen den Glauben an ihn verloren, auch wenn ich ihm natürlich die Freiheit zuerkenne, in dieser Sache eine ganz andere Meinung zu haben. Elfriede Jelinek hat mich interessiert, vor allem, weil sie Pynchons »Die Enden der Parabel« übersetzt hat. Aber der österreichische Schriftsteller, der mir am meisten bedeutet hat, ist vermutlich Thomas Bernhard, besonders sein Roman »Holzfällen«. Ich habe ihn zum ersten Mal in meinen frühen Zwanzigern gelesen und er ist immer noch eines der besten Bücher über die Stadien der Wut, das ich kenne. Eines Tages würde ich selbst gern ein rasend zorniges Buch schreiben, aber momentan scheint es auf der Welt schon mehr als genug Wut und Zorn zu geben, also muss das warten.
Ich möchte auch Falco für diese seltsamen, aber wundervollen Lieder in den 1980er Jahren danken. Ich habe neulich versucht, meinen Kindern »Der Kommissar« vorzuspielen. Mit ihren sieben und zehn Jahren haben sie nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Du bist komisch, Papa.« »Na ja«, habe ich geantwortet, »ich schätze, das musste man selbst erlebt haben.«
Johan Harstad, Jahrgang 1979, ist einer der bedeutendsten Autoren Norwegens. Sein Geburtsort Stavanger ist Ausgangspunkt vieler seiner Bücher. 2005 erschien sein Debütroman »Buzz Aldrin, wo warst du in all dem Durcheinander?«. Sein zweiteiliges Theaterstück »Osv.« wurde mit dem Ibsen-Preis ausgezeichnet, die Endzeitreise »Krasnojarsk« brachte den Nestroy-Preis. Zuletzt erschienen das Romanepos »Max, Mischa & die Tet-Offensive« sowie die Literatursatire »Auf frischer Tat«. Harstad lebt heute in Oslo.
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Johan Harstad
Unter dem Pflaster liegt der Strand
Ü: Ursel Allenstein, Stefan Pluschkat
Claassen, 1152 S.