Eine Stadt der Zukunft bringt alle Menschen auf die Straße, verändert den Stellenwert des Autos und hat auch das Umland im Blick. Träumen ist erwünscht – konkretes Umsetzen auch. Illustration: Colin Robin.
Für wen ist eine Stadt gedacht? Schon beim bewussten Gang vor die Haustür fällt rasch auf, wer am meisten Platz bekommt. Parkplätze, Garagen, breite oder mehrspurige Straßen: Im Fokus steht das Auto. Es fällt schwer, den Status quo zu hinterfragen, sind wir doch den zur Verfügung stehenden geringen Platz als Radfahrende und Fußgänger/innen gewöhnt. Doch im Zeichen der Klimakrise ist Träumen nicht mehr nur erlaubt, sondern ganz klar erwünscht. Wir brauchen einen Plan dafür, wie wir leben wollen.
Städte, ja Wohnräume insgesamt, müssen neu gedacht werden. In seinem Essayband »Seid utopisch!« sammelt der Philosoph Björn Hayer unter anderem Ideen für einen neuen Lebensraum – und zwar im Einklang mit der Natur anstatt gegen sie. Konkret sollen Projekte auch die bestehende menschgemachte Verschmutzung miteinbeziehen. Etwa in Form der von Vincent Callebauts konzipierten Inseln auf Basis von zusammengetragenem Plastik, das bereits die Weltmeere belastet. Oder neue urbane Zentren, die rundum mit erneuerbaren Energien geplant werden, wie die Ökostadt Masdar City in den Arabischen Emiraten.
Doch selbst diese Modelle dürfen über einen zentralen Fehler nicht stolpern, und den definiert Hayer klar als die Tendenz zur Exklusion: Städte, die mit ihrer Infrastruktur in sich selbst funktionieren, drohen ländliche Strukturen auszuschließen und so letztendlich die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten zu verstärken. Wichtig wäre es also, zeitgleich an der Attraktivität provinzieller Räume zu arbeiten. Staatlich festgelegte Standards könnten dabei helfen, mit einer Mindestanzahl leicht zugänglicher Arztpraxen, Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen gleichwertige Orte zu Stadträumen zu schaffen. Mehr Leben auf dem Land zuzulassen könnte in weiterer Folge auch zu einem höheren Bewusstsein für Artenvielfalt, einem respektvolleren Umgang mit Tieren und ebenso eine reformierte Landwirtschaft mit sich bringen. Letztendlich wird eine Mischform notwendig sein, und zwar aus »starken Provinzen und smarter Urbanität«.
Um sich auf Utopien einzulassen, braucht es vor allem eines: den Mut, Bestehendes zu hinterfragen. Das macht Katja Diehl beim Thema Mobilität bereits seit mehr als 15 Jahren. In »Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt« stellt sie ihre persönliche Stadt der Zukunft vor. Ihr Ziel, das Verkehrssystem weniger ableistisch, weniger sexistisch, weniger rassistisch und weniger patriarchal zu gestalten, bringt sie zu klaren Anregungen für eine Welt, in der alle Platz haben. Was auf den ersten Blick mit Verkehrsplanung nichts zu tun zu haben scheint, vermag auch begeisterte Autofahrer/innen zu überraschen. Diehl ist nicht gegen das Auto an sich, aber gegen den Stellenwert, den es aktuell im Straßenbild hat. Nah-, Rad- und Fußverkehr müssen sich stets dem Auto unterordnen. Statt längere Strecken schneller zurücklegen zu können, sollte eine verbesserte Infrastruktur die Wege kürzer werden lassen, um zu vermeiden, etwa aufgrund von Staus noch mehr Zeit in Autos verbringen zu müssen. Mehr Car-Sharing – besonders auch in ländlicheren Gegenden –, mehr Platz für Fahrräder und vor allem das Mitbedenken aller vulnerablen Personen, die heute nicht oft im öffentlichen Alltag gesehen werden, gehören zu ihren Forderungen.
Räume sollten aus der Perspektive des Menschen und nicht aus der Perspektive des Autos geplant werden. In ihrer Vision sieht man spielende Kinder auf der Straße, können Rollstuhlfahrende auch mal gemütlich für einen Plausch stehen bleiben, wenn sie auf dem Weg zur Bäckerei sind. Städte müssten in diesem Sinn kleinteiliger, verdichteter und entschleunigt werden. Ihre zentrale Frage ist dabei klar: »Ist das gesunder Raum, der nur den vermeintlich Starken gehört?« Mit praktischen Vorschlägen und radikalen Forderungen zeigt sie, dass eine bessere Welt für Minderheiten letztendlich auch ein besserer Ort für die Mehrheit wird.
Mit Modellen und Fragestellungen für die urbane Zukunft hat sich das »Graz Kulturjahr 2020« zwei Jahre lang beschäftigt. In »Wie wir leben wollen. Protokoll eines Zukunftsprojekts« werden die 94 Projekte aus Kunst und Wissenschaft präsentiert – und geben Inspiration zu den Themen Stadtplanung, Umwelt, Klima, digitale Lebenswelten und der Zukunft der Arbeit. Dafür wurde etwa ein 100 m2 großer Klima-Kultur-Pavillon aus Holzelementen und voller Bäume und anderer Pflanzen gebaut, eine Oase zum Durchatmen mitten in der Stadt. Mit Workshops und einer aktiven Bürger/innenschaft wurden Möglichkeiten für das Zusammenleben einer zunehmend diversen Bevölkerung getestet, um Ideen für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu sammeln. Interessant ist auch das letztendlich doch nicht realisierte 95. Projekt im Rahmen des Kulturjahres: Mit »Als Autos die Stadt verließen« wäre die Grazer Innenstadt für eine Woche ganz ohne motorisierten Individualverkehr ausgekommen. Ein Traum, der tatsächlich auch schon in immer mehr Städten zur Realität wird.
Mehr dazu im Buchkultur Sonderheft Schön & gut 2022!
Björn Hayer
Seid utopisch! Für eine Politik der Verantwortung
Droschl, 112 S.
Katja Diehl
Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt
S. Fischer, 272 S.
Stadt Graz Kulturamt, Christian Mayer, Günter Riegler (Hg.)
Wie wir leben wollen. Protokoll eines Zukunftsprojekts
Styria, 352 S.