Wie viel braucht der Mensch zum Glücklichsein? Verschiedene Neuerscheinungen stellen unsere Konsumgewohnheiten infrage und machen Alternativangebote. Foto: Jelena Weber und Richard Brzozowski.
Haben wir wirklich all das nötig, was wir kaufen? Joachim Klöckner hat bereits in den 1980er-Jahren entschieden: keineswegs. Der frühere Maschinenbauer besitzt seitdem bewusst nur noch 50 Dinge, Umzüge finden bei ihm ausschließlich mit Handgepäck statt. Buchkultur hat er seine Maxime verraten: »Wenig tote Gegenstände erlauben mir viel Zeit und Energie für Lebendiges. Ich arbeite nicht für Dinge, die ich nicht brauche, brauche dafür keinen Raum, keine Pflege und keinen Aufwand der Entsorgung.« Irgendwann begann er, auch anderen Menschen die Vorzüge eines solchen Lebens aufzuzeigen – etwa in der 3sat-Dokumentation »Weniger ist mehr. Vom Trend, mit Nichts glücklich zu sein«. Dabei stellte Klöckner fest, dass man ihn keineswegs als Sonderling behandelte: »Echte Argumente dagegen habe ich noch nie gehört, wenn dann drückten sie Neid aus. Deutlich wurden eher Fragen wie ›Wie geht das?‹ oder Ehrlichkeiten wie ›Das könnte ich nicht.‹ Meine Erfahrungen zeigen, dass viele Menschen wissen, was sie nicht wollen, und deutlich weniger wissen, was sie wollen.« Als Hilfestellung hat Klöckner daher bereits vor einigen Jahren seine Erfahrungen in einem Ratgeber mit dem Titel »Der kleine Minimalist« zusammengefasst.
Und auch damit scheint er ein Vorreiter zu sein: Auf den Begriff »Minimalismus« stößt man im diesjährigen Bücherfrühling mehrfach. Die amerikanische Organisationsexpertin Shira Gill definiert in ihrem Buch »Minimalista. Besseres Zuhause – besseres Leben« die Vorzüge dieses Lifestyles wie folgt: »Minimalismus bereichert jeden Aspekt Ihres Lebens, indem er Sie von Krimskrams, Ablenkung und Chaos befreit, sodass Sie sich auf Ihre wahren Werte und Ziele konzentrieren können.« Jedoch bedeute dieses Konzept nicht automatisch, sich auch ästhetisch zu beschränken. Schönes Wohnen sei durchaus mit einem reduzierten Fundus möglich: »In meiner Version des Minimalismus gibt es keine kargen weißen Räume. Für mich hat ein minimalistischer Stil nichts mit Abwesenheit oder Leere zu tun, sondern damit, genau das Richtige und kein Stück zu viel zu besitzen. Meist ist es die schiere Menge an Zeug und das Fehlen eines praktischen Ordnungssystems, das für Chaos, Überfüllung und Stress sorgt.«
Was »genau das Richtige« ist, das man tatsächlich braucht, fällt aber eben vielen Menschen sehr schwer auszumachen. Dazu braucht es laut Gill gar kein radikales Ausmisten, man müsse bloß konzentriert und mit einem klaren Konzept vorgehen, auch dann, wenn man sich nur einer einzelnen Schublade widmet. Ohnehin seien es gerade solche kleinen Aufräumprojekte, mit denen schon viel erreicht werde: Bereits derartige überschaubare Entrümpelungserfolge sind laut Gill wichtig für eine größere Umgestaltung: »Der Schlüssel zu einem ansehnlichen Zuhause sind kleine, aber konsequente Bemühungen, die Sie jeden Tag verlässlich durchführen.« So bekommt man nämlich jene Erfolgsgefühle, die dazu motivieren, auch größere Aufräumarbeiten anzugehen: Dafür legt Gill hier ein ausführliches Programm vor, gibt zahlreiche Tipps und inspiriert mit vielen Fotos zu Umgestaltungen, die in den eigenen vier Wänden mehr Freiluft und Bewegungsspielraum schaffen.
Gill ist dabei sichtbar von der wohl weltweit bekanntesten Expertin für private Aufräumarbeiten inspiriert, der japanischen Bestsellerautorin Marie Kondo. Deren neustes Buch heißt auf Deutsch »Alles in Ordnung« und zeigt damit bereits im Titel, dass für Kondo privates Reinemachen nicht bloß Hausarbeit, sondern im Leben etwas Allumfassendes ist: »Aufzuräumen ist eine unglaubliche Chance, da man dabei die Erfahrung macht, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Jeder kann aufräumen. Ich bin davon überzeugt, dass man nie wieder in die alte Unordnung zurückfallen wird, wenn man nur nach der richtigen Methode vorgeht. Sie werden ein für alle Mal vom leidigen Aufräumen befreit sein und ein entspanntes Leben in der Umgebung führen, die Ihnen gefällt. Finden Sie nicht auch, dass der Gedanke daran das Entrümpeln und Ausmisten wie ein freudiges Fest erscheinen lässt?«
Aufräumen als spirituell reinigendes Erlebnis – das Motiv klingt in diesen Minimalismusfibeln immer wieder an: Ganz besonders deutlich wird das bei Jen Hatmaker, die mit »Einfach mehr Freiraum« ein Aufräumbuch aus bekennend christlicher Sicht herausgebracht hat: Dieser Ratgeber ist als persönlicher Erfahrungsbericht angelegt und mehr ein zusammengewürfeltes Sammelsurium aus Nachhaltigkeitstipps, Bibelzitaten und Wohlfühlsprüchen (»Du hast einen Garten? Lauf so oft wie möglich barfuß durchs Gras.«) als ein strukturierter Leitfaden. Klare Strategien wie von Gill oder Kondo bekommt man hier nicht zu lesen. Trotz ihres gemeinsamen Anliegens ist die Minimalismusszene individuell recht vielfältig – wie Jelena Weber in »Mehr vom Weniger« zeigt: Neben zahlreichen eigenen Ratschlägen (die auch über die Einrichtung hinausgehen, Stichwort: Social Media), stellt die YouTuberin noch weitere Frauen vor, die sich als Modeexpertin, als Tiny-House-Besitzerin oder als minimalistische Büroordnerin mit einem materiell reduzierteren Leben beschäftigen – verschiedene Ansätze, die aber alle von der Frage getrieben sind: »Wie viel Luxus brauchen wir? Wie hoch ist der Preis, den wir dafür zu zahlen bereit sind?«
Denn weiterzumachen wie bisher wird die Menschheit wohl teuer zu stehen kommen: Mutter Erde geht es bekanntlich alles andere als gut, auch weil vor allem die reichsten Länder weiterhin hemmungslos konsumieren, wie der Anthropologe Jason Hickel in seinem neuen Buch »Weniger ist mehr« kritisiert: »Würde jeder Mensch auf dem durchschnittlichen Niveau der einkommensstarken Länder konsumieren, bräuchten wir für unsere Versorgung den Gegenwert von vier Planeten. Das liegt nicht nur daran, dass die Menschen in einkommensstarken Ländern mehr Material verbrauchen; ihre Versorgungssysteme sind auch viel materialintensiver.« Dass die Menschen dabei auch ihren Privatbesitz ständig vergrößern, sei systemimmanent. Die Normalbürger/innen folgen im Kleinen jener Logik, die die Unternehmen vorleben: Für den globalen Verfall macht Hickel vor allem die kapitalistische Fixierung auf ein ständiges wirtschaftliches Wachstum verantwortlich.
Wachstum stehe in dieser ökonomischen Logik für Erfolg, Wohlstand und Fortschritt, Stagnation und rückläufige Zahlen sprechen dagegen für Versagen und kommende schlechte Zeiten. Das ist laut Hickel jedoch ein Irrglaube – die ständige Jagd auf das nächste Bilanzplus müsse irgendwann zum Kollaps führen: »Wir nehmen die Vorstellung von Wachstum als selbstverständlich hin, weil sie so natürlich klingt. Und das stimmt ja auch. Alle lebenden Organismen wachsen. In der Natur gibt es beim Wachstum aber eine selbstbegrenzende Logik: Organismen wachsen bis zu einem Reifepunkt und behalten dann den Zustand eines gesunden Gleichgewichts bei. Wenn das Wachstum nicht aufhört, ist dies auf einen Irrtum bei der Kodierung zurückzuführen, wie das etwa bei Krebs der Fall ist. Diese Art Wachstum wird schnell tödlich.« Somit wird es laut Hickel dringend Zeit für eine Therapie.
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Shira Gill
Minimalista. Besseres Zuhause – besseres Leben
Prestel, 320 S.
Jen Hatmaker
Einfach mehr Freiraum. Wie du Ordnung in 7 Bereiche deines Lebens bringst & bewusster lebst
Gerth Medien, 176 S.
Jason Hickel
Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind
oekom, 352 S.
Marie Kondo
Alles in Ordnung. Dein praktischer KonMari-Begleiter für Wohnung und Leben
Rowohlt, 144 S.
Jelena Weber
Mehr vom Weniger. Minimalismus für Anfänger
ZS, 176 S.
Was war für Sie selbst der konkrete Anlass, Minimalist zu werden?
Ein Umzug, bei dem ich Dinge loswerden wollte, und dann der Rest bequem in einen Mini passte. Dazu die Stimmung in den 1980er-Jahren und Bücher wie »Haben oder Sein« von Erich Fromm oder dem Club of Rome. Ein Satz aus dem Osten, der es gut beschreibt: Am Anfang denkst du, du hast die Dinge. Doch irgendwann haben sie dich.
Warum bekommt die Minimalismus-Bewegung immer mehr Zulauf?
Den meisten, die ich kenne, werden einfach die Dinge, um die sie sich kümmern müssen, zu viel. Keller und Dachboden sind irgendwann voll. Minimalismus ist die Möglichkeit, das eigene Leben selbst zu gestalten.
Was sind die größten Herausforderungen, wenn man Minimalist werden will?
Wenn Minimalismus eine Haltung werden soll, braucht es eine eigene Entscheidung dafür. Also nicht gegen die Dinge, sondern für den Raum, die Zeit, die Energie. Doch jede Entscheidung setzt Wahlmöglichkeiten voraus.
Meine Erfahrungen zeigen, dass viele Menschen wissen, was sie nicht wollen, und deutlich weniger wissen, was sie wollen. Dieses »Was-will-ich« als Folge eines »Wer-bin-ich« ist die Herausforderung – und dazu der Mut, es auch zu tun, anstatt nur zu reden.
Joachim Klöckner, geboren 1949, lebte lange Jahre als Durchschnittskonsument, bevor er erst Energieberater für ein Unternehmen wurde und schließlich auch seine eigene Lebensweise umstellte und seinen Besitz drastisch reduzierte. Heute ist Klöckner Redner, Keynote Speaker und Autor des Ratgebers »Der kleine Minimalist«. Breitere Bekanntheit erlangte er 2014 durch die 3sat-Dokumentation »Weniger ist mehr« von Buchkultur-Autorin Constanze Grießler und Franziska Mayr-Keber.
Joachim Klöckner
Der kleine Minimalist. Praktische Erfahrungen für ein befreites, glückliches Leben
ecowin, 128 S.
Mehr dazu im Buchkultur Sonderheft Schön & gut 2022!