Der Akt des Gehens als gesellschaftliches Phänomen hat in den vergangenen Monaten an Bedeutung gewonnen. Der ­Begriff des Gehens ist aber weitaus umfassender. Foto: Diaz Morales Pasajes III.


Im 21. Jahrhundert erlebte das »Gehen«, das Spazierengehen, das Wandern und auch das Flanieren, einen Boom, der mit den Einschränkungen der Pandemie noch einen weiteren Aufschwung erfahren hat. Wir gehen wieder um des Gehens willen, um zu entschleunigen, der Hektik des Alltags zu entfliehen. Die alltägliche Bewegung im Freien erfährt neue Bedeutung. Wir packen unseren Rucksack, um in den Ferien neue Gefilde zu ergehen, wir schlüpfen wieder öfter und regelmäßig in die Freizeitschuhe, um mit Familie und Freunden nach draußen zu drängen, zu spazieren, zu picknicken, ein Pläuschchen zu halten. Es scheint, als ob das Gehen das Kaffeehaussitzen abgelöst und auch so manch andere Freizeitbetätigung ersetzt hat. Im Gehen erleben wir uns selbst und die Natur neu. Wir suchen und finden dabei vielerlei: körperliche Betätigung, Abschalten, Sinneseindrücke, das Erleben der Umwelt, Ruhe, Achtsamkeit und Ausgleich. Verschiedenartig motiviert kann das Gehen sein, unterschiedlich in seiner Ausprägung, Intensität und Richtung. Facettenreich ist auch die Bedeutung des Wortes, das in etlichen Zusammenhängen verwendet wird.

Den bisher wenig beachteten Aspekten des Gehens in der zeitgenössischen Kunst widmet sich aktuell eine große Überblicksausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. »WALK!« nennt sie sich, vereint mehr als 40 Künstler/innen und stellt in rund 100 Werken aus den Bereichen Fotografie, Video, Performance, Collagen, Zeichnungen, Malereien und Skulpturen nicht nur die Naturerfahrung des Gehens in den Mittelpunkt, sondern erweitert das künstlerische Gehen um soziale, politische und gesellschaftliche Dimensionen sowie das Gehen in mentalen und virtuellen Räumen. Die Idee zu dieser ganz besonderen und weitgefächerten Ausstellung habe es bereits seit Langem gegeben, so der Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, aber jetzt, nach dem dritten Aufbäumen der Pandemie, sei der günstigste Moment der Umsetzung gekommen.

Ein äußerst umfangreiches und dichtes Buch und vor allem ein grandioses Geschichtsbuch in Form eines Reiseberichtes hat Tim Parks verfasst. »Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna« machte er sich im Jahr 2019 auf und ging Garibaldis legendären Marsch durch den Apennin nach, der zentral für die Vereinigung Italiens war. Parks ergründet die Spuren der Vergangenheit, er durchstreift das historische und moderne Italien, beschreibt ausführlich das eigene Gehen sowie das, was im Jahr 1849 geschah. Garibaldi wollte die Niederlage in einen moralischen Sieg verwandeln und zog mit einem kleinen, rasch zusammengetrommelten Heer und seiner schwangeren Ehefrau Anita durch das Land, um den Kampf für die Unabhängigkeit fortzusetzen. Bis nach Ravenna gelangte er, es überlebten nur 250 Mann. Tim Parks, ein Engländer, der seit 1981 in Italien lebt und in Mailand literarische Übersetzung lehrt, vereint mit gekonnter Feder und leichtfüßig die eigene Geh-Erfahrung mit Garibaldis Flucht nach der Kapitula­tion der Römischen Republik und macht daraus etwas literarisch ganz Eigenes. Lesegenuss erster Güte.

Für die, die nicht nach Frankfurt reisen können oder möchten, um sich mit dem Thema Gehen auseinandersetzen oder inspirieren zu lassen, gibt es glücklicherweise Bücher, die reale und geistige Welten durchwandern, das Gehen zum Mittelpunkt haben und möglicherweise auch zum Gehen anregen.
Martin Burger, Jahrgang 1971, Botaniker und Publizist, Chefredakteur einer medizinischen Fachzeitschrift und seit seiner Jugend passionierter Geher und »Landstreicher«, hat einen ganz besonderen Wanderführer verfasst, der nämlich nicht nur neue Wanderrouten über alte Straßen und Wege vereint, sondern fast selbst so etwas wie Literatur ist. Burger erforschte sämtliche beschriebenen Wege genau. Mit Hilfe von alten Landkarten, Volkssagen, Hof- und Straßennamen machte er sich mit moderner Karte, Kompass und Kamera auf den Weg, um alte neue Wege zu beschreiten. Man folgt ihm auf Routen, denen das Eisen, die Römer, das Gold oder der Wein ihren Namen gaben, zwischen Niederösterreich, dem Burgenland, der Steiermark und Kärnten bis nach Aquileia im italienischen Friaul-Julisch-Venezien. Der gehbegeisterte Autor bietet Tagestouren an, oft Rundrouten, die an den Ausgangspunkt zurückführen, mit allen Informationen, die man als Wandernde/r so braucht. Das Schönste aber sind die Beschreibungen, die Fakten, Historisches und Persönliches vereinen. Dieses reich bebilderte, ansprechende Buch ist Wanderführer und Schmökerbuch zugleich, das höchstes Lesevergnügen beschert. Und Lust macht, selbst aufzubrechen. Sofort!

Sehr weit fasst das »Gehen« die Lyrikerin und Schriftstellerin Ursula Krechel in ihren Essays. Ein Teil ihres aktuellen Essaybandes ist dem Gehen gewidmet, in sämtlichen, auch übertragenen Bedeutungen. Krechel räsoniert über das Gehen, über das Sterben, über das Anhalten und Weiterleben. Sie verbindet hier einzelne Versatzstücke und Gedanken zu einem stimmigen Ganzen. Sie geht etwa Casanovas »Gangart« nach, erzählt von seinen Reisen, von seinem Verweilen. Verbindet das Erzählen von Historischem stets mit Intimem, Aktuellem. Sie dringt tiefer ein in die preußische Geschichte und philosophiert auch über das Rückwärtsgehen. Krechels Texte machen staunen, sie lassen innehalten und aufsaugen zugleich, atemlos durchschreitet sie ihre Räume und steht nie still. Der Geist begibt sich hier auf Reisen und macht sich auf, zu gehen. Starke Texte für die Sinne.

Martin Burger
Gehen auf alten Wegen in den Süden. Auf den Spuren von Händlern, Abenteurern und Alpinisten …
Styria, 192 S.

Tim Parks
Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna
Kunstmann, 432 S.

Ursula Krechel
Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen. Essays
Jung und Jung, 480 S.

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