Die deutsche Autorin Christine Wunnicke ist eine einzigartige Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur und dabei eine der stillsten. Öffentliche Auftritte meidet sie inzwischen zur Gänze. Umso mehr freut es uns, dass sie der Buchkultur ein ausführliches Interview zum Erscheinen ihres wundersamen neuen Werks „Die Dame mit der bemalten Hand“ gegeben hat. Darin erzählt sie von ihrer Liebe zu historischen Stoffen, der Bedeutung von Geschichte für unser Leben heute und der Wichtigkeit, den eigenen latenten Rassismus bei sich selbst zu überprüfen. Foto: Volker Derlath/Süddeutsche Zeitung Photo.


Buchkultur: Wie kamen Sie auf die Geschichte des Carsten Niebuhr? Er gilt heute als jemand, der sich den ihm fremden Kulturen respektvoll angenähert hat (und vielleicht deshalb als Einziger der „Arabischen Reise“ überlebt hat). Worin, würden Sie sagen, liegt sein großes Verdienst? Was hat Sie daran fasziniert, erstaunt?

Christine Wunnicke: Am Anfang stand eher ein Interesse an der biblischen Realienforschung der deutschen Aufklärungstheologie, ihrer Modernität und ihrer Vermessenheit. Ich kam sozusagen über Michaelis zu Niebuhr. Der ursprüngliche Auftrag, mit dem die Expedition losgereist ist und an dem sie grandios und tödlich scheiterte, ist nicht so besonders respektvoll gegenüber fremden Kulturen. Es ist ein protestantisches Forschungsprojekt, das in muslimischen Ländern stattfindet, deren Bewohner eigentlich nur als „Zeugen“ für alttestamentarische Forschung herhalten sollen. Das ist im Grunde eine rechte Frechheit. Interessiert hat mich an Niebuhr seine persönliche Entwicklung auf dieser Reise, wie er sich immer mehr von dem ursprünglichen Auftrag befreit und einen immer offeneren Blick bekommt. Bombay ist da in gewisser Weise ein Wendepunkt.

Wie und wo finden Sie Ihre Geschichten? Oder ist es vielleicht umgekehrt: Finden die Geschichten Sie?

Ich habe natürlich ein bestimmtes Beuteschema, aber bei allen meinen Büchern, die direkt auf historischen Geschichten basieren, waren die Funde letztendlich Zufall. Bei „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ ein Irrlauf bei Google, bei „Katie“ eine Fußnote in einem Buch über Spiritismus, und bei der „Dame“ sah ich zufällig ein Foto des Observatoriums von Jaipur an einer S-Bahn-Werbetafel, als ich gerade über Carsten Niebuhr nachdachte und grübelte, warum er in Bombay wohl gesund wurde statt zu sterben wie seine Kollegen.

Woher rührt Ihre große Liebe zu historischen Stoffen?

Ursprünglich waren es wahrscheinlich schon eine Art Eskapismus und eine große Abneigung, meine eigene Lebenserfahrung literarisch zu verwursten. Über die Jahre habe ich dann gemerkt, dass ich in einer solchen Art von irgendwie revisionistischen historischen Erzählungen am besten zum Ausdruck bringen kann, was ich zum Ausdruck bringen will – wobei ich nicht mal genau in Worte fassen kann, was das eigentlich ist.

Ihre meist auf historischen Personen basierenden Geschichten sind dennoch äußerst gegenwärtig (und universell). Was können wir aus der Historie für die heutige Zeit „lernen“? Können wir aus Geschichte überhaupt lernen? Welche Bedeutung hat Geschichte für uns und unser Leben heute?

Die meisten heutigen Probleme sind ohne historische Perspektive gar nicht zu verstehen. Am meisten sollten wir aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen.

Sie haben eine große Vorliebe für orientalische, asiatische Stoffe. Haben Sie zu diesem Kunst- und Kulturraum eine besondere Beziehung?

Das sind völlig verschiedene Kulturräume. Ich interessiere mich seit Längerem für japanische (Kultur-)Geschichte. Die Länder, die Niebuhr bereist hat, waren mir dagegen wenig vertraut, da musste ich sehr viel von Null auf recherchieren. Das Einzige, wo ich relativ viel Vorwissen hatte, war indische Mythologie.

Musa und Niebuhr sind der Religion nicht unbedingt zugetan. Doch auch mit der Mathematik kommen sie nicht sehr weit. Wofür steht in diesem Zusammenhang die Insel Elephanta? Mit welchen Erkenntnissen gehen die beiden von dort weg?

Sie sind beide fromme Männer, Musa noch mehr als Niebuhr, und beide haben einen freien Geist. In den religiösen Zusammenhängen, in denen sie leben, ist das kein Widerspruch. Das ist auf der einen Seite ein aufgeklärter Protestantismus und auf der anderen Seite ein liberaler Islam in einer multikulturellen Situation. Musas Religion ist komplexer und schillernder als Niebuhrs unbegeisterte „Kinderfrömmigkeit“. Aber er meint seinen Haddsch schon ernst.

Nach Elephanta gibt es in meiner Geschichte eine Lücke. Die folgenden und letzten zwei Kapitel spielen mehrere Jahre später. Ich lasse absichtlich offen, mit welchen Erkenntnissen, in welcher Verfassung, in welcher Stimmung Musa, Niebuhr und Malik nach der Abfahrt von Elephanta in Bombay ankommen.

Wohin auch immer wir derzeit schauen: Wir laborieren immer noch an den Folgen des westlichen Überlegenheitsgefühls, -denkens, das wir versucht haben, mit Gewalt in alle Welt zu transportieren (Michaelis drückt das in Ihrem Buch sehr deutlich aus). „Die Dame mit der bemalten Hand“ ist ein schönes, zutiefst menschliches Beispiel dafür, wie es zu einer Verständigung zwischen den Kulturen trotz gegensätzlicher Auffassungen, Religionen, Traditionen kommen kann.

Ist vielleicht das die Aufgabe von Literatur, Sprache? Eine Verbindung zwischen den Menschen herzustellen – allen äußeren Unterschieden zum Trotz? Das Menschliche zu fördern, herauszustellen? Welche Aufgabe haben Literatur und Kunst heute in einer Welt, die von Krisen, Rechtsruck, Rassismus und Klimawandel gebeutelt wird? Darf Literatur auch „Flucht“ sein?

Ich glaube, dass jeder Mensch, der das Privileg hat, das zu können und zu dürfen, die Aufgabe hat, politisch Stellung zu beziehen und sich nach seinen Fähigkeiten auch politisch zu engagieren. Ich glaube aber nicht, dass das in der Kunst stattfinden muss, nur weil jemand Kunst macht. Politisch schlagkräftige Kunst, engagierte Literatur, die wirklich Nachdruck hat und im besten Falle auch faktisch etwas bewirkt, braucht ganz bestimmte Fähigkeiten, die nicht jeder hat. Ich zum Beispiel gar nicht mit meinen frei flottierenden ambivalenten Geschichten, die nie eine Lösung oder eindeutige Aussage haben. Politische Literatur muss man können, oder man sollte es bleiben lassen und sein Engagement an andere Stellen verlegen. Ich freue mich natürlich trotzdem, wenn gewisse humanistische Wünsche an die Welt, die ich habe, bei einem Buch durchscheinen (danke schön!).

Der amerikanische Rassismus, das Versagen Europas in der Flüchtlingssituation: Was können wir gegen systematischen Rassismus tun? Was können wir tun, um ein breites Verständnis zwischen den Kulturen, das Gemeinsame statt dem Trennenden zu fördern? Wie Empathie statt Fremdenfeindlichkeit stärken?

Die von Rassismus Betroffenen fragen, zu Wort kommen lassen, ihnen zuhören, ihnen Raum geben und auf alle einwirken, die diesen Raum zu vergeben haben. Das „Wir“ in solchen Fragen überdenken und überlegen, wen man damit meint, mit wem man sich, bewusst oder unbewusst, zu einem „Wir“-Gefühl zusammenschließt, und mit wem vielleicht doch nicht. Immer erst den eigenen latenten Rassismus überprüfen, bevor man sich um den systemischen kümmert.

Wie kann das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen, ein multikulturelles Zusammenleben, Miteinander gelingen? Wohin auch immer wir derzeit schauen – Flüchtlingssituation in Europa, die schrecklichen Bilder aus Griechenland, Rassismus in den USA –, scheint es ja leider nicht zu funktionieren.

Was für eine schwere und weltumfassende Frage – wenn ich glauben würde, das auch nur annährend beantworten zu können, würde ich gewiss keine Romane schreiben, sondern wäre in der Politik. Es sind wohl nicht in erster Linie misslungene Kulturberührungen, die zu diesen Schrecklichkeiten führen, sondern eine unfaire Verteilung von Macht, Teilhabe und Ressourcen. Musa und Niebuhr tun sich leicht miteinander, weil sie beide an interkulturelles Miteinander und Durcheinander gewöhnt sind und davon profitieren, weil sie neugierig, weltoffen und keine Fanatiker sind; aber in erster Linie wohl leider deshalb, weil zwischen ihnen kein Machtgefälle besteht und sie um nichts konkurrieren. Vielleicht spielt die Geschichte deshalb auf einer Insel?

Haben Sie Sorge, dass die Gefahr von Nationalismus und Rechtsruck infolge der Coronakrise noch zunehmen wird? Oder haben Sie die Hoffnung, dass diese Krise zu einer sozialen Solidarität führen könnte?

Ich hatte schon vor der Coronakrise die Sorge, dass das immer weiter zunimmt, und nein, diese Hoffnung habe ich nicht. Vielleicht, hoffentlich schadet die Pandemie einzelnen (Proto-)faschisten, z. B. Trump oder unserer AfD, aber dass dadurch die Welt zur Vernunft kommt, glaube ich leider nicht.

„Die Dame mit der bemalen Hand“, „Die Kunst der Bestimmung“: Das Bestreben, alles zu vermessen, zu bestimmen, lässt uns oft das Wesentliche, Naheliegende nicht mehr sehen, erkennen. Ihr Wort dazu?

Das Vermessen, Bestimmen, Erforschen ist so ein menschliches Grundbedürfnis. Das machen schon kleine Kinder. Es ist wahrscheinlich auch oft eine Angstabwehr. In meinen Geschichten nimmt das Bestimmungsbedürfnis oft sehr zu, wenn sich jemand fürchtet. Da fängt Chrysander in der „Kunst der Bestimmung“ an, ziellos Ratten zu sezieren, und Musa, der das alles gut durchschaut, zwingt Niebuhr, die Sterne am Himmel zu nummerieren, um ihn von seiner Todesangst abzulenken. Was ist das Wesentliche? Das wissen wir alle nicht. Da kommt wahrscheinlich wirklich so eine Art Religion hinein? Vielleicht ist Michaelis’ heißer Wunsch, das Alte Testament botanisch-zoologisch-geographisch-mathematisch-meteorologisch-atronomisch-philologisch festzunageln, auch so ein angstabwehrender Glaubensumweg? Er erzählt in seiner Lebensbeschreibung, seine Religion sei „ängstlich“ gewesen, bevor er sich der Wissenschaft zuwandte. Er verbindet das nicht mit der arabischen Expedition, aber ich musste an diesen Satz viel denken, als ich das Buch geschrieben habe.

Was sagen Sie zum Literaturbetrieb, wie er sich heute darstellt? Junge Autor/innen werden fast wie Models vermarktet, damit man ihre Bücher besser verkaufen kann. Inwieweit kann man sich als Autorin, als Autor heute dem lauten Betrieb verweigern? Wie schwer ist das?

Ich bin ein sturer alter Hase, ich habe einen Verlag, der das mitträgt, und ich habe nie versucht, mich allein vom Bücherschreiben zu ernähren – deshalb funktioniert das für mich hervorragend. Jungen Autor*innen, die so publikumsscheu sind wie ich, würde ich wahrscheinlich empfehlen, ihre Berufswahl noch mal zu überdenken.

Der Bachmann-Wettbewerb scheint da geradezu exemplarisch für den heutigen lauten Literaturbetrieb zu sein. Sie wurden einmal eingeladen und haben abgelehnt – Sie würden nie an einer solchen Veranstaltung teilnehmen? Weshalb?

Ich trete überhaupt nicht mehr öffentlich auf, es gefällt mir nicht, es macht mir Angst und ich habe dafür kein Talent.

In Ihrer fast gespenstischen Geschichte „Serenity“ gerät ein Philosophieprofessor plötzlich in die Fänge einer anderen „Realität“, in die Scheinrealität des Internets. Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen klagen, dass durch das Internet und die sozialen Netzwerke die erzählende Sprache verkümmert. Ist das so? Welche Auswirkungen haben die neuen Medien auf unsere Sprache, auf unser Leben?

Ja dann sollen die Kolleg*innen halt nicht dauernd im Netz rumhängen, wenn davon ihre Sprache verkümmert 🙂 Ich habe da überhaupt keine Sorge. Die Art und Weise, wie das Internet linguistische Prozesse beschleunigt, fasziniert mich. Man kann Sprachentwicklungen in Echtzeit zuschauen, das ist toll.

Beim Lesen Ihrer Romane spürt man die Freude, die Sie beim Schreiben empfinden. Was bedeutet Schreiben für Sie? Wussten Sie schon als junger Mensch, dass Sie Schriftstellerin werden wollten? Wie schwer ist es, vom Schreiben alleine zu leben?

Ich habe schon Geschichten „geschrieben“, bevor ich schreiben konnte, aber Schriftstellerin wollte ich nie werden. Ich hatte als Kind eine ganz scheußliche Vorstellung davon, wie „Schriftstellerinnen“ sein müssen, irgendwie ganz zerquält und geisteskrank. Es kann durchaus sein, dass ich bis heute nicht Schriftstellerin werden will!

Ohne Bestseller und ohne öffentliche Auftritte/Aufenthaltsstipendien/Literaturpädagogik etc. pp. ist es so gut wie unmöglich, vom Bücherschreiben zu leben.

Sie arbeiten auch als Übersetzerin? Inwiefern befruchtet diese Arbeit auch Ihr Werk?

Beim Übersetzen muss man simultan in zwei Sprachen denken. Das ist eine Hirngymnastik, die bei allem anderen hilft.

Es entsteht gerade eine Fülle von „Corona-Romanen“, die glauben, sehr rasch auf die Situation reagieren zu müssen. Geht das überhaupt? Was halten Sie von solchen literarischen „Schnellschüssen“?

Solange ich sie nicht schreiben und nicht lesen muss, nur zu!

Meister Musa rettet Niebuhr durch das Erzählen von fantastischen, märchenhaften Geschichten, durch Poesie das Leben. Hat Literatur lebensrettende Kraft? Wie wichtig ist Sprache für Sie persönlich? Ist sie das universell verbindende Element zwischen den Menschen, Kulturen? Was ist das Besondere an der persischen Poesie? Mochten Sie schon als Kind (orientalische) Märchen, welche Bücher haben Sie als Kind gern gelesen?

Was für eine schöne Deutung, warum Niebuhr nicht sterben muss! Ich wüsste noch ein paar andere, aber die behalte ich für mich. Warum Niebuhr gesund wird und weiterreisen darf, ist eine der offenen Fragen in dieser Geschichte. „Es ist alles ein Rätsel und ich muss es nicht lösen.“

Ich bin nicht sehr bewandert in persischer Poesie. Die beiden „Märchen“, die Musa erzählt („Die auf die Erde geklatschte Mathematik“ und „Der Dschinn und die Peri“), sind islamisch und astronomisch überformte, ganz zentrale Erzählungen des Hinduismus. Auch einige der Dichterworte, an denen Musa nicht geizt, sind keinesfalls persisch. Musa ist ein Kosmopolit.

Ich habe als Kind alles gelesen, was mir in die Finger kam. Als ich die „Dame“ fertiggeschrieben hatte, fiel mir auf, dass da mein absolutes Lieblingsbuch als junger Teenager, Potockis „Handschrift von Saragossa“, ein bisschen hineingespielt hatte. Das ist auch eine „falsche“ orientalische Erzählung mit viel Religionswirrwarr und viel Mathematik. Ich hatte das beim Schreiben gar nicht gemerkt. Es hat mich gefreut, weil das wirklich so ein großartiges Buch ist.

Haben Sie (noch) Hoffnung, dass Literatur, Kunst die Welt zum Besseren hin verändern können?

Ich werde immer Hoffnung haben, dass irgendetwas die Welt zum Besseren verändert, aber Literatur und Kunst werden das nicht sein, fürchte ich.

Christine Wunnicke wurde 1966 in München geboren, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Linguistik, Altgermanistik und Psychologie in Berlin und Glasgow. 1998 erschien das Romandebüt „Fortescues Fabrik“. Ein Auszug daraus erschien später unter dem Titel „Missouri“. Es folgen u. a. die Romane „Jetlag“, „Die Kunst der Bestimmung“, „Selig & Boggs. Über die „Erfindung von Hollywood“, „Katie“ sowie die Novelle „Nagasaki, ca. 1642“. Ihre Biografie des Kastraten Filippo Balatri („Die Nachtigall des Zaren“) ist ein spannendes Stück Musikhistorie.


„Die Dame mit der bemalten Hand“ (Berenberg), 168 S.

„Katie“ (Berenberg), 176 S.