Der amerikanische Südwesten im 19. Jahrhundert ist die eigentliche Hauptperson in Téa Obrehts zweitem Roman „Herzland“. Eine Mischung aus Western, Historie, Magischem Realismus, Legende und Liebesgeschichte. Großartig! Foto: Ilan Harel


Buchkultur: Sie wurden in Belgrad geboren, flüchteten vor dem Krieg in die USA, leben nun in New York: Was hat Sie dazu motiviert, einen Roman über den Amerikanischen Südwesten zu schreiben? Was macht den Mythos dieser Landschaft und Zeit aus? Weshalb ist dieser Mythos immer noch so präsent in der Kultur Amerikas, obwohl er auf der Ermordung der indigenen Bevölkerung begründet ist?

Téa Obreht: Wenn man als Immigrantin aufgewachsen und so oft umgezogen ist wie ich, ist man immer ein bisschen eine Außenseiterin. Egal, wo man landet oder für wie lange. Da ist immer ein Gefühl, nicht ganz eins zu sein mit einem Ort oder seiner Geschichte. Und ich fühlte mich immer ein bisschen entfernt von meiner Wahlheimat, bis ich begann, Zeit im Westen zu verbringen. Abgesehen davon, dass ich beeindruckt war von der Landschaft Wyomings, Arizonas und Texas’, war ich gefesselt von der komplexen Geschichte und regionalen Überlieferung, der Spannung zwischen wahrer Historie und romantischem Mythos. All das kam zusammen in einem tiefen, seltsamen Gefühl der Heimkehr – endlich angekommen zu sein an einem Ort, der als Art Mitte fungierte. Das Gefühl selbst war überwältigend, beunruhigend und unbekannt und stand in scharfem Kontrast zu Gesprächen über Wissen und Zugehörigkeit, die ich mit Familienmitgliedern, besonders meiner Großmutter, hatte. Ich wusste also, dass es in meinem nächsten Projekt darum gehen musste. Aber ich war nicht sicher, welche Geschichte ich erzählen könnte oder sollte oder überhaupt erzählen wollte, bis ich die Legende des „Red Ghost“ von Arizona entdeckte. Es war diese bizarre, außergewöhnliche und letztlich wahre Legende über eine nächtliche Konfrontation zwischen zwei Siedlern und einem großen, zottigen, roten „Biest“ – das tatsächlich eines der Kamele war, das die US-Armee aus dem Osmanischen Reich hergebracht hatte, um bei der Erkundung der südwestlichen Gebiete in den 1850er-Jahren zu helfen. Ich konnte nicht glauben, dass ich nie zuvor vom U.S. Camel Corps oder dem Red Ghost gehört hatte. Es rührte an eine Frage, die mich immer faszinierte: Was braucht es, damit eine Geschichte den Lauf der Zeit überlebt? Wer wird aus der Legende weggelassen – und weshalb? Das spricht Ihre zweite Frage an: Amerika hat eine nationale Neigung dazu, die Lichtpunkte seiner Geschichte zu feiern und die Dunkelheit zu verstecken. Es gibt sehr wenig Infrastruktur für eine allumfassende historische Wahrheit. Und so landen wir letztendlich beim Cowboy-Western als nationalem Mythos: Das ist eine Geschichte über Selbsterfindung, Überleben und Triumph, einfach und hell. Geschichten, die dieses einfache Leuchten verkomplizieren – Geschichten über „Rasse“, Geschlecht und Klassenkämpfe, die den Amerikanischen Westen gemacht haben und Amerika heute weiterformen –, wurden durch Zeit, Kultur und durch die landschaftliche Pracht verwischt und abgeschliffen.

Was bedeutet Heimat, Identität für Sie? Was ist das Kamel Burke für Lurie?

Darüber denke ich unentwegt nach, und die präziseste Antwort, die ich geben kann, ist: Sicherheit. Heimat ist ein Gefühl der tiefen Sicherheit, eines tief in den Knochen sitzenden Wissens. Ich getraue mich nur sehr wenige Verallgemeinerungen über Menschen zu machen –, aber ich glaube, dass die meisten Immigranten –, egal, woher sie kommen und wohin sie gehen –, ein Leben lang darum kämpfen, sich an einem Gefühl der Sicherheit festzuhalten. Das kann viele Formen annehmen – wirtschaftliche, strukturelle, berufliche, psychologische, kulturelle. Aber auf die eine oder andere Weise nimmt einem Vertreibung, Umsiedlung die Sicherheit. Das gilt für Lurie und Burke – Burke ist Luries Heimat, die eine Sache, derer sich Lurie absolut sicher ist in einer sich ansonsten verändernden Welt. Die eine Sache, die er um jeden Preis schützen muss.

Wofür steht das Wasser –, oder noch wichtiger: der Mangel an Wasser –, im Roman?

Schon in einer frühen Phase des Schreibprozesses wurde mir klar, dass es ein Buch über Isolation wird. Luries und Noras Antwort auf die Belastungen der Umwelt war entscheidend für die Entwicklung ihres Gefühls der Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Als moderne Menschen haben wir den Luxus, Schönheit über alles zu stellen, wenn wir uns die amerikanische Landschaft vorstellen oder ausmalen. Aber spielt es eine Rolle, dass dein Zuhause wunderschön ist, wenn du nicht weißt, wo dein nächster Schluck Wasser herkommt? Und wie formen diese Ungewissheit, dieser Druck Menschen und die Entscheidungen, die sie treffen? Und so wurden Wasser und dessen Fehlen der fundamentale Faden des Buchs. Und, letztendlich, ist es das, was Lurie und Nora zueinanderfinden lässt.

Noras Tochter starb an den Folgen eines Hitzschlags. Nichtsdestotrotz fühlt sich Nora emotional stark an das Land gebunden. Weshalb? Woher kommt ihre Wut? Hat die Isolation sie hart gemacht? Ist sie eine starke Frau? Stimmt es, dass Ihre Großmutter eine Art Vorbild für die Figur der Nora war?

Eines der bemerkenswertesten Dinge des Lebens auf Erden ist dessen Fähigkeit, in rauen Umgebungen zu überleben; Menschen tun das unter anderem – wohl oder übel –, indem sie tiefe emotionale Bindungen an eine Landschaft entwickeln. Sogar, wenn es wahrscheinlich ist, dass diese Landschaft sie töten wird. Noras Verhältnis zu einem Zuhause, zu Heimat ist sehr kompliziert: Sie fühlt sich eingesperrt auf der Ranch, aber sie hat große Angst, die Farm zu verlassen, weil sie glaubt, dass ein Fortzug das Band zwischen ihr und ihrer toten Tochter zerreißen könnte. Nora möchte bewahren, was sie aufgebaut hat, ihr Gefühl der Sicherheit. Dieser Wunsch nach Schutz und Erhaltung kam in den Tagebüchern von Siedlerinnen, die ich während meiner Recherchen zum Roman las, oft zur Sprache; und natürlich erinnerte es mich an meine Großmutter. Sie wurde in den 30ern in Mostar geboren. Sie war eine Muslimin, die in einen christlichen Haushalt einheiratete, ehe die Dinge ethnisch riskant wurden. Sie wuchs arm auf und arbeitete unglaublich hart. Sie wurde früh aus der Schule herausgerissen, weil ihre Eltern dachten, sie würde eines angeborenen Herzfehlers wegen nicht sehr lange leben. Sie verlor zwei Kinder, als sie eine junge Braut war. Schließlich verlor sie das Land, in dem sie aufgewachsen war. Gegen Ende ihres Lebens hin kochte sie vor Wut; trotzdem spielte sie viele der Jahrzehnte lang, die ich sie kannte, die Rolle der fröhlichen, liebenden, strengen, vernünftigen Matriarchin. Und weshalb? Nicht, weil sie ihr ganzes Leben lang nicht wütend gewesen wäre, sondern weil sie eine Barriere aufziehen wollte, um diejenigen, die sie liebte, vor ihrem Ärger, ihrer Einsamkeit und Traurigkeit über all die Dinge, die ihr genommen worden waren oder die ihr nicht einmal zur Verfügung gestellt worden waren, zu schützen. Und diese Vorstellung von privater Wut, einer Wut, die privat gehalten wird, bildet wirklich die Grundlage für Nora.

Die Toten, die „anders Lebenden“, wie Josie sie im Buch nennt, sind in Ihren Romanen omnipräsent. Glauben Sie an Geister? Machen Sie einen Unterschied zwischen der realen und der spirituellen, imaginierten, surrealen Welt?

Ich glaube absolut an Geister. Ich bin fasziniert davon, wie der Glaube in der Geschichte und der Gesellschaft funktioniert, fasziniert davon, wie wir uns gegen das Übernatürliche nicht nur wehren, sondern auch danach verlangen. Ich bin auch verwirrt von den Fundamenten meines eigenen Glaubens, die sich ständig ändern. Das zeigt sich stark in meinem Schreiben. Viele meiner Charaktere befinden sich am Kreuzpunkt irgendeiner Form des Glaubens. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass der Western ein großartiges Genre ist, um das zu erforschen: Denn diese Periode der amerikanischen Geschichte war von Küste zu Küste gekennzeichnet von einem starken Aufeinanderprallen von Technologie und Spiritualismus, was Noras und Luries Wahrnehmung des Übernatürlichen und Beziehung zum Übernatürlichen sicherlich formen würde.

Hat die Erfahrung der Fragilität des Lebens, die Erfahrung des Todes, die Ihre Protagonisten machen, etwas mit der Geschichte Ihrer Familie zu tun, die die Brüchigkeit und Fragilität eines Staates, einer Nation, von Religionen und Ethnien erfahren musste?

Ich bin sicher, dass es etwas damit zu tun hat –, und auch damit, dass die balkanische Folklore sehr von Tod, Fragilität und der Unsicherheit des Lebens beeinflusst ist.

Sie verließen Belgrad im Alter von sieben Jahren, zu Beginn des Krieges. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit? War Ihre Familie Feindlichkeiten wegen ihrer ethnischen Herkunft ausgesetzt? Ihre Großeltern kehrten nach Kriegsende nach Belgrad zurück? Erlauben Sie mir die Frage: Gab es Opfer in Ihrer Familie? Wie hat Ihre Familie die NATO-Bombardements erlebt?

Wie viele Kinder des ehemaligen Jugoslawien wuchs ich im ganzen Land auf. Meine stärksten Erinnerungen sind überall verankert: in Belgrad, meiner Heimatstadt; in Mostar, wo die Familie meiner Großmutter wohnte; an der kroatischen Küste, wo die ganze Familie Sommer verbrachte. Weil wir so weit verstreut waren, befanden sich die meisten Familienmitglieder zeitweise, während verschiedener Phasen des Krieges, im Belagerungszustand oder unter Bombardement. Jede Überlebensgeschichte ist verschieden und zutiefst persönlich.

Sie wuchsen in Belgrad, Zypern, Kairo, Atlanta, Kalifornien auf. Wie hat Sie das beeinflusst? Fühlten Sie sich willkommen geheißen? Waren Sie jemals Vorurteilen wegen ihres Immigranten-Status ausgesetzt?

Ich hatte das Glück, in einem Haushalt aufzuwachsen, wo jeder Umzug als Abenteuer behandelt wurde. Da gab es ein Gefühl des Staunens über die Welt und ein Gefühl dafür, ein Zuhause an neuen Orten zu schaffen und neue Kulturen durch ihre Geschichten kennenzulernen – was sicher dazu geführt hat, dass ich schreiben wollte. Was die Vorurteile betrifft: Ich bin blond und spreche gut Englisch. Als ich mit britischem Akzent sprach, ging ich als Britin durch; nun gehe ich als gebürtige Amerikanerin durch, und das hat mir vieles von dem erspart, wie meine Cousins und andere Familienmitglieder, die anders aussehen und sprechen als ich, behandelt wurden – das schließt meinen Bruder mit ein, der tatsächlich in Amerika geboren wurde.

Sie kamen als Zwölfjährige in die USA. Sie schreiben auf Englisch. Wie ist es möglich, eine so hohe sprachliche und literarische Qualität zu erreichen, wenn man die signifikanten Jahre seiner Kindheit und Jugend in anderen Ländern verbracht hat? Fühlen Sie sich heute als Amerikanerin? Ist Englisch die Sprache, in der Sie sich zuhause fühlen?

Nun, danke für diese netten Worte, sie bedeuten mir viel. Ich fühle mich am meisten zuhause, wenn ich auf Englisch schreibe, und ich liebe diese Sprache. Aber jetzt, da ich älter werde, ertappe ich mich immer öfter dabei, dass ich das, was ich für das „perfekte“ Wort oder die „perfekte“ Beschreibung halte, aus meiner Muttersprache übersetzen muss, die Zeitwörter flexibler behandelt als das Englische. In der serbischen Sprache kann man fast jedes Hauptwort ändern, sodass es ein informelles Zeitwort wird, das nicht den grammatikalischen Regeln entspricht, und damit hatte ich großen Spaß bei „Herzland“. Ich bin eine eingebürgerte Amerikanerin, aber ich bin immer noch nicht sicher, was es heißt, sich wie eine zu fühlen. Ich habe nun länger in New York gelebt als irgendwo sonst in meinem Leben: acht Jahre, was, wie jeder New Yorker dir erzählen wird, nicht annähernd lange genug ist, um als echte New Yorkerin zu gelten. Das ist die große emotionale Krise der Immigration: Es braucht keine lange Abwesenheit von deinem Heimatland, um ein Outsider zu werden; aber es braucht so viel, um an einem neuen Ort ein Insider zu werden. Das hat mich sehr beschäftigt, und das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb Umsiedlung, Vertreibung und die Suche nach Heimat so zentral in „Herzland“ sind.

Unglücklicherweise erzeugen rechte und nationalistische Parteien weltweit ein Klima der Angst und der Vorurteile gegenüber Migranten. Amerika ist ein Land gemischten Ursprungs, ein Land von Immigranten. Trotzdem machen es Trumps Migrationspolitik und restriktive Asylgesetze bedürftigen Immigranten fast unmöglich, einzureisen. Wie sehen Sie das alles? Wie können wir Empathie stärken statt Fremdenfeindlichkeit und Angst? Was erhoffen Sie sich von den nächsten US-Wahlen?

Es ist ein erschreckendes und, wie Sie sagen, weltweites Problem. In erster Linie hoffe ich, dass wir es schaffen, eine progressive Koalition zu etablieren, die stark genug ist, im Herbst das Weiße Haus zurückzuerobern. Aber wenn 2020 wirklich ein Demokrat gewinnt, ist es genauso wichtig, dass wir nicht anfangen, uns gegenseitig auf den Rücken zu klopfen und einander zu gratulieren und vorzugeben, dass ein einziger Sieg bedeutet, dass der Job getan ist und wir alle nach Hause gehen können. Welcher Warnruf auch immer zu den progressiven Amerikanern durchgestoßen ist, als Trump 2016 gewählt wurde, sollte eine dauerhafte Warnung sein, ein konstantes Echo. Amerikaner müssen weiterhin verantwortungsbewusst und unablässig mit der Tatsache rechnen, dass unser Land zutiefst gespalten ist, und dass viele Maßnahmen und Einstellungen Immigranten und People of Color gegenüber, wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Klimawandel schon vor der Trump-Präsidentschaft bestanden und ihn auch überdauern werden. Die Rückeroberung des Weißen Hauses wird uns nicht automatisch in eine bessere Zeit zurückversetzen. Wir müssen wachsame und tief engagierte Bürger sein, gewillt, uns selbst die Wahrheit zu erzählen über unsere Vergangenheit und unsere Zukunft. Ansonsten ist die Gefahr für unsere Zukunft unabsehbar.


Téa Obreht wurde 1985 in Belgrad, damals Jugoslawien, geboren. Obreht ist der Name ihres Großvaters. 1992 emigrierte sie mit ihrer Familie vor dem Krieg zunächst nach Zypern, dann Kairo und schließlich in die USA, wo sie heute lebt. Ihr Debütroman „Die Tigerfrau“ (2011) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und gewann den Orange Prize for Fiction. In „Herzland“ interpretiert sie den amerikanischen Gründermythos neu. Obreht lehrt Creative Writing am Hunter College in New York und demnächst in Texas.


„Herzland“ (Rowohlt Berlin)
Übers. v. Bernhard Robben, 512 S.

„Die Tigerfrau“ (Rowohlt Berlin)
Übers. v. Bettina Abarbanell, 416 S.