Ein im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichneter Roman der nordirischen Schriftstellerin Anna Burns, der männlichen Machtmissbrauch und weiblichen Widerstand in den Mittelpunkt stellt.

In ihrem im Jahr 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Milchmann“ führt uns Anna Burns in das gespaltene Nordirland der 1970er-Jahre. Die namenlose Ich-Erzählerin erinnert sich in einer aufwühlenden Retrospektive an Vorkommnisse in einer nicht näher benannten Stadt, in der aufgrund des Konflikts mit den Briten Ausnahmezustand herrscht. Die damals Achtzehnjährige wird beim „Im-Gehen-Lesen“ von einem Anfang vierzigjährigem Mann angesprochen.

Ein scheinbar harmloser, aber subtiler Anmachversuch, der das Leben der Hauptfigur nachhaltig verändert. Der Mann entpuppt sich als ranghoher Paramilitär, der der Protagonistin in den folgenden Wochen regelmäßig nachstellt, ohne körperlich übergriffig zu werden. Von noch wesentlich negativerer Bedeutung für die Reputation der Erzählerin erweist sich indes der Umstand, dass vermutlich Schwager Eins – alle Hauptfiguren des Romans sind namenlos und werden von Anna Burns begrifflich und notfalls numerisch zugeordnet – ihr eine Affäre mit „Milchmann“, wie der ominöse Fremde von allen genannt wird, andichtet. Ein Gerücht, das eine Eigendynamik entwickelt und gegen das Anna Burns’ Heldin machtlos gegenübersteht. Ob sie nun leugnet, schweigt, oder die Wahrheit sagt, alles wird gegen sie ausgelegt.

Anna Burns erzählt die Geschichte des späten Erkennens, die Geschichte von Macht und Machtmissbrauch sowie des weiblichen Widerstands in einer patriarchisch dominierten Gesellschaft in einer Zeit voller Gewalt, Misstrauen, Hass und Paranoia. Trotz zahlreicher Wiederholungen und der Bewahrung der für die Zeit und Ort des Romans typischen Vagheit, einer Zeit, in der Verdächtigungen und Mutmaßungen die Tagesordnung beherrschten, hat die 1962 in Belfast geborene Autorin ein inhaltlich komplexes und stilistisch herausforderndes, insgesamt hervorragendes Buch verfasst.

Anna Burns, „Milchmann“ (Tropen),
Übers. v. Anna-Nina Kroll, 448 S.