Shida Bazyars zweiter Roman »Drei Kameradinnen« ist eine differenzierte Verhandlung des Rassismusbegriffs, eine präzise, in der Gegenwart verankerte Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die den rechten Terror nicht verhindert, und er ist ein kluges Spiel mit der Deutungshoheit. Mit Buchkultur sprach die Autorin anlässlich der Coverstory von Ausgabe 195. Foto: Tabea Treichel.
Wie fühlt sich das Leben in Deutschland, nach Halle, nach Hanau, für Sie im Augenblick an?
Schräg. Ich kann nicht fassen, welche institutionellen Fehler in Hanau gemacht wurden und wie sehr all das wieder dem ähnelt, was wir schon aus anderen Fällen kennen. Und gleichzeitig sind die Dinge dann doch auch wieder sehr anders, denn auf Seiten der Betroffenen hat sich eine Selbstermächtigung durchgesetzt, die beeindruckt. Die Überlebenden von Halle und die Angehörigen der Opfer von Hanau sind so präsent und erhalten so viel Solidarität, gleiches gilt übrigens auch für Angehörige anderer Anschläge, die noch immer nicht aufgeklärt worden sind. Die künstlerische Verarbeitung des NSU wird fortgesetzt und bewahrt die Namen der Opfer sowie ihre Würde, nach all der Zeit. Das alles wären eigentlich extrem bestärkende Tendenzen, wenn alles nicht so wahnsinnig traurig wäre. Ich finde Deutschland im Jahr 2021 unendlich verwirrend und verunsichernd. Aber immerhin fühle ich mich damit nicht allein.
In diesem Frühjahr erscheinen viele Romane von PoC, von Autor*innen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, von Autor*innen, die alltäglich Rassismus und Sexismus erleben und anprangern – Ihr Roman reiht sich da mühelos ein. Ist das ein gutes Signal, ein Schritt weiter in die richtige Richtung? Macht es Hoffnung, dass mehr von diesen Stimmen hörbar werden?
Das macht unglaublich viel Hoffnung, die Literaturlandschaft, die ich mit meinem ersten Roman 2016 betreten habe, war eine vollkommen andere als die heutige und das liegt an vielen wuchtigen, neuen Stimmen, die wir nun seit einigen Jahren entdecken dürfen. Verstörend bleibt dabei aber gelegentlich die Rezeption dieser mutigen Bücher, bei der teilweise immer noch die Tendenz aufzukommen scheint, diese Autor:innen zu subsumieren und ihre Bücher zu verallgemeinern. Das Wort „Migrationsliteratur“ fällt dankenswerter Weise nicht mehr, ich werde aber manchmal den Eindruck nicht los, dass es in den Köpfen und Rezensionszeilen nach wie vor mitschwingt. Dabei sind unsere Bücher so unterschiedlich; wir arbeiten literarisch genauso divers, wie wir Autor:innen es auch sind.
In Ihrem Text „Bastelstunde in Hildesheim“ erzählen Sie einerseits von einem Workshop, der Ihnen die eigene strukturelle Benachteiligung schmerzlich bewusst machte, andererseits davon, wie viele dieser Strukturen im Literaturbetrieb ganz genauso wirken. Gibt es da einen blinden Fleck, indem der Literaturbetrieb für aufgeklärter und „woker“ gehalten wird, als er tatsächlich ist?
Mit Sicherheit, ich würde in jeder „wokeness“ immer mit einem blinden Fleck rechnen und halte dieses Wissen darum auch für wahnsinnig wichtig. Wir sind alle in einem System groß geworden, welches auf diversen -ismen fußt und niemand von uns ist davor gefeit, diesen nachzugeben und völlig problematische Dinge für völlig gerechtfertigt zu betrachten. Ich glaube, dass sich im Literaturbetrieb gerade sehr vieles ändert und dass sich gleichzeitig noch sehr viel mehr ändern muss. Der diversen Autor:innenschaft stehen zum Beispiel nach wie vor eine recht homogene Kritiker:innenschaft und Verlagslandschaft gegenüber. Auffällig ist auch, dass wir „diversen Autor:innen“ alle einen akademischen Background mitbringen und meist schon vor dem Debüt publiziert oder durch wichtige Preise Aufmerksamkeit erhalten haben. Das lässt erahnen, dass da draußen nach wie vor eine Menge grandioser Autor:innen herumlaufen, die die Hürden zur Buchveröffentlichung nicht überwinden können, weil sie nicht über diese Zugänge verfügen. Es gibt also noch sehr viel zu tun. Dass die Begriffe „Literaturbetrieb“ und „woke“ aber überhaupt einmal in einem Satz fallen würden, hätte ich vor ein paar Jahren nie gedacht.
Sie erkennen nach einiger Zeit, dass es auch in Hildesheim Mitstreiter*innen gegeben hätte, die Ihre Anliegen, insbesondere, was Sexismus anbelangt, geteilt hätten. Bloß hat niemand darüber gesprochen. Wie können wir lernen, darüber zu sprechen und diese notwendigen Allianzen zu bilden?
Ich denke, dass wir alle sehr oft sehr viel mutiger werden müssen. Wir haben ja oft den Eindruck, wir würden jemanden auf einen persönlichen Fehler hinweisen, wenn wir Diskriminierungen thematisieren. Das macht es so schwer, Dinge anzusprechen und uns zu verbünden. Dabei sollte uns ja eigentlich immer klar sein, dass es gar nicht um Einzelpersonen und Einzeldelikte geht, sondern um ein System, in dem wir alle uns bewegen und das wir aufrecht erhalten, indem wir uns nicht reflektieren. Es entspringt ja auch diesem Fahrwasser, dass wir Alltagsdiskriminierungen im zwischenmenschlichen Miteinander oft als unser persönliches, übertriebenes Gefühl abwerten und wortlos schlucken. Meine Hoffnung, die ich aus der literarischen Verarbeitung dieser Mikroaggressionen schöpfe ist die, dass wir alle sensibilisierter und somit auch selbstbewusster werden. Damit wir eigene Verletzungen als solche anerkennen, aber auch, damit wir unseren eigenen Aggressor, der in uns schlummert, entlarven können.
„Nachts ist es leise in Teheran“ erzählte u.a. von der Flucht aus dem Iran, aber auch vom Leben in Deutschland und dem Umstand, dass man, selbst, wenn man hier geboren ist, immer einen Spagat hinlegen muss zwischen den Welten. Auch in „Drei Kameradinnen“ spielt das Fremdsein, bzw. eher Fremdgemachtwerden, eine entscheidende Rolle. Würden Sie sagen, dass das ein wesentlicher thematischer Kern Ihres Schreibens ist?
Ich würde jetzt irgendwie gerne nein sagen, denn das klingt nach einem wirklich traurigen Kern. Und ich würde gerne einfach sagen: Der Kern meines Schreibens sind doch ganz offensichtlich die Bündnisse – die familiären wie auch die selbst gewählten! Aber das wäre zu kurz gegriffen. Solange ich Figuren entwickle, die im Deutschland der Gegenwart agieren und die als nicht-weiß gelesen werden, wird das Fremdsein bzw. das Fremdgemachtwerden unausweichlich an diesem Kern haften. Insofern ist es dann doch ein thematischer Kern meines Schreibens, aber eigentlich ist es kein selbst gewählter.
Rassismus ist im Roman auch als internalisierter Blick der Anderen ersichtlich. So versucht etwa die Familie in der S-Bahn, besonders unauffällig zu sein, weil sie den Blick auf sie als „Fremde“ und die Erwartungen der Gesellschaft verinnerlicht haben. Gibt es überhaupt einen Ausbruch aus diesen Strukturen?
Ich fürchte nein. Das merke ich ja schon an mir selbst, wenn ich in der S-Bahn stehe. Oder wenn ich vollkommen selbstverständliche Situationen in meinem Alltag umgehe, aus Angst, eine weitere Rassismuserfahrung zu erleben. Dann gehe ich lieber noch mal vier Stockwerke in meine Wohnung und hole das 1-€-Stück für den Einkaufswagen, statt andere Menschen zu fragen, ob sie mir meinen 5-€-Schein wechseln können. Die Strukturen müssen sich ändern, damit wir uns in ihnen frei bewegen können. Die Personen, die selbst von ihnen betroffen sind, können diesen Kampf nicht in jeder Sekunde ihres Lebens führen, ohne dabei zu viele eigene Ressourcen herzugeben.
Der Text spielt strukturell mit diesen Erwartungen, indem er Leser*innen z.B. Informationen über die drei Freundinnen verweigert, die zu bestimmten Schlüssen über sie führen könnten. Man erfährt nie, woher Kasihs, Sayas und Hanis Familien stammen, um ihre Stereotypisierung zu untergraben. Ist das auch eine Form der Selbstermächtigung?
Auf jeden Fall. Der Roman spielt ja sehr offensiv mit der Frage der Deutungshoheit. Das ist ja das, was man Menschen, die von ihren Diskriminierungserfahrungen berichten, so schnell abspricht: Hast du das nicht falsch verstanden?/ Bist du da nicht zu sensibel?/Woher weißt du, dass es an deiner Hautfarbe lag? etc. Die Erzählerin Kasih erdreistet sich, diese Dinge als Erzählerin entscheiden zu dürfen und dazu gehört eben auch ihre sehr selektive Informationsvergabe. Kasih hält es für diese Geschichte nicht für relevant, „woher“ sie und ihre Freundinnen „kommen“. Und das ist es ja auch nicht.
Saya liest im Roman immer wieder die Protokolle eines Gerichtsprozesses gegen eine rechtsextremistische Gruppe (angelehnt an den NSU) und rechtsextreme Kommentare in sozialen Medien, sie will den Feind kennen. Das ist natürlich eine unbeschreiblich auslaugende Art, damit umzugehen. Wie gehen Sie selbst mit diesem Hass um, der immer sichtbarer wird?
Mir geht es da ähnlich wie Saya. Und ich weiß, dass es vielen anderen rassifizierten Menschen ähnlich geht. Wir wissen, dass es uns emotional auslaugt und dass es uns nicht stärkt, und trotzdem beschäftigen wir uns haarklein mit rechtem Terror. Saya begründet das damit, „den Feind“ kennen zu wollen. Mich persönlich interessiert „der Feind“ herzlich wenig, seine traurige Geschichte ist nicht mein Problem. Ich möchte viel mehr auf die Strukturen einer Gesellschaft hinweisen, die diesen rechten Terror nicht verhindern. Dass ich dabei meine Zeit mit der auslaugenden Auseinandersetzung mit rechtem Terror verschwende, liegt daran, dass ich es einfach immer noch nicht fassen kann. Dass der Glaube an eine völlig veraltete Rassenideologie der Grund ist, Menschen zu töten, ist so dermaßen absurd, dass ich ganz offensichtlich immer weiter und weiter suche, um etwas Zufriedenstellenderes zu finden. Das ist, Sie ahnen es vielleicht, völlig sinnlos. Wir können daraus den Schluss ziehen, dass rechter Terror genau das erreicht, was er will. Er verunsichert uns und hält uns davon ab, konstruktiveren Dingen nachzugehen.
Der Titel „Drei Kameradinnen“ verweist bereits entfernt auf einen Kampf, sie sind nicht nur Freundinnen, die miteinander aufgewachsen sind, sie kämpfen gemeinsam gegen die alltägliche Abwertung und Abweisung, die sie erleben. Und sie gehen ganz unterschiedlich damit um: Saya offensiv, Hani eher zurückhaltend, Kasih als Erzählerin oft sondierend und beobachtend. Die drei ergänzen sich gut. Sie haben mal selbst in einem Interview gesagt, dass Ihnen so eine Community fehlte, als Sie aufwuchsen.
Das, was ich meinen Figuren angedichtet habe, hatte ich selbst nicht, das stimmt. In meinem dörflichen, gymnasialen Umfeld gab es auch kaum nicht-weiße Personen, sonst hätte ich gewisse Diskriminierungen, die mir passierten, vermutlich nicht einfach übersehen. Für mich wurde erst als Studentin und nur durch das Engagement anderer Stipendiat:innen klar, mit was ich eigentlich mein ganzes Leben lang zu kämpfen hatte. Ich bin mir sicher: Hätte ich eine Community gehabt, wie die drei Kameradinnen sie haben, wäre ich für das Thema Rassismus viel sensibilisierter gewesen. Mit meinen weißen Freundinnen war damals immerhin das Thema Sexismus recht präsent, auch, wenn wir das Wort noch nicht kannten. Wir waren als Teenager noch immer geprägt von Tic Tac Toe, den Spice Girls und dem Film Bandits und hatten eine diffuse Radikalität gegen sexistische Blicke und Tendenzen entwickelt. Rückblickend glaube ich, wir waren eigentlich ziemlich aufgeklärt. Aber wenn das ein Feminismus war, den wir da verhandelten, dann war es eben doch ein sehr weißer Feminismus. Wie so oft.
Der Roman endet, indem er Leser*innen den Spiegel vorhält. Sie haben bereitwillig etwas geglaubt, das nicht der Wahrheit entspricht, sie sind Kasih gewissermaßen auf den Leim gegangen. Ein guter Ansatz, um die eigenen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, Vorurteile zu entlarven. Passiert das zu selten?
Auf jeden Fall. Die weiße Mehrheitsgesellschaft tut das ohnehin zu selten, das ist ja einer der Gründe, weshalb die AfD im Bundestag sitzt, rechte Anschläge nie zur Gänze aufgeklärt und Angehörige der Mordopfer wie Dreck behandelt werden. Und auch diejenigen, die öffentlich gegen rassistische Aussagen Stellung beziehen und völlig zurecht mit dem Finger darauf zeigen, klingen dabei leider oft so, als hätten sie keine internalisierten Rassismen im Kopf und als wäre es die reine Boshaftigkeit ihres Gegenübers und nicht vielleicht ein Fehler, den sie eventuell sogar einsehen würden. Wir halten uns da alle viel zu oft für unfehlbar und das sind wir nicht. Keine:r von uns.
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Shida Bazyar, 1988 geboren, studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit ihrem Debütroman »Nachts ist es leise in Teheran« (Kiepenheuer & Witsch) gewann sie unter anderem den Uwe-Johnson-Förderpreis und den Ulla-Hahn-Autorenpreis. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin als Autorin und Bildungsreferentin für Jugendliche für das Freiwillige Ökologische Jahr.
Shida Bazyar
Drei Kameradinnen
Kiepenheuer & Witsch, 352 S.
Shida Bazyar
Nachts ist es leise in Teheran
Kiepenheuer & Witsch,
288 S.