Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat nach einer Vielzahl differenzierter Sachbücher zu Themen des Feminismus und Postkolonialismus nun ihren ersten Roman geschrieben. In „Identitti“ wird eine Professorin für Postcolonial Studies, die sich als Person of Colour beschrieb, als weiß enttarnt. Sophie Weigand spricht mit der Autorin im Interview über Identität, Diskurskultur und wie sich die Gesellschaft neue Vokabel aneignet. Foto: Guido Schiefer.
Buchkultur: Liebe Mithu Sanyal, im Roman kulminieren ja gewissermaßen die Debatten der letzten Jahre. Wie und wann ist die Idee zu „Identitti“ entstanden?
Mithu Sanyal: Es wirkt wirklich so, als hätte ich eine Analyse der woken Diskurse gemacht, und dann daraus mein Thema destilliert. Tatsächlich ist der Kern der Idee – also die Freundschaft zwischen den beiden Cousinen Nivedita und Priti, bei der es darum geht, mit der anderen sichtbarer zu werden, nicht mehr das einzige braune Mädchen in einer vermeintlich weißen Gesellschaft zu sein – bereits vor über 20 Jahren entstanden. Dann saß ich vor 2 1/2 Jahren nachts an der dunklen walisischen Küste und brainstormte mit meinem Partner, wie daraus ein Roman werden könnte, und plötzlich war Saraswati da, die charismatische Professorin, die für Nivedita zum Rollenmodell wird: How to be Indian. Nur dass sich dann natürlich herausstellt, dass Saraswati in Wirklichkeit weiß ist.
Was bedeutet Identität für Sie?
Für Nivedita bedeutet es, Zugang zu dem Wissen über die eigene Geschichte zu erlangen. Als indisch-polnische Jugendliche und später junge Frau lebt sie in einer Art Vakuum, in dem Menschen wie sie vermeintlich nicht existierten. Erst in Saraswatis Seminar beginnt plötzlich all das, was sie vorher als Mangel wahrgenommen hat, Sinn zu machen. Nivedita hat damit immer noch keine feste „Identität“, sondern die Möglichkeit, sich selbst zu gestalten. Und darum geht es bei den ganzen Fragen von Identität(en) – wir haben ja immer mehr als eine – sie zu etwas Lebbarem zu machen, das sich verändert und wächst.
Die Identitätsfrage ist immer eng verknüpft mit der Frage nach Diskriminierung. Im Text heißt es an einer Stelle: „Diskriminierung ist keine begrenzte Ressource auf dieser Welt“. Tun wir in unseren Debatten manchmal so, als müssten wir uns um diese Ressource streiten?
Diskriminierung ist sichtbar – und in gewisser Weise messbar – während alles andere so schwer fassbar ist. Das beginnt schon mit der Sprache. Wir haben das Wort Rassismus im Deutschen, aber kein Äquivalent zu dem englischen race, das eben nicht Rasse bedeutet, sondern … und da fehlen mir schon wieder die Worte. Es geht dabei um den Einfluss des Konstruktes race auf das Leben von Menschen, und zwar nicht nur um die schmerzhaften, sondern auch um die verbindenden oder anderweitig prägenden Erfahrungen, die wir auf Grund von race machen. Das ist wie sex und gender, bei denen wir lange ja auch nur über Sexismus gesprochen haben und erst nach und nach die Perspektive erweitert haben. Und ich glaube tatsächlich, je mehr Wissen es gibt – und je mehr geteilte Sprache es gibt – desto offener und inklusiver werden auch die Debatten. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf race, sondern auf alle politischen Auseinandersetzungen. Zur Zeit lautet die Frage meist: Wie schlimm ist es? Und nicht: Wie wollen wir denn leben?
Die Causa „Saraswati“ basiert ja u.a. auf Rachel Dolezal, die 2015 in die Schlagzeilen geriet, weil sie weiß war und sich jahrelang in ihrer Position im NAACP als Schwarz identifiziert hatte. Was haben Sie damals angesichts des Falls und der Diskussionen empfunden?
Mich haben die Diskussionen um Rachel Dolezal mitten ins Herz getroffen. Wahrscheinlich, weil ich mich selbst immer als Hochstaplerin gefühlt habe, wenn ich gesagt habe: Ich bin deutsch – oder ich bin indisch – oder ich bin polnisch. Viele der Fragen, die Dolezal gestellt wurden, habe ich mir selbst mein Leben lang gestellt: Wer bin ich wirklich? Was ist Authentizität? Deshalb wollte ich mit Saraswati einen Rachel-Dolezal-Fall nach Deutschland holen und schauen: Was würde das hier bedeuten? Ich habe mich dann sehr bewusst dafür entschieden, Saraswati nicht als Schwarze leben zu lassen, sondern als PoC, weil das in Deutschland komplett anders verhandelt wird als in Amerika, wir aber den größten Teil unseres Wissens darüber – inklusive der Bezeichnung – aus dem englischsprachigen Raum importiert haben.
Mir persönlich fehlt bisweilen in Debatten der „benefit of a doubt“, wenn unbedachte Äußerungen getätigt werden. Nivedita gibt Saraswati im Roman, trotz aller Verletzung, den Raum, sich zu erklären. Wie wichtig war es für Sie, Saraswati als diese ambivalente Figur zu zeichnen?
Wahnsinnig wichtig. Das war auch die größte Herausforderung beim Schreiben. Deshalb bin ich so froh, dass Saraswati von den unterschiedlichen Leser/innen komplett anders wahrgenommen wird, einige hassen sie wirklich, andere … Es ist übrigens weniger Nivedita, die Saraswati Raum gibt, sondern Saraswati, die einfach dableibt, egal wie wütend Nivedita – und der Rest der Welt in dem Roman – auf sie ist. Das ist Saraswatis liebenswerteste Eigenschaft. Ansonsten ist sie brillant und übergriffig und narzisstisch und großzügig, aber vor allem sehr magnetisch. Nivedita wäre nicht so entsetzt von Saraswatis Betrug, wenn sie sie nicht so bewundert hätte. Und es geht mir um das komplexe Verhältnis zu Vorbildern, Mentor/innen, bei denen es ja – auch wenn das Verhältnis nicht wie bei Saraswati auf einer Lüge aufgebaut ist – immer irgendwann einen Moment der Entzauberung gibt.
Nivedita wird von Saraswati auch darauf hingewiesen, dass sie sich sehr wenig mit den polnischen Anteilen ihrer Herkunft beschäftigt, ganz im Gegensatz zum Kampf mit ihren indischen Wurzeln. Wird Rassismus manchmal verengt auf PoC gedacht? Ich denke da etwa an anti-asiatische Ressentiments, die in Zusammenhang mit Corona besonders sichtbar wurden.
Niveditas Auseinandersetzungen sind ein Spiegel dessen, wie sie wahrgenommen wird. Auf die Frage „Wo kommst du her?“ wollen die Leute in der Regel eben nicht hören „aus Essen“ oder „aus Polen“, entsprechend beschäftigt sich Nivedita vor allem mit ihrem Indisch-Sein oder eben nicht Indisch-genug-Sein. Das ist tatsächlich eine wichtige Auseinandersetzung für sie, aber es ist nicht die einzige wichtige Auseinandersetzung mit ihrer ererbten Geschichte. Es ging mir darum, diese Komplexität sichtbar und vor allem auch spürbar zu machen. Und das Wissen darüber mit zu bereichern, damit die Debatten breiter werden. Denn die Gefahr des Verengens ist ja eines der großen Probleme all unserer politischen Debatten. Einer Freundin von mir, die viel Diskriminierung als Kurdin erlebt, wird auf Twitter z.B. gerne vorgeworfen, dass sie doch total weiß aussieht.
Ihnen war es in Ihren Büchern immer schon ein Anliegen, machterhaltende Strukturen und ihre Geschichte sichtbar zu machen – bislang in Form von Sachtexten, die kulturell gewachsene Narrative einordnen. Warum ist das so, wo kommt das her? Warum weiß niemand, wie eine Vulva aussieht und wie kann es sein, dass wir „Vergewaltigung“ noch immer so genderstereotyp denken? Was hat Sie jetzt an einem Roman gereizt? Was kann im Roman besser gelingen?
Ich wollte die unterschiedlichen Stimmen hörbar machen und das ging nur mit dem Medium Roman. Dinge sind nicht einfach richtig oder falsch. Sie haben ihre spezifische Auswirkung auf uns nicht zuletzt, weil wir die Personen sind, die wir sind, und die Erfahrungen gemacht haben, die wir gemacht haben. Niveditas Komilitonin Oluchi ist viel unversöhnlicher als Nivedita, weil sie ganz andere Diskriminierungserfahrungen hat. Priti dagegen kann Saraswati nicht einfach verurteilen, weil sie direkt Mitschuld an ihrer Enthüllung trägt. Nivedita geht zu Saraswati und stellt sie zur Rede. Aber hätte sie das auch getan, wenn ihr Freund sie nicht gerade verlassen hätte? Wahrscheinlich nicht. Doch in diesem Gefühl von emotionalem Freifall sucht Nivedita bei der einzigen Person nach Antworten, die nichts lieber tut, als ihr alle Fragen zu beantworten. Allerdings macht Saraswati das auf Saraswati-Weise, die die Dinge nur noch komplizierter macht.
Sie haben für das Buch zum Teil extra Tweets anfertigen lassen, digitale Medien als Basis unserer Diskurse sind darin großes Thema. Wie erleben Sie unsere derzeitige Gesprächskultur, offline, aber insbesondere online? Wie könnten wir sie vielleicht besser und konstruktiver führen?
Die Tweets waren wahnsinnig großzügige Geschenke von Kolleg/innen und teilweise auch einfach von Menschen, deren Schreiben ich bewundere und die ich angefragt habe. Übrigens meistens auch über soziale Medien. Sie können also durchaus auch ein Medium der Solidarität und Kooperation sein. Aber natürlich habe ich Tweets und andere Online-Posts gewählt, da sich Empörung digital in einer ganz spezifischen Form ausdrückt. Zum einen, weil wir alle mitdiskutieren können, zum anderen, weil wir das Gegenüber nicht sehen und vor allem nicht mit seinen Verletzlichkeiten sehen können. Doch ich würde die Polarisierung gar nicht auf den digitalen Raum beschränken, da fällt sie nur mehr auf. Wir lernen in unserer Gesellschaft einfach nicht mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Dabei ist Streit – wie die Autorin Meredith Haaf so schön sagt – lebenswichtig und macht schlauer. Das ist ein Thema, an dem ich schon lange forsche und zu dem ich eines Tages ein Buch schreiben werde: Love Politics.
Sprache und ihre Gestaltungsmacht sind wichtige Themen in Ihrem Werk, das Unbenannte muss zwangsläufig auch unsichtbar bleiben – sei es nun, weil Mädchen und Frauen die Sprache für ihren Körper genommen wird oder weil etwas nur auf eine bestimmte Art erzählt wird und unser Bild von dieser Erzählung geprägt ist. Weshalb ist es so wichtig, (eigene) Sprache für etwas zu finden?
Sprache bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen. Wenn wir für etwas keine Sprache haben, fällt es uns schwer, es uns vorzustellen, und erst recht darüber zu reden. Ein Beispiel: aktive weibliche Libido. Das Wort, das wir für heterosexuellen Geschlechtsverkehr haben, beschreibt den Akt aus der Sicht des Penis: Penetration. Deshalb schlägt Bini Adamczak als Antonym Circlusion vor. Buff! Sofort wird die Aktivität der Vulva und Vagina sichtbar. Und dann merken wir, dass nicht nur Frauen eine Vulva haben und müssen schon wieder die Grenzen der Sprache erweitern. Ebenso race: Ich habe mich mein Leben lang in den Worten und Beschreibungen einfach nicht wiedergefunden und es ist so befreiend, dass wir langsam auch in Deutschland ein Sprache dafür entwickeln. Denn eine eigene Sprache reicht ja nicht aus, sondern es muss eine geteilte Sprache sein. Und wir lernen gerade als Gesellschaft ganz viele neue Vokabeln, und damit Konzepte, und das ist beängstigend aber vor allem sehr toll!
Mit Blick auf „Vulva“ und „Vergewaltigung“: Erkennen Sie, dass sich seit Erscheinen der Bücher das Sprechen darüber zum Positiven verändert hat? Ist es vielstimmiger geworden, diffenrenzierter?
Absolut! Als ich „Vulva“ geschrieben habe, fragtem mich Leute noch: „Vulva, ist das ein Fluss in Russland?“ Heute lese ich immer wieder Artikel und Bücher, in denen das Wort korrekt verwendet und nicht Vagina gesagt wird, wenn Vulva gemeint ist. Gleichzeitig werde ich immer noch zu Gynäkolog/innen-Kongressen eingeladen, um dort Vorträge zu halten, weil die Vulva im Gynäkologie-Studien keine Rolle spielt. Ungelogen!
In meiner Ideengeschichte der Vergewaltigung ging es mir weniger um die Worte, sondern darum herauszufinden, warum wir so über Vergewaltigung sprechen, wie wir darüber sprechen. Also zum Beispiel die Vorstellung, dass Opfer für immer traumatisiert sind. Das kann durchaus sein, aber es muss keineswegs so sein, und diese Satzung erschwert Heilung und das kann ja niemand wollen. Bevor das Buch veröffentlicht wurde, gab es viele Bedenken, ob das nicht missverstanden werden könnte. Und dann ist es wahnsinnig offen angenommen worden. Ich glaube, wir dürfen Leser/innen auch nicht unterschätzen. Wir sehnen uns nach Differenzierung und Vielstimmigkeit.
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Mithu Sanyal, 1971 in Düsseldorf geboren, ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. Ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“ (Wagenbach) bewegte einiges im feministischen Diskurs, ebenso wie ihr 2016 veröffentlichtes Buch „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ (Edition Nautilus). 2021 erscheint nun im Hanser Verlag ihr erster Roman „Identitti“.