Während wir unsere Haustiere lieben und als Teil der Familie betrachten, landen andere Tiere auf unserem Teller. Rund 60 Kilogramm Fleisch isst der/die Durchschnittseuropäer/in im Jahr. Die ethischen Fragen werden dabei verdrängt, das „fühlende Tier wird unsichtbar gemacht“, sagt der österreichische Philosoph und Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Er beschäftigt sich in seinem neuen Sachbuch „Warum wir Tiere essen” (Molden) mit dem Ausbeutungssystem der Massentierhaltung und der Beziehung von Tier und Mensch. Im Interview spricht der Philosoph über unsere Beziehung zum Tier, schlechtes Gewissen und darüber, ob Veganismus die Lösung für den Klimawandel ist. Foto: Jan Dreer.


Buchkultur: Schon Jahrtausende lang beschäftigen sich die Menschen mit Fragen zum Thema – also warum essen wir denn eigentlich Tiere?

Thomas Macho: Die Frage verlangt mehrere Antworten. Wir essen Tiere, weil wir Tiere sind, und weil wir stets Tiere bewundert haben, die andere Tiere fressen, von denen wir übrigens in den Anfängen der Geschichte auch selbst gefressen wurden. Seit der industriellen Massentierhaltung essen wir jedoch Tiere, weil wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir Tiere essen, nicht nur als Gulasch, Wurst oder Leberpastete, sondern auch in so vielen Produkten, in denen tierliche Anteile bis zur Unkenntlichkeit verarbeitet wurden.

Was bedeutet für Sie Verzicht?

Verzicht ist eine Haltung, die von zahlreichen Religionen und Philosophien gepredigt wurde. Etymologisch verweist das Verzichten auf das Verzeihen, auf die Unterlassung der Bezichtigung, des Vorwurfs, der Anklage. Heute wird das Verzichten häufig propagiert im Namen der Schönheit, Gesundheit und Fitness. Höhere Attraktivität, ganz wörtlich genommen: unser „Ansehen“, wird gleichsam als „Profit“ des Verzichts dargestellt.

Welche Rolle spielt das schlechte Gewissen beim heutigen (Fleisch-)Konsum?

Der steigende Fleischkonsum, der vor allem von den jüngeren Generationen im globalen Norden zunehmend skeptisch beurteilt wird, begünstigt Schuldgefühle, wie sie bereits in den Jagdritualen längst vergangener Kulturen ausgedrückt wurden. Doch dürfen wir nicht vergessen, was Kwame Anthony Appiah in seinem Buch zum „Honor Code“ (2010) argumentativ belegt hat: dass nämlich moralische Revolutionen seltener aus Gründen der Schuld, sondern vielmehr aus Motiven der Scham vollzogen werden. Sobald uns Fleischkonsum peinlich wird, wachsen die Chancen auf eine signifikante Einschränkung des „großen Fressens“.

Warum kulminiert die Ausbeutung von Mensch und Tier in der (Massen-) Tierproduktion? Weit weg von humanen Schlachtbedingungen gibt es ja offensichtlich auch kaum humane Arbeitsbedingungen, wie zu Beginn der Corona-Pandemie nochmals herausgekommen ist.

Was wir den Tieren an Leid und Schmerzen zufügen, haben wir stets auch anderen Menschen angetan. Tierschutz ist Menschenschutz. Eine Veränderung unseres Lebens setzt voraus, dass wir in ein »Zeitalter des Lebendigen« eintreten, wie die französische Tierethikerin und Philosophin Corine Pelluchon 2021 vorgeschlagen hat. Was uns mit allem Lebendigen verbindet, ist geteilte Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die nicht als Schwäche, sondern als Stärke, als Handlungsmacht (»agency«), erfahren werden könnte.

Wie kommt es, dass Nutztiere einerseits so leicht entmenschlicht werden, Haustiere andererseits so stark humanisiert werden?

Seit Beginn der industriellen Massentierhaltung sind die Haustiere agrarischer Kulturen, die mit den Menschen Raum und Arbeit geteilt haben, weitgehend verschwunden. Sie haben sich aufgespalten in namenlose Nutztiere, die – jenseits von unseren Häusern und Städten – unter qualvollen Bedingungen und ausschließlich zur raschen Schlachtung gehalten werden, und in Schoßtiere, „pets“, die wie Lebensgefährten und Freunde, oft als Ersatz für Kinder oder Partner/innen, unsere Wohnungen bevölkern. Entmenschlichung und Vermenschlichung von Tieren ereignen sich in zwei voneinander strikt getrennten Bereichen, die mit Blick auf den Klimawandel ähnlich katastrophale Auswirkungen zeitigen.

Funktioniert es noch, heutzutage etwa mit dem Proteingehalt von Fleisch als »gesunder Ernährung« zu argumentieren?

Nach wie vor werden Fleischdiäten propagiert wie etwa die – nach dem Mediziner Robert Atkins benannte – Reduktion von Kohlehydraten zugunsten von Fleisch, Eiweiß und Proteinen. Kann jedoch eine Ernährung für „gesund“ gehalten werden, die zugleich unser Überleben auf der Erde bedroht? Wir müssen unseren Fleischkonsum drastisch reduzieren; die Versorgung mit Eiweiß und Proteinen lässt sich nicht bloß durch Fleisch sicherstellen.

Ist Veganismus aus Ihrer Sicht die Lösung in Anbetracht von Klimakatastrophen, steigendem Fleischkonsum und Massentierhaltung?

Wir brauchen mehrere Strategien im Verbund, um den weltweiten Fleischkonsum nachhaltig zu senken. Veganismus allein wird nicht genügen; er müsste begleitet werden von strengeren Regulierungen der Fleischindustrie, und vielleicht auch von den innovativen Techniken der „Novel Food“-Industrie, die Ersatz für tierliche Produkte herzustellen verspricht – vom Käse bis zum Steak. Vor allem aber müssen wir erheblich höhere Anstrengungen unternehmen, um soziale und ökonomische Ungleichheit weltweit zu reduzieren.

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Thomas Macho, geboren 1952 in Wien, war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Gegenwärtig leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. 2019 wurde er mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa und 2020 mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet. Mit der Kulturgeschichte von Tieren hat er sich bereits in mehreren Publikationen auseinandergesetzt, u. a. in „Schweine. Ein Portrait“ (Matthes & Seitz). Zu seinen neueren Publikationen zählt „Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne“ (Suhrkamp).

Thomas Macho
Warum wir Tiere essen
Molden, 128 S.