Gleich zwei neue Bücher sind dieser Tage von Migrationsforscherin Judith Kohlenberger erschienen. In einem Gastkommentar für unseren Newsletter »Bücherbrief« zeigt die Autorin die möglichen Auswirkungen des Ergebnisses zur Wahl zum EU-Parlament vom 9. Juni auf – politisch, rechtlich, gesellschaftlich. Foto: Minitta Kandlbauer
Der erwartete Rechtsruck ist zwar ausgeblieben, doch der Schwenk von Mitte-Links nach Mitte-Rechts in der Fraktionszusammensetzung des EU-Parlaments zeichnet den Migrationskurs der kommenden Legislaturperiode vor: »Harte Kante« gegen »illegale Migranten«, um es in den Worten des österreichischen Innenministers zu formulieren.
Schon vor der Wahl kündigten mehrere Mitgliedstaaten an, darunter Ungarn, Polen und die neue niederländische Rechtsregierung unter Geert Wilders, sich nicht an dem vor kurzem beschlossenen Solidaritätsmechanismus für eine faire Verteilung von Geflüchteten beteiligen zu wollen. Ab Juli wird mit der ungarischen Ratspräsidentschaft ein Land mit den ersten Schritten der Reform betraut sein, das sich seit Jahren erfolgreich gegen jegliche Beteilung an Europas Asylverantwortung wehrt. Dass die ungarischen Asylregeln gegen geltendes EU-Recht verstoßen, zog bisher keine Sanktionen nach sich, ähnlich wie die Umsetzung der nach zähem Ringen erzielten Asylreform fraglich bleiben wird.
Gleichzeitig stellt die Attrahierung von ausländischen Arbeitskräften eine der größten Herausforderungen für die Mitgliedsstaaten dar. Mit seiner rapide alternden Bevölkerung und den sinkenden Geburtenraten kann es sich die EU eigentlich gar nicht länger leisten, abschreckende Signale an Drittstaatsangehörige aller Qualifikationsstufen zu senden. Die Entwicklung einer gemeinsamen Antwort auf Arbeitsmigration und humanitäre Migration ist unerlässlich, wenn Wohlstand und Lebensqualität in Europa erhalten werden sollen.
Allein, diese Wahrheit scheint unter den Mitgliedstaaten nicht zu verfangen. In vielen von ihnen ist es rechten Kräften gelungen, den Diskurs in Sachen Migration zu bestimmen und zu radikalisieren. An das Sterben an Europas Grenzen haben wir uns längst gewöhnt. 52.760 Menschen sind laut der ehrenamtlichen Initiative UNITED Against Refugee Deaths, die dazu akribisch Listen führt, seit 1993 auf ihrer Flucht nach bzw. in Europa ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Dennoch, wenn nicht gerade ein Schiffbruch historischen Ausmaßes, wie jener im Juni letzten Jahres vor Pylos mit rund 500 Toten, geschieht, interessieren sie kaum jemanden mehr.
Hinter der Ausnahmesituation an Europas Grenzen, die längst zu einer chronischen geworden ist, stehen grundlegende Versäumnisse. Versäumnisse, die einen Tribut fordern, und zwar nicht nur von jenen, die in Europa Schutz suchen. Auch die Aufnahmegesellschaft wird dadurch auf die Probe gestellt. Völkerrechtswidrige Pushbacks in der Ägäis und entlang der Balkanroute haben die europäische Bevölkerung an folgenlos bleibende Menschenrechtverstöße gewöhnt. Kidnapping, Sklaverei und sexuelle Ausbeutung gehören an der Peripherie Europas zum Alltag, ebenso wie Treibjagden durch paramilitärische Truppen und ihre Kampfhunde. Menschen auf der Flucht, NGOs und Seenotretter:innen werden systematisch kriminalisiert.
Diese Entwicklung blieb nicht ohne Folgen für die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und den sozialen Zusammenhalt in Europa. Die an den Grenzen erprobte Gewalt in Wort und Tat hat längst die Gesellschaft im Inneren erreicht. Je militanter Grenzen verteidigt werden, um die vermeintliche Ordnung dahinter vor dem »Fremden« zu bewahren, desto stärker wird ebendiese bedroht: Chaos, Gewalt und offene Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation strahlen ins Innere aus.
Durch die Normalisierung von Leid und Entrechtung an ihrem Rand wird unser Europa insgesamt gleichgültiger, apathischer und kälter. Die Folgen sind eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral und demokratischer Institutionen. Als fatal erwies sich die Strategie der Mitteparteien, »den Rechten« das Wasser abgraben zu wollen, indem man deren Positionen und Diskurse übernahm. Solch eine Anbiederung an radikale Ränder lässt Illiberalität und Autoritarismus erstarken, macht unsere Gesellschaft intoleranter gegenüber allen, die als »anders« wahrgenommen werden. Rassistische, menschenverachtende Positionen werden damit nicht entmachtet, sondern salonfähig gemacht: Das offizielle Europa bereitet den Boden für rechte Parteien, die den Diskurs bei nächster Gelegenheit wieder ein Stück zu ihren Gunsten verschieben.
Das Ergebnis der EU-Wahl verdeutlicht den hohen Preis, den wir für den »Schutz der Grenzen« zahlen, politisch, moralisch und rechtlich. Das an den Rändern erprobte »harte Durchgreifen« legitimiert autoritäre Entwicklungen im Inneren, die nicht mehr zu ignorieren sind. Denn eine Grenze, die von Gewalt geprägt und aufrechterhalten wird, begrenzt auch unsere Demokratie, unsere Grundrechte und deren Durchsetzung. Deshalb ist es auch und gerade die europäische Asylpolitik, die über ein werte- und menschenrechtsbasiertes Europa für alle entscheiden wird.
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Judith Kohlenberger
Grenzen der Gewalt
Leykam, 144 S.
Judith Kohlenberger
Gegen die neue Härte
dtv, 256 S.