Judith W. Taschler, Meisterin des Generationenromans, ist zurück: »Über Carl reden wir morgen« rührt an die großen Fragen der Menschheit, die bis ins hinterste Dorf reichen.


Eine Erzählerin von traditionellem Format, suggestiv und fabulierfreudig – das ist die gebürtige Oberösterreicherin Judith W. Taschler (»Die Deutschlehrerin«). Überbordend ist auch der Stoff, aus dem ihr jüngstes Buch gewebt ist: »Über Carl reden wir morgen« ist ein Familienroman über drei Generationen, ausgehend vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Das lose an den Eckdaten der eigenen Historie verortete Buch spürt der wechselvollen Geschichte einer Mühlviertler Müllerfamilie zwischen Tradition und Moderne nach. Anton Brugger soll da den väterlichen Betrieb übernehmen, während seine Schwester Rosa sich gegen den Willen des Vaters als Dienstmädchen in Wien verdingt. Dort widerfährt ihr das typische Schicksal vieler weiblicher Hausangestellter: Sie wurde von ihrer Herrschaft gezielt für deren kranken Sohn ausgesucht, um sicherzugehen, dass dieser fähig ist, gesunde Kinder zu zeugen. Jahre später kehrt Rosa nach Hause zurück, um ihren verwitweten Bruder zu unterstützen. Ihr inzwischen erwachsener Sohn hat sich der Revolution 1848 angeschlossen und ist nur knapp der Hinrichtung entgangen. Dass er lebt, erfährt die Familie erst Jahre später, als er todkrank mit seiner eigenen Tochter im Mühlviertel Zuflucht sucht. Diese verliebt sich in den illegitimen Sohn des mit den Bruggers verfeindeten Großbauern: Die Konflikte sind vorgezeichnet.

Bis zum titelgebenden Carl ist es ein weiter Weg: Er ist Antons Enkel und was er während des Ersten Weltkriegs an der Front erlebt, wird ihn nie mehr loslassen und sein weiteres Geschick und das seines Zwillingsbruders Eugen bestimmen.

Judith W. Taschler erzählt vom Fortwirken der Geschichte, von sichtbaren und unsichtbaren Familienbanden, Anpassung und Pflicht, Flucht und Freiheit, Schuld und dunklen Geheimnissen. Nur drei der Familie Brugger brechen, wenn auch bloß temporär, aus der Begrenztheit des dörflichen Lebens in ein anderes auf: Albert diente zwölf Jahre bei der k.u.k. Marine, ehe er den Familienbetrieb um ein Handelsgeschäft erweitert, Eugen schifft sich Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA ein und wird so dem Einberufungsbefehl entgehen. Und Rosa hat in Wien zumindest ihr Glück versucht.

Das (harte) Los der Frauen in einer an männlichen Bedürfnissen ausgerichteten Welt ist ein großes Thema der zwischen dem Mühlviertel und Massachusetts angelegten Geschichte. Alberts Frau Anna ist die Ehe mit ihm nicht aus Liebe eingegangen, sondern weil sie sich dem väterlichen (und gesellschaftlich akzeptierten) Willen gebeugt hat. Gelingt es ihr, sich mit ihrem Schicksal zu versöhnen?

Ein Dorf als Kulisse universeller Menschheitsfragen: Was bleibt von unseren Träumen? Was zählt der Einzelne im Weltengefüge? Und was ist überhaupt Glück? Was Liebe? Carl scheint am (offenen) Ende zumindest Ansätze davon gefunden zu haben. Der Mensch im Mühlrad der Geschichte: Judith W. Taschler hält die Fäden zwischen den Lebenslinien und Jahrhunderten gekonnt zusammen. Wie es weitergeht mit den Bruggers – das werden wir vielleicht noch erfahren: Die Fortsetzung des bewegenden Familienepos ist angedacht.

Judith W. Taschler
Über Carl reden wir morgen
Zsolnay, 464 S.