Colin Niel hat das Genre des Ökothrillers auf eine neue Stufe gestellt: In »Darwyne« greift die Natur, sonst Kulisse, aktiv in das Geschehen ein. Foto: Jody Amiet


Darwyne ist ein seltsames Kind, mit seinen schiefen Füßen und dem wackeligen Gang, er ist immer dreckig, wirkt schwachsinnig. Er betet seine Mutter an, obwohl er weiß, dass er in ihren Augen ein Tier ist. Yolanda selbst wird von den anderen spöttisch »Männerfresserin« genannt, weil ihre bisherigen Liebhaber nicht bloß abgehauen, sondern spurlos verschwunden sind. Sie hasst den Urwald, der ihre Hütte in den Slums von Bois Sec umwuchert. Der neue Lover, Nummer 8, hat eine Motorsäge, und Yolanda drängt Jhonson, diese auch ausgiebig zu benutzen. Wenn Darwyne in die Nacht hinein lauscht, hört er, wie die Natur versucht, die Wunden der Maschine zu schließen, auch die Tiere erkennt er an ihren Lauten. In der Dunkelheit scheint der Urwald immer näher zu rücken, so als wolle er Darwyne als Teil von sich beschützen. Denn die schöne, tüchtige Yolanda bestraft ihn grausam, weil es ihm nicht gelingen will, so zu sein wie die, die in die Schule gehen. »Mit dem Kind stimmt etwas nicht!« Ein anonymes Telefonat ruft die Sonderpädagogin Mathurine auf den Plan. Die Arbeitskolleginnen sind beeindruckt von Mathurines Kenntnis des Urwalds, für sie selbst ist klar, dass die Natur immer nur kurze Einblicke gewährt, dass der Amazonas seine Geheimnisse nie ganz preisgeben wird. Darwyne nun bringt sie mit seinen Fähigkeiten, sich lautlos und geschickt darin zu bewegen, ganz anders als außerhalb, zum Staunen. Trotzdem beginnt sie zu ahnen, dass das, was sie zu dem wilden Kind hinzieht, auch eine böse Seite haben kann.

Colin Niel, geboren 1976 in Clamart, Frankreich, studierte Evolutionsbiologie und Ökologie und hat als Ingenieur für Biodiversität gearbeitet. Was hat ihn zum Schreiben gebracht? »Wenn mir jemand vor 20 Jahren gesagt hätte, ich würde Vollzeitschriftsteller werden, hätte ich es nicht geglaubt. Die Lust am Schreiben allerdings verspürte ich immer schon: die Lust, Geschichten zu erzählen, die Lust, andere Leben als mein eigenes zu erschaffen. Auslöser waren schließlich die Jahre, die ich im Übersee-Departement Französisch-Guyana verbracht habe. Das hat mich tief geprägt. So sehr, dass ich zum ersten Mal den Eindruck gewonnen habe, ich hätte etwas zu erzählen. Und damit habe ich meinen ersten Roman geschrieben, »Les Hamacs de Carton« (Anm: Eine bislang nicht übersetzte Serie um Capitaine Anato), wobei es mir anfänglich nur darum ging, von einer Randgruppe der französischen Gesellschaft, über die ich vorher noch nie gehört habe, zu berichten.«

Mit »Darwyne« liegen nun drei Titel auf Deutsch vor, alle in der bewährten Übersetzung von Anne Thomas: 2021 erschien »Nur die Tiere«, verfilmt unter dem Titel »Die Verschwundene« von Dominik Moll, als Schauplatz diente das französische Massif Central; in »Unter Tieren« ebenfalls aus 2021, wird eine Jägerin nach einem Jagdausflug in Afrika selbst zur Gejagten. In allen Büchern verspürt man eine tiefe Liebe zur Natur, aber auch großen Respekt. »Die Beziehung zwischen Menschen und Lebewesen allgemein ist tatsächlich ein sehr wichtiges Thema. Zum Teil hat das mit meinem Studium und dem Beruf, den ich ausübte, zu tun, aber ich glaube, das geht viel weiter zurück. Ich bin mit äußerst wenig Naturkontakt aufgewachsen, mitten im Beton der Pariser Banlieues. Dort hatte ich zumindest die Vögel, von meinem Zimmer im zwölften. Stock aus konnte ich den Flug eines Turmfalkenpärchens beobachten, das hoch zwischen den Gebäuden nistete. Und obwohl fernab größerer Naturgebiete, hat mich dieses Interesse für andere Lebewesen nicht verlassen.«

Es interessiert Colin Niel wenig, über sich selbst zu schreiben, vielmehr faszinieren ihn andere Kulturen, andere Sichtweisen auf die uns umgebende Welt. Und natürlich der Urwald und seine Vielfalt an Arten, Pflanzen wie Tieren, die es noch zu entdecken gibt. Er erzählt seine Geschichten immer von mehreren Blickpunkten aus – in »Unter Raubtieren« etwa wägt er die verschiedenen Aspekte der Jagd ab, der einsame Löwe ist nicht von vornherein ein edles schützenswertes Geschöpf. Außerdem lassen sich Zelte »made in China« für Arme ebenso wenig wegdiskutieren wie international agierende Internetbetrüger/innen. Je weiter die Persönlichkeit eines Protagonisten von der eigenen entfernt ist, desto mehr fühlt er sich ihr verbunden, wie er sagt. Das spürt man ganz deutlich daran, wie er mit der »Kreatur« Darwyne umgeht, er hat sie an Maskilili, ein kreolisches Fabelwesen aus der Folklore Guyanas, angelehnt und umgeformt.

Gewalt an Kindern ist ein wiederkehrendes Thema. Daneben gibt es oft einen »Mediator« zwischen den (sozialen) Welten, zwischen Natur und Kultur, hier in »Darwyne« in Gestalt der Sonderpädagogin Mathurine: Sie hat studiert, ist berufstätig, aber als unverheiratete kinderlose Frau doch ein Außenseiter. Sie will für alle das Beste, und doch stört ihr Eingreifen das Gefüge. »Ja, das stimmt. Ich glaube, in allen meinen Büchern gibt es so etwas wie einen Bruch: zwischen den Ländern des Nordens und des Südens, zwischen Stadtbewohnern und Landvolk, zwischen Kulturen, die sich berühren, aber nicht begegnen, zwischen der Stadt und dem Wald. Und notwendigerweise gibt es an den Rändern immer Vermittler, Überläufer oder solche, die ihren Weg von einer in die andere Welt suchen, ohne wirklich irgendwo dazuzugehören. Tatsächlich ist Mathurine ein gutes Beispiel dafür: Umgeben von Kollegen, die niemals die Stadt verlassen haben, empfindet sie eine tiefe Hingabe zum Urwald Amazoniens. Das ermöglicht ihr auch die Annäherung an Darwyne, dieses Kind, das eine sehr intime, fast magische Beziehung zum Wald hat.«

Und die Elemente einer pervertierten Liebe, auf die man immer wieder stößt – die absolute Ergebenheit Darwynes an die quälende Mutter, Yolanda selbst mit ihren wechselnden Liebhabern, die alle im Grunde dieser stolzen Frau nicht das Wasser reichen können? Glaubt Colin Niel nicht an die Liebe? »Oh doch, ich glaube daran!« (lacht) »Ich glaube zutiefst daran. Liebe ist das zentrale Thema der meisten meiner Bücher. In ›Nur die Tiere‹ dreht sich alles darum, um den Mangel an Zuneigung, um das Leiden, wenn man nicht geliebt wird. ›Darwyne‹ ist ein Buch über Mutterliebe und Kindesliebe. Aber zugegeben, das ist ein komplexes Gefühl, nicht wahr? Ernsthaft, ausgewogen und gegenseitig zu lieben ist schwierig. Das ist auch das Drama von Darwyne: Er liebt seine Mutter bedingungslos, während sie das Kind nicht so annehmen kann, wie es ist… «

Gibt es nach den Pyrenäen, dem Massif Central, Afrika und Guyana schon ein neues literarisches Ziel? »Ich beende gerade meinen nächsten Roman, der diesen August in Frankreich erscheinen wird. Schauplatz ist wieder Französisch-Guyana, es wird darin ein Wiedersehen mit einigen Protagonisten aus »Darwyne«, auch Mathurine, geben. Gleichzeitig habe ich habe mit der Arbeit an einem neuen Projekt begonnen, dieses Mal weit entfernt von Amazonien, aber es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen.« Wir sind auf jeden Fall gespannt – merci beaucoup, Colin Niel!

Colin Niel
Darwyne
Ü: Anne Thomas
Suhrkamp, 300 S