Alle Kunst entwickelt sich, also auch Literatur, also auch Kriminalliteratur. Das passiert nicht immer revolutionär, über nun fast 150 Jahre eher evolutionär. Zwar spielt gegenüber anderen Sortierungen von Literatur der berühmte »Markt« bei der Kriminalliteratur eine etwas andere Rolle, weil sie kaum subventioniert ist. Das ist zwar ein intellektuelles Armutszeugnis (und/oder intendierte Strategie kulturpolitischer Unsouveränität, Angstbeißen oder was weiß ich was), hat aber immerhin den Vorteil, dass der Kriminalliteratur dadurch ein zusätzlicher Muskel gewachsen ist für die Antagonismen auf dem literarischen Feld. Anyway, betrachtet man nur den Markt, d. h. die Bestseller, die angeblich so beliebten Destination-Krimis, die Regio-Krimis, die diversen Schlachteplatten und – gerade mal gern genommen – die Selbstverzwergungstexte wie Erdmännchen- oder Menopausenkrimis, die sich in die lange Reihe der Deich-Friesen-Allgäu-Knödel-Achtsammorden-Krimis fügen, betrachtet man die ewigen Golden-Age- und nachgebauten Fake-Golden-Age-Krimis, die immer noch den Kampf der Ladies Christie, Sayers oder Tey gegen die Moderne nachspielen, könnte einem Angst und Bange werden. Auch weil so viel biederer Retro-Geist in die politische Großwetterlage passt, die die von der Komplexität der Welt anscheinend überforderte Leserschaft zu den simplen Gedanken und Gefühlswelten von »damals« greifen lässt.
Aber: Die Kriminalliteratur hat aus anderen Krisenzeiten heraus immer neue Impulse geschöpft – Dashiell Hammett gegen das papierne Golden Age, Chester Himes aus der Bürgerrechtsbewegung, Jean-Patrick Manchette aus der 68er-Bewegung, John LeCarré & Co. aus dem Kalten Krieg, Sara Paretsky & Co. aus der Frauenbewegung. Und das eben nicht nur thematisch, sondern auch literarisch-ästhetisch. »Der Markt« feierte währenddessen ganz andere Dinge, an die sich kein Mensch mehr erinnert, zurecht. Will heißen: Der Markt regelt vieles, aber in aestheticis bei Weitem nicht alles. Das ist so ähnlich wie beim Film, wo vor Fassbinder, Herzog, Wenders & Co. lange »Die Trapp Familie«, »Schulmädchen Report« und »Fuck Ju, Göthe« kommen, wenn man den Sales glaubt. Deswegen muss man sich von dem Getöse nicht blenden lassen, sondern, glauben Sie mir, es macht viel mehr Lust und Spaß sich auf solche Romane einzulassen, in denen es eine Menge mehr zu entdecken gibt, als die öden, zigtausendfach reproduzierten Algorithmen, also solche Texte, die von mir aus getrost von der KI geschrieben und gleich auch konsumiert werden können.
Richtig spannend finde ich aber einen Trend, den man an einer ganzen Reihe aktueller hochqualitativer Romane bemerken kann. Es sieht demnach so aus, dass ein Pfeiler von Kriminalliteratur gekappt werden könnte, den man, zumindest aus literaturpolizeilicher Sicht, für eine conditio sine qua non halten könnte. Und konnte: Der Plot. »Sauber geplottet« – das ist schon immer ein Lob gewesen, das alle anderen möglichen Schwächen literarischer oder konzeptioneller Natur zudecken konnte.
Wie aber, wenn »der Plot« gar nicht so zentral wäre, ohne dem Konstrukt »Kriminalroman« zu schaden? Nehmen wir Patrícia Melos »Die Stadt der Anderen« (Ü: Barbara Mesquita, Unionsverlag), Adam Morris’ »Bird« (Ü: Conny Lösch, Nautilus), Gaea Schoeters »Trophäe« (Ü: Lisa Mensing, Zsolnay), Lavie Tidhars »Maror« (Ü: Conny Lösch, Suhrkamp) oder Roberto Savianos »Falcone« (Ü: Annette Kopetzki, Hanser) – fast alle diese Titel stehen auf der »Krimibestenliste« von Deutschlandfunk Kultur –, dann stellen wir fest, dass sie alle zwar zwischendurch kleine Subplots, aber keinen dominanten Hauptplot haben, weil sie oft in eher panoramischen Bögen erzählen. Zwar haben Autoren wie Joseph Wambaugh, James Ellroy oder Don Winslow schon ähnliche Strukturen benutzt, aber die Häufung (ich könnte noch ein paar Namen der ersten Garnitur mehr aufzählen) ist schon auffällig. Und bezeichnend. Denn wenn es keinen Hauptplot gibt, heißt das auch, dass »Verbrechen« nicht mehr auf das einzelne Skandalon zu reduzieren ist (auch als Gegenrede zu »True Crime«); ein Skandalon zudem, das mit der »Aufklärung«, mit dem »Fall« abzuschließen wäre. Damit streift die seriöse Kriminalliteratur nicht nur endgültig das Korsett der Formula Fiction ab, sondern auch das dem Fall-Aufklärungsschema implizite ordnungspolitische Dogma, dass das »Verbrechen« erfolgreich und letztendlich final bekämpft werden kann. Zudem wird damit der Definitionsrahmen dessen, was als Verbrechen kriminalliterarisch behandelt werden kann und behandelt werden sollte, erheblich erweitert. Lesen Sie daraufhin mal Gaea Schoeters »Trophäe«. Kriminalliteratur pur, ohne Leitplanken.
—
Mehr dazu im Buchkultur Sonderheft Krimi 2024 ab 14. Juni