Drei neue Bücher belegen das enorm weite Spektrum der aktuellen japanischen Kriminalliteratur. Illustration: Shutterstock


Keine Fußfesseln. Und das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft in einer immer noch stark strukturierten, von Ritualen geprägten Gesellschaft. Das identifizierte der Krimi-Kritiker Ulrich Noller vor einigen Jahren als thematische Besonderheiten der aktuellen japanischen Krimis. Das typisch Japanische fließe, meinte der Deutsche, eher über die Themen ein.

Das moderne Japan hat nicht nur ein Faible für klassische Musik und, noch mehr, für Jazz. Sondern auch für Kriminalliteratur »klassischer« Prägung. Im Land der untergehenden Sonne ist daher kaum ein anderer Autor so populär wie Seishi Yokomizo (1902–1981), dessen zahllose Bücher eine Kreuzung von Agatha Christie und Simenons Maigret sind. Nun liegt ein neuer, auf Deutsch mittlerweile der dritte Fall für den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi aus der Feder Yokomizos vor. 1951 in Japan erschienen, spielt die Causa im Jahr 1949 im abgelegenen Dorf Acht Gräber »inmitten der kalten Berge an der Grenze zwischen den Präfekturen Tottori und Okayama«. Hier passierte vor 26 Jahren ein grässliches Massaker. Einer der reichsten Einwohner der Ortschaft lief damals Amok, tötete 32 Menschen, bevor er in die Berge floh und seither nicht mehr gesehen noch gefunden ward. Tatsuya Terada, 27, dessen Mutter starb, als er sieben war, ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Kobe zurückgekehrt. Er ist allein, denn auch sein Stiefvater kam im Krieg ums Leben. Nun wird er zu seiner Überraschung via Radio gesucht, ein Anwalt kontaktiert ihn, es gehe um eine mutmaßliche Adoption, dann zieht sich der Advokat wieder ins Schweigen zurück. Dafür erhält Terada einen mysteriösen Brief voller Warnungen, nie wieder ins Dorf Acht Gräber zurückzukehren. Dabei hat er noch nie von diesem Ort gehört! Dann stellt ihm der Anwalt in seinem Büro seinen Großvater vor, der zehn Minuten später tödlich zusammenbricht. Er wurde – vergiftet. Tatsuya erfährt, dass er der Spross des einstigen Amokläufers sei, der zuvor seine Mutter als Geliebte gehalten und sie immer wieder vergewaltigt hatte. Kaum ist Tatsuya im Dorf Acht Gräber angelangt, stirbt sein Halbbruder, ebenfalls wie der Großvater an Gift. Dann taucht Kosuke Kindaichi auf, Mitte 30, klein, schlank, mit zerzaustem Haar und leicht stotternd. Und es gibt eine stattliche Reihe weiterer Morde. Dazu einen mysteriösen verborgenen Schatz, ein unterirdisches Geheimgang-Labyrinth und Geheimnisse sonder Zahl. Schließlich überstürzen sich die Ereignisse zusehends abenteuerlicher und spitzen sich gefährlich zu. Das Ganze wird aus Tatsuyas Perspektive erzählt, was bedeutet, dass Kindaichi nicht selten scheinbar täppisch erscheint, eine Art japanischer Vorläufer Columbos, und in diesem Buch nur eine Nebenrolle spielt. Natürlich steht Yokomizo auf den Schultern von ihm verehrter Autoren des Goldenen Zeitalters des englischen Kriminalromans, fast noch stärker auf denen des Amerikaners John Dickson Carr, der in seinen vertrackten Fällen noch englischer war als seine britischen Zeitgenossen. Nachdem es noch 74 weitere Kindaichi-Romane aus der Feder Yokomizos gibt, sei dem Blumenbar Verlag anempfohlen, ein deutlich höheres Übersetzungs- und Editionstempo anzuschlagen.

Kotaro Isaka hingegen, Erfolgsautor und Anfang 50, nimmt traditionelle Muster und lässt sie wie auch gängige Leseerwartungen – ins Leere laufen. Fast steht zu befürchten, dass er mit »Der Profi« sein Lesepublikum im deutschsprachigen Raum eher reduzieren wird. Denn wer ob der Bezeichnung »Thriller« sich atemlose Overkill-Rasanz verspricht, wird eher enttäuscht werden. Isaka wurde vor allem durch seinen Roman »Bullet Train« bekannt, den David Leitch 2022 sehr frei, enorm rasant wie schräg-absurd und schwarzironisch für die Kinoleinwand adaptierte. In »Der Profi«, einem Titel, der Action-Assoziationen auslöst und an Belmondo, Delon, Jason Statham oder Sly Stallone gemahnt, unterläuft Isaka viele Beschränkungen. Denn es ist keineswegs ein Spannungsroman, vielmehr psychologische Prosa. Kabuto, der Killer, will aussteigen. Zuhause steht er, der Familienvater, der tagsüber völlig harmlos im Vertrieb eines Schreibwarenherstellers tätig ist, abends aber geheim als Auftragsmörder unterwegs ist, unter dem Pantoffel seiner laut und selbstbewusst auftretenden Frau. Sein Auftraggeber und Mord-Vermittler, der »Doktor«, warnt ihn, die »Hornisse«, ein anderer Auftragskiller, trachte ihm, Kabuto, nach dem Leben. Mit Ausnahme von zwei, drei Schlägereien gibt es an wirklich Aufregendem bei Isaka die Erkundung der Seelenlandschaft eines sehr normalen Mannes, der alles andere ist, nur kein Super-Bösewicht, vielmehr sich geschmeidig-phlegmatisch durchschlängeln möchte. Dass am Ende Kabutos Plan nicht aufgeht, er umkommt, aber Jahre später noch Rache nimmt, wiegt nicht für das sacht Unentschiedene dieses nicht zur Gänze überzeugenden Romans auf.

Sich keine Fesseln, zumindest des Erzählens, auferlegen und viel von der Geschichte Ostasiens einfließen lassen, das macht auch Fuminori Nakamura in »Die Flucht«. Es beginnt an einem äußerst exotischen Ort, in – Köln am Rhein. Der kritische Investigativ-Journalist Kenji Yamamine ist auf der Flucht. In der deutschen Domstadt stößt er auf die Historie einer von Legenden umwobenen Teufelstrompete, die einst der Japaner Suzuki gebaut hatte. Diesem Instrument und einer extra für sie geschriebenen Komposition werden übermenschliche, ja dämonische Kräfte zugeschrieben, sie könne betören und Zuhörer zu Berserkern werden lassen und sei etwa im Zweiten Weltkrieg dafür verantwortlich gewesen, dass die japanische Armee eine Schlacht für sich entscheiden konnte. Kenji macht sie auf den Philippinen ausfindig, trifft dort die Vietnamesin Anh, die ihm nach Tokio nachreist und dann dort zu Tode kommt. Andere, düstere Figuren interessieren sich ebenfalls vehement für das Horn. Das Ganze ist natürlich hochromantisch, die Geschichte des diabolischen Instruments hätte auch ein E. T. A. Hoffmann ersinnen können, wie anderseits unterhaltsam, rasant und erstaunlich düster, dazu mehr als nur ein klein wenig mystisch. Und vor allem: Literarisch oszilliert es zwischen Realität und Fiktion und ist ominös bis zum Ende. Der Bogen des Plots ist wagemutig weit angelegt, er reicht von der Christenverfolgung in Japan über den Atombombenabwurf 1945 bis in die Gegenwart. Nakamura, sechs Jahre jünger als Isaka und enorm produktiv – »Die Flucht« ist sein vierter Roman auf Deutsch, auf Japanisch hat er mittlerweile an die zwei Dutzend Bücher herausgebracht – ist definitiv ein Autor, der alle Fußfesseln ignoriert.

Seishi Yokomizo
Das Dorf der acht Gräber
Ü: Ursula Gräfe
Blumenbar, 400 S.

Kotaro Isaka
Der Profi
Ü: Sabine Mangold
Hoffmann und Campe, 304 S.

Fuminori Nakamura
Die Flucht
Ü: Luise Steggewentz
Diogenes, 592 S.