Die besten Krimis für den Sommer 2024:
Adam LeBor
Zwischen den Korridoren
Ü: Jürgen Bürger
Polar, 464 S.
Adam LeBor setzt mit seiner Krimi-Reihe um den Roma-Kommissar Baltazár Kovács seiner Wahlheimat Budapest ein düsteres Denkmal. Im zweiten Fall »Zwischen den Korridoren« kracht es gewaltig. Foto: Zoltan Tuba.
»Worauf es ankommt, ist, dass Sie ihn beseitigen. Benutzen Sie ein Messer. Die mögen Messer. Alle werden denken, es wäre eine Art Fehde unter Zigeunern.« Diese Tonaufnahme ist eigentlich schon skandalös genug, aber der Hintergrund ist noch etwas brisanter: Derjenige, der einen Mordauftrag erteilt, ist niemand geringerer als Pál Pálkovics, sozialdemokratischer Ministerpräsident Ungarns – soeben zurückgetreten. Der Adressat des Todesurteils wiederum: Baltazár Kovács, Ermittler der Budapester Mordkommission, Roma-Angehöriger und Protagonist dieses mitreißenden Krimis.
Das Tape ist aber nicht der bereits ans Licht gekommene Rücktrittsgrund, sondern nur eines von vielen Details in einem mehr als turbulenten Kriminalfall in der magyarischen Hauptstadt, die gerade im politischen Chaos versinkt – und Recht und Ordnung gleich mit. In diesem fiktiven September 2015 ziehen – wie damals in der Realität – unzählige Flüchtlinge in die Stadt, was skrupellose Geschäftemacher, Kriminelle und Terroristen für sich zu nutzen wissen: Vor einer Woche erst hat Kovács, mitten in der Altstadt auf dem Rákóczi-Platz Mahmoud Hejazi, den weltweit meistgesuchten Islamisten dingfest gemacht – der darauf von einem unbekannten Scharfschützen erschossen wurde. Die Behörden breiten über den Fall jedoch den Mantel des Schweigens, wohl weil die in diese Affäre um verkaufte Pässe und Terroristentransit gerade implodierte Regierung selbst verwickelt ist. Bereits der Originaltitel »Kossuth Square« verweist auf den Dreh- und Angelpunkt des Romans: Hier hat das ungarische Parlament seinen Sitz.
Die ob der Ereignisse empörte Wählerschaft soll mit einer Ordensverleihung für Kovács abgespeist werden. Der wiederum hat aber eigentlich schon wieder ganz andere Dinge zu tun – und bereits den nächsten toten Araber vor sich. Der Kommissar ist in ein Bordell gerufen worden, in dem ein Freier im Bett das Zeitliche gesegnet hat. Da er vermutlich ein wichtiger Ausländer ist, soll die Sache stillschweigend unter den Teppich gekehrt werden. Für Kovács eine Frage der Ehre, eine Familienangelegenheit: Schließlich handelt es sich beim Eigentümer des Etablissements um seinen eigenen Bruder Gáspár, ein stadtbekannter Rotlicht-Baron – und auch Baltazár ist kein Waisenknabe, wie allein die Bilanz des letzten Wochenendes im Dienst zeigt: »Der Besuch eines illegalen Cage-Fights zusammen mit einem hochrangigen Mitglied der serbischen Mafia, öffentlicher Kokainkonsum mit dem berüchtigtsten Gangster der Stadt, das Verletzen zweier Gendarmen bei einem Verkehrsunfall, Zerstörung von Staatseigentum, illegaler Einsatz einer Blendgranate… Die Liste ging weiter und immer weiter.«
In LeBors Budapest wird nun einmal mit stahlharten Bandagen gekämpft: Den Toten leise zur Seite zu schaffen, gelingt nicht. Kovács kommen dabei der Nachrichtendienst wie die Gendarmerie in die Quere, die sich mit der Polizei derzeit einen Machtkampf liefert, bei dem beide Seiten auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. So sind in diesen Fall viel mehr Parteien verwickelt, als es zu Beginn den Anschein hat, und der ganze Aufruhr scheint aus weiter Ferne, nämlich noch im Kalten Krieg seinen Ursprung zu haben. Zudem gräbt Kovács nun tiefer in der eigenen Familiengeschichte herum und öffnet den Cold Case seiner vor zwanzig Jahren in einem Pool ertrunkenen Cousine.
Doch trotz der dichtgepackten Handlung kommt bei LeBor die Kulisse nicht zu kurz, weil er ein atmosphärisch dichtes Porträt seiner Wahlheimat zeichnet. Das gerät aber zu keiner als Regionalkrimi getarnten Tourismuswerbung. Seine »Königin der Donau« – so ein Kosename Budapests – trägt schwarz: Zwar zeichnet LeBor das Bild einer pulsierenden Metropole, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs rasant und ebenso rabiat modernisiert, aber sie fußt auf einem Sumpf aus Korruption und Verbrechen, der bislang nicht trockengelegt wurde. Alte unheilvolle Seilschaften bestehen immer noch und die Geister der Vergangenheit gehen weiterhin munter umher: »Vielleicht spukte es dort. Das galt für genug Gebäude in Budapest. Es gab Legionen von Gespenstern, die durch die Stadt streiften: enteignete Aristokraten, die in ihren Palästen an der Andrássy út verweilten; jüdische Mittelschichtsfamilien in den Art-déco-Wohnblocks des XIII. Bezirks; lange verschwundene schwäbische Händler, die auf dem Hügel auf der Lauer lagen, der in Buda nach ihnen benannt war, der Svábhegy im XII. Bezirk.«
LeBor kennt sich offenbar auf den Straßen des »Paris des Ostens« sehr gut aus – ebenso in seinen Amtsstuben und Redaktionsräumen, wie etwa die von großer Sachkenntnis gefüllten Kapitel um Baltazárs Ex-Geliebte, die Reporterin Enikő, zeigen. Das ist kein Zufall: Der britische Journalist lebt bereits seit 1991 in Budapest und arbeitet dort als Auslandskorrespondent. Auch Bücher schreibt er seit Längerem: 1997 debütierte LeBor mit einem Bericht über die Verwicklung Schweizer Banken in die Verbrechen des Deutschen Reichs, es folgten die erste autorisierte Biografie von Slobodan Milošević sowie Werke über die Vereinten Nationen, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und über das Zusammenleben von jüdischen und arabischen Familien in Tel Aviv.
Im fiktionalen Fach begann LeBor 2009 mit dem Thriller »The Budapest Protocol« – sechs weitere folgten: Drei davon mit der israelischen UN-Unterhändlerin Yael Azoulay in der Hauptrolle und zuletzt die drei Krimis um Balthazar Kovács, von denen »Zwischen den Korridoren« der zweite ins Deutsche übersetzte Band ist. Auf die Frage des US-amerikanischen Onlinemagazins THE FORWARD, warum er sich als seriöser Sachbuchautor zum vermeintlich trivialen Krimi-Genre herablasse, antwortete LeBor: »Fiktionales zu schreiben, ist die größte Herausforderung für einen Autor. Fiktion erfordert größere Kreativität, tieferes Denken und mehr Selbstvertrauen. Angehende Romanschriftsteller müssen aus Gummi und Teflon gemacht sein, um sich von Zurückweisungen nicht unterkriegen zu lassen. Aber wenn du dir am Schreibtisch, im Bus oder im Bad lebhafte Charaktere und fesselnde Geschichten ausdenkst und es richtig hinbekommst, geben dir Verlage Geld und verkaufen deine Bücher. Was könnte besser sein als das?«
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Adam LeBor, 1961 geboren und aufgewachsen in London, studierte in Leeds, wo er das Universitätsmagazin leitete. Nach der Arbeit bei verschiedenen Londoner Tageszeitungen zog er 1991 nach Budapest. Hier arbeitet er seitdem als Osteuropa-Korrespondent z. B. für die NEW YORK TIMES, den ECONOMIST oder NEWSWEEK. 1997 debütierte er mit »Hitler’s Secret Bankers« als Sachbuchautor, 2009 im Thriller-Fach mit »The Budapest Protocol«. »Zwischen den Korridoren« – der zweite Fall von Baltazár Kovács folgt auf »District VIII« (Polar, 2023). Der dritte Teil »Dohany Street« ist noch nicht auf Deutsch erschienen.
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