Die besten Krimis für den Sommer 2024:
Joe Thomas
Brazilian Psycho
Ü: Alexander Wagner
btb, 640 S.
Joe Thomas spaltet mit »Brazilian Psycho« die Gemüter. Panoramisch zeichnet er anhand von Verbrechen das Bild einer Stadt. Foto: Oliver Holms.
São Paulo, Stadt der Gegensätze. Hochstadt des Verbrechens, bevölkerungsreichste Stadt Amerikas, reichste Stadt Lateinamerikas, chaotisch, unübersichtlich, riesengroß – und damit wohl folgerichtig einer der faszinierendsten Schauplätze für Krimis und Thriller: Von »Gestapelte Frauen« der aus São Paulo stammenden Autorin Patrícia Melo zum Beispiel, das es vor drei Jahren auf Platz 1 der Buchkultur-Krimijury-Wertung geschafft hat und die Femizide dieser Stadt zum Thema macht; aber auch im jüngeren Werk der brasilianischen Schriftstellerin, die in der Schweiz lebt – »Die andere Stadt« (siehe Seite 7) – ist die Megacity Protagonistin. Dass auch der Brite Joe Thomas São Paulo als Setting für seinen Roman »Brazilian Psycho« auserkoren hat, liegt aber hauptsächlich daran, dass er zehn Jahre in und mit diesen Gegensätzen gelebt hat, sie hautnah erlebt hat. Viele seiner Figuren leben in dem Haus, in dem auch er damals gewohnt hat.
Vor allem die extremen Kontraste hätten ihn dazu verleitet, seine vierteilige Reihe, das »São Paulo Quartet«, zu Papier zu bringen, erzählt er in einem Interview. Die schwer zu fassende Parallelität des schwelenden Rassismus, der diese kulturell ausufernde Stadt prägt, die Tatsache, dass eines der größten Pride-Events der Welt hier stattfindet, unter den Augen der konservativen Eliten, die sich mit aller Kraft gegen jegliche Veränderung stellen. Die sich durch alle Bevölkerungsschichten ziehende Kriminalität – als Korruption einmal unsichtbar, in Form von Gewalttaten vor allem in den Favelas sichtbar.
Der bisher einzige ins Deutsche übertragene Teil des Quartetts ist zugleich auch der außergewöhnlichste. Während Thomas‘ Vorgängerromane sich hauptsächlich auf einzelne Fälle des Ermittlers Mario Leme konzentrieren, nimmt »Brazilian Psycho« (im Original bereits 2021 erschienen) die weite Spanne zwischen 2003 und 2019 in den Blick, erzählerischer Leitfaden über die Jahre hinweg ist die Suche nach einem Serienmörder. Das ermöglicht ihm ein Panorama der politischen Geschehnisse, die erste Regierungszeit unter Lula da Silva, der sich sowohl mit radikalen Sozialprogrammen wie »Bolsa Família« als auch mit extremer Korruption einen Namen gemacht hat (und seit 2023 wieder im Amt ist), später die Wegbereitung für den ultrarechten Jair Bolsonaro. Thomas sei durch die Stadt gefahren und habe die Leute, die in Autos sitzen, im Unterschied zu jenen, die sich mit Bussen fortbewegen, beobachtet. Das sei der Ausgangspunkt für sein Schreiben gewesen, sagt er.
Tatsächlich ist die weitläufige Handlung, die sich stark an Fakten orientiert und nur manchmal mit Fiktion gewürzt wird, ein wenig mit solch einer Fahrt durch Stadt und Zeit vergleichbar. Der initiale Mord an einem Schuldirektor etwa beruht auf realen Geschehnissen an der Schule, an der Thomas unterrichtete. Der »Park Maniac«-Serienkiller ließ auch in der Realität die Stadt die Luft anhalten. Joe Thomas erschreibt sich sein eigenes Genre, stellt etwa reale Zitate unterschiedlichster Personen jeweils an Kapitelanfänge, verwebt unterschiedlichste Erzählformen, oft reale Archivdokumente unterbrechen den Text immer wieder. Die Figurenpalette, die sich über die Abschnitte hinweg ansammelt, ist beachtlich: Am Ende dienen fünfeinhalb dichtgeschriebene Seiten als Personenregister. Dass diese so eigene Erzählweise auch verwirren kann, ist gewissermaßen vorprogrammiert. Doch all das ist Teil der Strategie, Gipfel des Schreibverständnisses des Autors: Krimis und Thriller haben die Verpflichtung, politisch zu sein, sie sind Werkzeug einer Recherche, sagt Thomas. Das Whodunit interessiert ihn nicht – das ist dem Buch auch anzumerken. Viel vordergründiger ist für ihn die Frage, warum es zu Gewalttaten überhaupt kommen kann, daher habe er sich auch für dieses Narrativ entschieden.
Und wer nun am Ende dieser »Brazilian Psycho« ist? Die Auflösung geht unter in der Melodie dieser epischen Stadt.
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