Knapp an den Top 10 unseres Krimisommers vorbeigeschrammt: Dieser Kriminalroman mit atemberaubender atmosphärischer Dichte hat sehr viel mehr als Suspense anzubieten.
Die vielzitierten Goldenen Zwanziger Jahre glänzen nur für wenige. Berlin gibt sich alle Mühe, aus dem provinziellen Mief, der Zerstörung des Ersten Weltkriegs aufzutauchen. Aber zwischen Cartier und Kokain schlurft das Elend durch die Hinterhöfe, bemüht sich die Pelzmantelgesellschaft, die Kriegszitterer zu übersehen und rümpft die Nasen über Frauen, die sich fürs tägliche Brot prostituieren müssen. In dieses Setting, das sie eindrücklich konstruiert, stellt I.L. Callis ihre Protagonistin Anaïs Maar – eine junge Journalistin mit einem bemerkenswerten Lebenslauf. Als Adoptivkind einer wohlhabenden Tante könnte sie sich reich verkuppeln lassen, aber Anaïs will ihre eigene Karriere, interessiert sich für Kultur, Gerechtigkeit – und Boxen. Dass sie es als Frau im Journalismus nicht leicht hat, liegt auf der Hand und das Boulevardblatt, bei dem sie gerade ihre Sporen verdient, ist nicht das Ende ihrer persönlichen Fahnenstange. Als sie nolens volens in der Kriminalberichterstattung landet, gerät sie aufgrund ihrer Artikel ins Fadenkreuz jenes Serienmörders, der als »Berliner Ripper« firmiert. Und nicht nur sie selbst ist in Gefahr.
Der Krimiplot ist rasant, voller red herrings und Wendungen, gut durchkomponiert – aber noch spannender ist die gesellschaftspolitische Dimension des Bandes. Kein Wunder, die gebürtige Italienerin Callis wuchs in Berlin und Paris auf und studierte in Salzburg Jura, forschte am Institut für Europäische Rechtsgeschichte zur Zeitgeschichte und zur nationalsozialistischen Gesetzgebung und gehört den International Thriller Writers an.
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I.L. Callis
Doch das Messer sieht man nicht
emons, 352 S.