Die Buchkultur-Jury 2024 für »Die besten Krimis für den Sommer«:

Grit Burkhardt | Buchhandlung totsicher, Berlin
Monika Dobler | Buchhandlung Glatteis, München
Cornelia Hüppe | Buchhandlung Miss Marple, Berlin
Christian Koch und Robert Schekulin | Krimibuchhandlung Hammett, Berlin
Johannes Kössler | Buchhandlung Seeseiten, Wien
Maria Leitner | Redaktion Buchkultur
Thomas Przybilka | Krimiarchiv Bonn
Walter Robotka | Buchhandlung Mord und Musik, Wien
Elisabeth Schippel | Buchhandlung Krimisalon, Wien
Sylvia Treudl | Redaktion Buchkultur
Thomas Wörtche | Kritiker und Herausgeber (enthält sich der Stimmen für Suhrkamp)



In den Weiten Kanadas

Frauke Buchholz
Skalpjagd
Pendragon, 264 S.

Platz 10

Das Böse macht auch vor den Naturschönheiten Vancouvers nicht halt.

Der kanadische Profiler Ted Gardner möchte am Beginn seines dritten Falles den Polizeidienst quittieren und eine psychotherapeutische Praxis eröffnen. Auf einem Kongress lernt er die österreichische Therapeutin Susanne Hofstätter kennen, die er zu einer nächtlichen indigenen Zeremonie begleitet. Am Morgen danach findet er sich am Boden des Zeltes wieder, neben ihm die skalpierte Kollegin. Ted verliert die Nerven, taucht unter und ermittelt auf eigene Faust, anstatt sich bei der Polizei zu melden. Das Ermittlerduo Nora Jackson und Frank Lombardi ist ihm dabei dicht auf den Fersen.

Dieser rasante und atmosphärische Krimi lebt nicht nur von seinen charismatischen Ermittler-Figuren und dem kniffligen Fall, sondern vor allem auch von dem Setting in Vancouver und dem benachbarten Vancouver Island, von der kanadischen Wildnis und dem Zusammenstoßen von indigenen Bewohnern und weißen Einwanderern. Letzteres ist genauso omnipräsentes Thema wie die persönlichen Abgründe der Figuren. Vielperspektivisch begleitet man die Protagonisten auf ihren Jagdzügen, dringt weit in Kanadas Wildnis ein und kann sich dem Zauber des Indigenen kaum entziehen. Verklärt wird hier freilich nichts, im Gegenteil, die Kluft, Reibungen und Gegensätze zwischen »weiß« und »nicht weiß« sind auf jeder Seite spürbar. Dazwischen lauern das Böse und die Gier nach Geld. Gekonnt angelegter, den Spannungsbogen bis zur letzten Seite haltender Krimi mit filmreifem Showdown für alle diejenigen, die Action eingebettet in ein atmosphärisches Setting mögen. (Karoline Pilcz)


Raffinement pur

Val McDermid
Die Gabe der Lüge
Ü: Karin Diemerling
Droemer, 480 S.

Platz 9

Die schottische Grande Dame des Krimigenres verlegt ihren Plot in den Lockdown des Jahres 2020.

elbstverständlich geht es nicht um ein larmoyantes Abarbeiten des Lockdowns, vielmehr besteht das Meisterhafte in der atmosphärischen Dichte, die Val McDermid der Wahlheimat ihrer bestens bekannten Ermittlerin Karen Pirie einschreibt. Karen – nach wie vor bei der Historical Case Unit in Edinburgh und nach wie vor mit ihrer unangenehmen, machtbesessenen Vorgesetzten geschlagen – ist unterstützt von einem wunderbaren Team, in dessen Rahmen sich auch Jason, der »Minzdrops«, vom etwas einfältigen, aber liebenswerten Mitarbeiter zu erstaunlichen Fähigkeiten hin entwickelt. Die Zeit steht nur an der Oberfläche still, denn Karen stößt auf einen Vermisstenfall, der ungeklärt ist. Seltsame Parallelen tun sich auf, als das Manuskriptfragment eines mittlerweile verstorbenen, ehemals berühmten Krimischriftstellers in dessen Nachlass auftaucht. Aber hat Fiktion genügend Beweiskraft, um in seriösen Ermittlungen zu münden? Andererseits tun sich da noch ganz andere Zusammenhänge auf. Die Raffinesse des vorliegenden Titels besteht nicht nur im erkennbaren Vergnügen, mit dem die Queen of Crime einen Krimi im Krimi anlegt, sondern auch in der Bezugnahme auf das Genre insgesamt und in den amüsant-bissigen Anmerkungen zum Literaturbetrieb. Ohne jede Anmutung von Überkonstruiertheit webt McDermid noch weitere Stränge in den Plot und schafft auch das Kunststück, anrührend die Pandemie-Zeit abzuhandeln. Brillant, überzeugend und – erneut die Meisterinnenklasse – auch ohne Lektüre der Vorgängerbände nachvollziehbar. (Sylvia Treudl)


Wenn aus Wut Literatur wird

Patrícia Melo
Die Stadt der Anderen
Ü: Barbara Mesquita
Unionsverlag, 400 S.

Platz 8

Die Brasilianerin Patrícia Melo erzählt Geschichten rund um einen Ort der
Wohnungslosen.

»Die Stadt der Anderen«, der neue Roman von Patrícia Melo, ist ein Buch, das vor Wut schäumt. Wut ist nicht immer ein gutes Betriebsmittel für Literatur, in diesem Fall allerdings schon. Denn die Zustände, die Melo hier beschreibt, kann man vermutlich gar nicht anders kommunizieren.
Die Stadt, das ist São Paulo, die Anderen sind nicht die, die man ansonsten gerne als die Marginalisierten und Unterdrückten beschreibt. Die Anderen sind hier die, die diese Zustände zu verantworten haben. Die Menschen, von denen hier zentral erzählt wird, fristen rund um den Praça da Matriz ihr Dasein – Obdachlose, Abgestürzte, Kriminelle, Drogensüchtige, Trans-Menschen, Huren, Diebe, Durchgeknallte. Die staatlichen Versorgungseinrichtungen funktionieren nicht, Polizei und Militär sind korrupt und ultrabrutal. Evangelikale Kirchen versuchen, aus diesen Umständen heraus, arme Seelen für ihre Bewegung zu rekrutieren, die ihren totalitären Zielen dienen sollen. Und die Anderen, die »anständigen Bürger« der Millionenstadt, deren Wohlleben auf Ausbeutung basiert, deren Rassismus den Aufstieg für viele Menschen unmöglich macht, und die schon der Wahl Bolsonaros entgegenfiebern, die alles noch viel schlimmer machen wird, steigen achtlos über die hinweg, die schon längst am Boden liegen.

Wie anders als mit Wut soll man solche Geschichten erzählen? Zumal Patrícia Melo durchaus utopische Momente zulässt, nicht alles in Hoffnungslosigkeit versinken lässt. Da wird dann Wut zum positiven literarischen Antrieb. Beeindruckend. (Thomas Wörtche)


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