Ein Puma geht um in LA oder: Der Mensch aus Löwensicht


Der erste Satz von Henry Hokes »Ganz wie ein Mensch« hat definitiv das Zeug, in die Geschichte der besten ersten Sätze einzugehen. »Ich habe noch nie einen Menschen gefressen aber heute könnte es so weit sein«, setzt die Erzählung des durch den Griffith Park streifenden Pumas ein. Bei diesem Berglöwen, durch dessen Augen wir die Bewohner/innen von »Ellej« auf teils lakonisch-unbedarfte, teils neugierig-blutleckende Art und Weise vorgeführt bekommen, handelt es sich um niemand Geringeres als »P-22«, eine der Realität Los Angeles‘ entnommene Großkatze, die eine Zeit lang recht friedlich und ohne großen Appetit auf Menschen ihr Dasein rund um das »Hollywood«-Sign fristete. Bis ein Autounfall und diverse chronische Krankheiten sie dermaßen schwächten, dass sich die zuständigen Wildhüter 2022 gezwungen sahen, das Tier einzuschläfern. Spätestens bei seinem Memorial, für das die Tickets innerhalb kürzester Zeit ausverkauft waren, wurde klar: P-22 war selbst zum Hollywood-Star avanciert. Eine eigenartige Verquickung – die Natur in Form einer Raubkatze, die rund um die »City of Stars« umherpirscht.

Das mag sich auch Henry Hoke, Lehrender für Kreatives Schreiben an der University of Virginia, gedacht haben, als ihm die Idee kam, das Tier zum Protagonisten seines Prosagedichtes zu machen. Hoke gibt ihm eine Stimme und es spricht gänzlich ohne Punktion, die einzelnen Beobachtungen jeweils großzügig mittels Zeilenumbrüche getrennt – ganz so, als hätte Hoke den wachen, scheuen Blick in Sprache gegossen. Die Mischung aus Verwunderung und Selbstverständnis, mit der das Tier die Wanderer und andere Menschen, auf die es trifft, beobachtet, schlägt sich in den herrlich missverstandenen menschlichen Worten nieder (»Ellej«, »Scare City« statt »scarcity« – wobei letzteres auf Deutsch leider nicht so wirklich funktioniert) sowie in den von der Katze selbstbenannten menschlichen Dingen (»der lange Tod« etwa ist die Autobahn, »grünes Papier« ist Geld). Ich wollte, dass die Missverständnisse bedeutungsvoll sind, vor allem in Bezug auf die eigene Position und damit einhergehende Privilegien, sagt der Autor. Immer mal wieder kommt es auch vor, dass der Puma selbstreflexiv wird (»Das ist ein Puma Jane sagt er ein gottverdammter Puma // Nennt man mich so«) und gewissermaßen durch die Menschenaugen über sich dazulernt – dabei, und das ist der so geniale wie auch subtile Coup dieses Textes, ist es natürlich genau umgekehrt: Der Spiegel wird uns vom Berglöwen vor Augen gehalten.

Henry Hoke
Ganz wie ein Mensch
Ü: Stephan Kleiner
Eisele, 192 S.