Dieser Roman ist eine Aufforderung, die Beziehung zwischen zwei Menschen völlig neu zu denken.


Hat sich schon einmal ein Mensch, der Ihnen sehr wichtig ist, von Ihnen entfernt, weil er oder sie krank war? Sich zurückgezogen und den Kontakt (fast) abgebrochen? Genau das passiert der Erzählerin in Paula Fürstenbergs neuem, grandios guten Roman »Weltalltage«. Max ist der beste Freund der Erzählerin, sie kennen sich seit Kindheitstagen, haben es auch mal kurz als Paar versucht, aber dann festgestellt, dass ihre Verbindung anders funktioniert. Nun will sie einen Roman über ihre Freundschaft schreiben, darüber, wie sie füreinander die wichtigsten Menschen auf der Welt geworden sind und was es eigentlich bedeutet, eine so tiefe Verbindung jenseits der heteronormativen Zweier-Paarbeziehung aufzubauen und zu halten. Sie sind beide kurz vor der Wende in Ostdeutschland geboren und wurden beide von alleinerziehenden Müttern aufgezogen. Was sie an Vätern und materiellem Wohlstand nicht hatten, das gaben sie einander. Als bei der Erzählerin ein chronischer Schwindel auftritt und sie deswegen weder Radfahren noch Schwimmen darf, baut Max einen Fahrradanhänger für sie und absolviert einen Rettungsschwimmer-Kurs. So können sie trotzdem jeden Sommer gemeinsam an den See fahren. Auch als Erwachsene buchstabieren sie ihre Freundschaft nicht nur durch rotweinselige Abende in der gemeinsamen WG-Küche, sondern durch Fürsorge und die Bereitschaft, den anderen auch dann zu unterstützen, wenn es anstrengend wird. In der Gegenwart der Geschichte muss nun die Erzählerin diese Bereitschaft aufbringen, denn nach dem Suizid seines Onkels fällt Max in eine schwere Depression. Ihren Lebensfreund so leiden zu sehen, ist für sie schwer zu ertragen, sie fühlt sich hilflos und oft abgewiesen. Gleichzeitig versucht sie weiter an dem Roman über ihre Freundschaft zu schreiben. Als ihr endlich ein Verlagsvertrag angeboten wird und sie Max um Erlaubnis bittet, ihre gemeinsame Geschichte als Roman zu veröffentlichen, verweigert er seine Zustimmung. In dieser Szene schreibt sich Paula Fürstenberg nicht nur an den verwundbarsten Punkt dieser Freundschaft, sondern auch an das offene Herz der Literatur. Hat sie das Recht, ihre gemeinsame Geschichte als Material, oder wie Max es im Streit nennt »als Tonklumpen«, zu verwenden? Diese Frage ist hoch spannend und stellt trotzdem nur eine Dimension dieses vielschichtigen Romans dar. Denn es geht noch um so viel mehr: um die feinen Unterschiede zwischen Ost und West, um vererbte Traumata, um feministische Medizinkritik und um das Verhältnis zum eigenen Körper. Auch formal sticht der Roman aus der Masse heraus. Ob in mitreißend erzählenden Passagen, durch das sprachliche Mittel der Listen oder in philosophischen Reflexionen, Paula Fürstenberg ist mit »Weltalltage« ein absolut stilsicherer, hochintelligenter und einfühlsamer Roman gelungen.

Paula Fürstenberg
Weltalltage
Kiepenheuer & Witsch, 320 S.