Randall Kenans Magischer-Realismus-Roman ist eine grandiose Entdeckung.


Als George Orwell Schüler am Eton College war, beschäftigte er sich mit schwarzer Magie. Er wollte mit Voodoo-Praktiken aristokratischen Sprösslingen, die ihn mobbten, eine Lektion erteilen. Ähnlich glaubt der 16-jährige Schwarze Protagonist Horace Thomas Cross im Roman »Der Einfall der Geister« des US-amerikanischen Schriftstellers Randall Kenan mit okkulten Ritualen der Gesellschaft entfliehen zu können. Er wähnt, seine Homosexualität sei geisteskrank, und möchte sich mittels dunkler Riten in einen freien Vogel verwandeln.

So beginnt Kenans Debütroman, der bereits 1989 erschienen ist und nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Der mehrfach prämierte Autor ist zwar 1963 in New York geboren, wächst bald darauf in North Carolina auf, wo er bis zu seinem Tod 2020 die meiste Zeit seines Lebens verbringt.

Zurück zum Inhalt: Horace’ Verwandlung scheitert. Dafür hört und sieht er Dämonen und Geister, die ihn in der Nacht vom 29. auf den 30. April 1984 durch den fiktiven Ort Tims Creek in North Carolina lenken. Wie in Charles Dickens »Weihnachtsgeschichte« zeigen ihm die Geister Szenen aus seinem Leben: etwa die Beerdigung seiner Großmutter; die baptistische Predigt, bei der Homosexualität verurteilt wird; oder seine Liebesgeschichte mit dem gleichaltrigen Gideon, bei dem er sein Begehren zunächst akzeptiert. Und doch beendete er die Beziehung abrupt, da ihn Gewissensbisse plagten.

Autor Randall Kenan hat einen grandiosen queeren Roman mit autofiktionalen Zügen geschrieben. Über junge schwule Afroamerikaner, die in ländlichen Gebieten aufwachsen, wird kaum erzählt. Kenan verleiht ihnen somit Sichtbarkeit und dekliniert exakt jene Probleme, wenn junge Männer mit heteronormativen Wertvorstellungen einer religiösen Gemeinschaft hadern und regelrecht krank werden. Meisterlich vermischt Kenan dieses Thema mit anderen umherschwirrenden »Dämonen und Geistern«, etwa mit den Folgen der Sklavenhaltung in North Carolina. Schade nur, dass Kenan HIV/AIDS, rassistische und homophobe Polizeigewalt sowie das bis 2003 existierende »Sodomiegesetz« in North Carolina ausklammert.

Abgesehen davon besticht der Roman insbesondere durch Form und Stil: Zum einen lesen wir die Geschichte aus unterschiedlichen Erzählperspektiven auf diversen Zeitebenen: Einmal im Jahr 1984, einmal 1985 – in Form von Bekenntnissen, als Requiem oder in Dialogform. Und was für Dialoge! Wie aus dem Leben aufgenommen. Des Weiteren beschreibt Kenan seine Szenen sehr lebendig, teils sinnlich. Mit humorvollen Passagen und ironischen Pointen. Welch tolle Entdeckung!

Randall Kenan
Der Einfall der Geister
Ü: Eva Bonné, Aminata Cissé
Suhrkamp, 300 S.