Denise Buser zeigt, wie man Dichterinnen vor dem Vergessen rettet. Abbildung: Flickr/Carole Raddato


Wie man den literarischen Kanon weiblicher machen kann, zeigte sich besonders eindrücklich im Jahr 2021 anlässlich des 400. Geburtstags von Sibylla Schwarz. Gefeiert wurde die mit nur 17 Jahren gestorbene deutsche Barockdichterin mit drei Ausgaben in drei Verlagen: mit einer Werkauswahl, dem ersten Band einer Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe und einer Neuauflage der postum veröffentlichten »Deutschen poetischen Gedichte« (1650). Dass ihre Lyrik zu einer feministischen Lesart einlädt, macht die Sache nur noch interessanter und sie zu einem Bezugspunkt der Gegenwartsdichtung.

Noch im selben Jahr veröffentlichte Nicole Seifert ihr Debattenbuch »FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt«, in dem sie den Beweis dafür antritt, dass literarische Werke von Frauen seit Jahrhunderten herabgemindert werden. Wenn sie auf ihrem Blog oder in ihren sozialen Netzwerken etwas empfiehlt, dann fast ausnahmslos Bücher von Frauen oder von, historisch gesehen, marginalisierten Personen.

Denise Buser macht es ihr glücklicherweise nach und stellt in ihrem Husarenstück »Dichten gegen das Vergessen« nur Dichterinnen vor, die es verdienen, (immer wieder) erinnert zu werden. Auch Sibylla Schwarz ist darunter zu finden. Busers Zugang ist ein persönlich-subjektiver, ein literarischer. Die ausgewählten Autorinnen sind ihr eine Inspirationsquelle zu etwas Eigenem, zu jeweils einem literarischen Portrait, einer »fiktionalen Erzählung«, wie sie es nennt, in der »die wahre Dichterin« besser hervortreten könne als in einem biografischen Sachtext. Ihr Buch ist damit Eigenwerk und Anthologie zugleich; letztere ist als Anhang gekennzeichnet.

Persönlich ist der Zugang auch deshalb, weil Buser in ihrem Gegenstand bisweilen Trost findet. Die Trauerdichtung von Al-Khansāʾ etwa habe sie gelesen, als ihre Mutter gestorben sei: »O meine Augen, wie groß ist euer Tränenfluss,/ doch gering ist er angesichts des Unglücks,/ das Namenlose, das mich trifft/ und jedem meiner Schritte folgt«, heißt es in »Verzehrt von Traurigkeit« in einer zeitlos daherfließenden Sprache der Klage. Die arabische Dichterin lebte im 7. Jahrhundert und schrieb viele ihrer berühmtesten Gedichte im Andenken an ihren im Krieg gefallenen Bruder Sakhr, was auch Thema des dazugehörigen literarischen Portraits ist. Während sie in der arabischen Literatur einen festen Platz hat, ist sie hier nahezu unbekannt – anders als zum Beispiel die chilenische Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral, die afroamerikanische Dichterin und Aktivistin Audre Lorde, die deutsch-jüdische Lyrikerin Gertrud Kolmar oder die argentinische Poetin Alejandra Pizarnik, die von Buser mitberücksichtigt werden.

Neben Al-Khansāʾ stößt man schließlich auch auf eine mittelalterliche Trobairitz (das Pendant zum Troubadour), eine Renaissancedichterin, eine der ersten finanziell unabhängigen Berufsschriftstellerinnen in Deutschland oder eine amerikanische Hippie- und Beat-Poetin. Die eigentlichen Entdeckungen sind die schweizerische Mundartdichterin Helene Bossert, die nach einem Aufenthalt in der Sowjetunion ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wurde und ihre Gedichte zeitlebens im Selbstverlag veröffentlichte, und die für ihre romantischen Tanke-Verse gerühmte Japanerin Yosano Akiko, die 13 Kinder zur Welt brachte und eine Feministin war und von der die schönsten Gedichte in »Dichten gegen das Vergessen« stammen. Ein Beispiel: »Gebadet und warm/ stieg sie aus der Quelle,/ und zarte Haut/ schmerzte schon beim Kontakt/ mit Seide aus der Menschenwelt.«

Denise Buser
Dichten gegen das Vergessen.
Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden
Zytglogge, 264 S.