Shehan Karunatilaka aus Sri Lanka erhielt für seinen Roman »Die sieben Monde des Maali Almeida« den Booker-Preis 2022. 30 Jahre davor, also 1992, erhielt Michael Ondaatje, ebenfalls in Sri Lanka geboren, diesen Preis. Ein Vergleich. Foto Shehan Karunatilaka: Dominic Sansoni
»Die Sieben Monde des Maali Almeida« haben eine lange Geschichte. Der 1975 im Süden Sri Lankas geborene Karunatilaka schrieb Rocksongs, Drehbücher und Reiseerzählungen und erhielt für sein Romandebüt »Chinaman« 2010 den Commonwealth Book Prize, der für Erstlingswerke ausgerichtet ist. 2015 veröffentlichte er unter dem Titel »Devil Dance« seinen zweiten Roman. Der erschien in Indien als »Chats with the Dead«, war aber bei einem internationalen Verlag, weil undurchschaubar und schwierig für westliche Leser, nicht unterzubringen. So nützte Karunatilaka die zweijährige, durch Covid bedingte Pause, um das Buch zugänglicher zu machen. Und gewann mit dem Booker Preis immerhin den wichtigsten britischen Literaturpreis. Die Jury fand, dass das Buch voll mit Energie und Einbildungskraft, eine umfassende surreale Vision des Bürgerkriegs in Sri Lanka wäre und lobte seine Kühnheit und seinen Wagemut. Das Buch spielt 1989, also mitten im von 1983 bis 2009 dauernden Bürgerkrieg, in dem die Regierung, die hinduistischen Tamilen und die buddhistischen Singhalesen gegeneinander kämpften. Mittendrin erzählt Maali Almeida. Er ist nach Eigendefinition »Fotograf, Spieler, Schlampe«. Maali ist tot und hat sieben Monde, also eine Woche Zeit, seinen Mörder zu finden und seine Fotos, auf denen er Verbrechen festgehalten hat, die sonst keiner gesehen hat, in Sicherheit zu bringen. Angesiedelt ist das Geschehen in einem heillos übervölkerten Zwischenreich, in dem man endlos verweilen, ein Dämon werden oder aber das Licht zu suchen kann, um dann alles zu vergessen und sich in den Kreislauf der Wiedergeburt fallen zu lassen. In dieser Landschaft voll Slums, bröckelnder Bauten und zerklüfteter Dächer herrscht Heulen und Zähneknirschen, »es klingt wie Ameisen mit Mikrofonen, die über einen Kadaver krabbeln«, Geister fluchen, aus Plastiksäcken mit stinkenden Leichenteilen steigen eigenartige Erscheinungen auf, auch Höllenwesen erscheinen. Karunatilaka überfällt einen mit den Ausgeburten seiner Fantasie, beschreibt minutiös die Abscheulichkeiten, die Maali auf seinen Fotos festgehalten hat. Hin und wieder besänftigt Zwischenmenschliches: Maali ist schwul, hat eine Pro-Forma-Freundin, die ihn liebt, und einen Geliebten, den er betrügt. Letztlich gibt er beim Betrachten seiner Bilder zu, dass die Insel Sri Lanka ein zauberhafter Ort sei, »auch wenn sie mit Trotteln und Bestien bevölkert wird.«
Wie sich in den letzten Jahren die Weltliteratur von der europäisch-westlichen entfernt hat, merkt man, wenn man 20 Jahre zurückgeht und in Michael Ondaatjes »Anils Geist« aus dem Jahr 2003 hineinliest. Der in England und Kanada sozialisierte Ondaatje erhielt 1992 den Booker-Preis für »Der englische Patient« und 2018 zum 50. Jubiläum den »Golden Man Booker Prize« für dasselbe Buch. »Anils Geist« ist die Geschichte einer Gerichtsmedizinerin, die nach jahrelanger Abwesenheit nach Sri Lanka zurückkehrt und dort beweisen soll, dass auch Regierungstruppen am allgemeinen Töten teilgenommen haben. »Schatz, ich bin wieder da, sagte sie, während sie die Hand ausstreckte und ihre Handfläche einen Millimeter über der Leiche hielt, um die Körperwärme zu spüren. Die Körperwärme, nicht mehr seine, nicht mehr ihre.« In diesem Buch kommen schon auch Köpfe auf Pfählen und ausgegrabene Skelette vor, aber das wird alles eingebunden in die Landschaft Sri Lankas, ins Geschehen zwischen den drei Hauptfiguren, das »Schreckliche und das Schöne stehen nebeneinander«, wie es in einer Rezension hieß.
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Shehan Karunatilaka
Die sieben Monde des Maali Almeida
Ü: Hannes Meyer
Rowohlt, 544 S.
Michael Ondaatje
Anils Geist
Ü: Melanie Walz
dtv, 326 S.