»Quallen haben keine Ohren«: In ihrem kraftvollen, poetischen Debütroman erzählt die Französin Adèle Rosenfeld aus eigener Betroffenheit, wie das Leben und der Alltag sich verändern, wenn man sein Hörvermögen verliert. Foto: Jean-François Paga


Die Ich-Erzählerin Louise muss sich entscheiden: Soll sie sich ein Implantat setzen lassen oder stattdessen die Zeichensprache erlernen? Soll sie in der Welt der Hörenden verbleiben (zu der sie doch nie ganz gehört hat) oder sich auf die Seite der Gebärdensprachler schlagen? Im Interview erzählt Adèle Rosenfeld über die Scham und die Chance, die mit dieser unsichtbaren Beeinträchtigung einhergehen, den fragwürdigen Begriff der Normalität und die heilende Kraft der Literatur.

Buchkultur: Wie autobiografisch ist Ihr Roman?

Adèle Rosenfeld: Dieser Roman ist zum Teil autobiografisch. Mit Louise, der Erzählerin, teile ich eine Besonderheit der Sinne: Wie sie bin ich von Geburt an schwerhörig und auch ich habe einen Gehörverlust erlitten, der die Frage nach einem Implantat aufwarf. Ich habe hingegen Louise das durchleben lassen, was ich mich immer noch frage: das Einsetzen eines Implantats. Das Fiktive ist dennoch besonders präsent im Text, da ich eine vollwertige Figur erschaffen habe mit ihrem eigenen emotionalen Räderwerk und einem Leben, das ganz ihr gehört.

Ich hatte in der Schule eine Freundin, die schwerhörig war, aber es den Lehrern nicht sagte. Sie kam im Unterricht nicht mit, obwohl sie sehr gescheit war. Sie war schüchtern und sprach sehr leise. Die Lehrer sagten zu ihr: Sprich doch lauter! Auch Louise im Buch versteckt ihre Beeinträchtigung. Weshalb? Und wie war das bei Ihnen?

Mit dieser unsichtbaren Beeinträchtigung geht eine Scham einher, die bei den von Geburt an Schwerhörigen häufig ist. Anders zu sein, vor allem innerhalb einer Gruppe, ist oft die Quelle großer Verlegenheit, besonders in der Schule. Man versucht sich an der Norm zu orientieren und die Beeinträchtigung zu kaschieren und zu verbergen – umso mehr, als man diese nicht sieht.

Der Soldat, die Botanikerin, der Hund – nur Louise nimmt diese Gestalten in ihrer Fantasie wahr. Wofür stehen diese starken Metaphern im Buch? Was symbolisieren sie?

Jede der Figuren steht für einen Gefühlszustand der Erzählerin. Der Hund repräsentiert die Wut, der Soldat den Krieg zwischen der Gehörlosen und der Hörenden und den Kampf, den es durchzuhalten gilt, und die Botanikerin das Archiv der verschwundenen Klänge und die Fantasie, die diese Lücken füllt. Aber diese imaginären Weggefährten schränken die Erzählerin auch ein, verfolgen ihre eigenen Zwecke und isolieren sie von der Realität. Es ist diese Spannung zwischen Realität und Imagination, die ich darstellen wollte, bis zur finalen Entscheidung.

Was sind die sozialen Folgen des Hörverlusts? Louises Depression – mussten Sie das auch durchmachen?

Es gibt eine große Ermüdung, die an diese Beeinträchtigung geknüpft ist, die die Aufmerksamkeit befällt, die Worte, den Austausch, und diese Müdigkeit ist eine tägliche. Da kann es auch Momente des Rückzugs und der Verzweiflung geben, die zu einer Depression führen.

Louise muss sich entscheiden, ob sie sich ein Implantat setzen lässt oder nicht. Weshalb fällt ihr diese Entscheidung so schwer? Haben Sie selbst ein Implantat?

Ich habe kein Implantat. Dieses Buch ist eben ein Roman, keine Zeugenaussage. Die Erzählerin ist, wie schon gesagt, eine fiktive Figur. Ich brauchte dieses fiktive Double, um das Feld der Möglichkeiten zu öffnen, um mit ihrer Hilfe diese Fragen zu erörtern, sie zu teilen. Ich lasse sie eines meiner möglichen Leben leben. Wie schon Kundera gesagt hat: »Der Roman erforscht nicht die Realität, sondern die Existenz. Und die Existenz ist nicht das, was sich abgespielt hat, die Existenz ist das Feld der menschlichen Möglichkeiten, ist all das, was der Mensch werden kann, wessen er fähig ist.« Das ist es, was ich mit diesem Roman versucht habe: Eine meiner zukünftigen Möglichkeiten zu erforschen oder eine gegenwärtige Möglichkeit, um mich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.

Lesen Sie, wie Louise, von den Lippen ab? Wie haben Sie die Zeit der Pandemie erlebt, als die Menschen Masken trugen?

Ja, ich lese von den Lippen ab. Die Pandemie war schrecklich. Mit den Masken wurde die Kommunikation unmöglich. Ich musste viele Projekte verschieben.

Als Louise einem von Geburt an Gehörlosen begegnet, der die Gebärdensprache benutzt, hat sie das Gefühl, dass er sie, die als »sprechende Oralistin« sozialisiert wurde, nicht als seinesgleichen akzeptiert und als Abtrünnige ausschließt.

Ich wollte den Unterschied zeigen zwischen den Gebärdensprachlern und den Schwerhörigen (die von den Lippen lesen und sprechen gelernt haben, Anm. d. Red.). Sie sind in unterschiedlichen Sprachwelten aufgewachsen, der französischen Gebärdensprache und der französischen Sprache, und das formt zwei Lager, zwei Kulturen. Sie sind nicht auf dieselbe Weise in unserer Gesellschaft großgeworden, auch wenn sie dasselbe akustische Päckchen zu tragen haben. Ich wollte mich auch mit der schmerzhaften Geschichte der Gebärdensprachler beschäftigen, in der der Oralismus vorherrscht.

Der Roman stellt wichtige Fragen, zum Beispiel über die »Normalität«. Denn was ist »normal«? Und weshalb ist es so wichtig für die Menschen, »normal« zu erscheinen?

Ja, ich wollte anhand von Louises Charakter unser Verhältnis zur Norm hinterfragen. Aufgrund ihrer Besonderheit fühlt sie sich oft wie in der Schwebe, als ob sie in einer Parallelwelt lebt. Sie hat ein zweideutiges Verhältnis zu dieser Normalität: Sie fühlt sich davon angezogen und zugleich verletzt, benachteiligt. Die Gesellschaft beruht auf Normen. Damit wächst man auf. Und man versucht, oft mehr schlecht als recht, sich anzupassen. Die Erschaffung eines Charakters mit einer besonderen Beeinträchtigung erlaubt es mir, diese Regeln und Anordnungen noch einmal zu hinterfragen: Wie gehen wir mit unseren eigenen Grenzen und Regeln um? Wo stehen wir? Louise, die Erzählerin, muss ihre Konturen permanent neu definieren, um in diesen Anforderungen nicht verloren zu gehen und zu wissen, was ihr entspricht.

Ihr Roman ist auch eine Liebeserklärung an die Literatur und das Lesen, an das geschriebene Wort. Hat Ihnen die Literatur geholfen, sich mit Ihrer Beeinträchtigung auszusöhnen? Hat die Literatur, hat die Fantasie Sie gerettet?

Ja, die Literatur war lebensrettend. Sie ist ein Ort, wo die Worte einen fixen Platz haben, man kann dorthin zurückkehren, die Worte sind für die Ewigkeit festgehalten. Auch als Kind war es die Literatur, die es mir erlaubte, am Reichtum der Sprache teilzunehmen, was mir im Mündlichen vollkommen entging, versagt blieb.

Die Fantasie und das Schreiben sind heute eine Art Wiedergutmachung für die lückenhafte Sprache, für die Zeit, in der ich nicht verstehe, was ich höre. Wenn ich schreibe, ist es, als würde ich diese Zeit zurückbekommen, als würde ich die Welt wieder geradebiegen, wieder in Ordnung bringen.

Die Stille ist für Louise zuerst ein Feind, den es zu bekämpfen gilt, ein Monster, das sich von Wörtern ernährt. Aber am Ende entdeckt sie auch jene Art der Stille, welche die Wörter und Bilder befreit, die von der Sprache gefangen gehalten werden. Die Stille – liegt darin auch eine Chance, die Welt von einer anderen Perspektive aus kennenzulernen und Nuancen zu entdecken, die andere nicht hören können? Ist die Stille auch eine Quelle des Reichtums in unserer lauten Welt?

Ich wollte die Ambiguität der Stille zeigen. Sie ist wie ein Loch, ein Abgrund, etwas Tödliches. Dann, nach und nach, zähmt Louise sie und macht daraus ihre Verbündete. Sie ist ein Teil von ihr, von der Sprache.

Ist Ihre Gehörlosigkeit auch eine Chance, (reiche und schöne) Erfahrungen zu machen, die uns anderen verschlossen sind? Eine Chance, das Leben anders zu leben? Haben Sie sich mit Ihrer Beeinträchtigung ausgesöhnt?

Unmöglich für mich, das zu beurteilen! Mit der Zeit, und das ist neu, habe ich gelernt, das zu genießen, was sie mir bringt: Ein einzigartiges Gefühl des (Zu-)Hörens, eine verzehnfachte Empfindungsfähigkeit, eine Qualität der Stille und eine gute Beobachtungsgabe. Das Schreiben von »Quallen haben keine Ohren« hat hier seinen Ursprung, und ich danke Ihnen für die freundliche Rezeption, die Sie dem Buch bereiten, aber die Mühe, die Schwierigkeit sind immer noch da.

Haben Sie schon eine Idee für Ihr nächstes Buch?

Ja, ich bin mitten im Schreiben meines zweiten Romans, der sich sehr stark von meinem ersten unterscheiden wird, auch wenn ich in einem aquatischen Universum bleibe.

Welche österreichischen Autorinnen und Autoren kennen, schätzen Sie?

Ich kenne nur die Klassiker: Elfriede Jelineks »Die Klavierspielerin« und Thomas Bernhards »Korrektur«. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich andere entdecken ließen!


Adèle Rosenfeld, Jahrgang 1986, ist seit zehn Jahren im Verlagswesen tätig (als Korrektorin). Parallel dazu arbeitet sie an diversen Schreibprojekten, u.a. zu Gaston Bachelard, Maurice Pons  und Jorge Luis Borges. Ihr beeindruckender Debütroman »Quallen haben keine Ohren« erschien 2022 im Original, schaffte es auf die Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde mit dem Prix Fénéon ausgezeichnet. Adèle Rosenfeld lebt in Paris.

Adèle Rosenfeld
Quallen haben keine Ohren
Ü: Nicola Denis
Suhrkamp, 221 S.