Das Debüt des Schweden Alex Schulman ist international viel gelobt – zurecht?
Das Ende vorwegzunehmen, das sich dann im Laufe der Geschichte erst nach und nach zusammenfügt, ist nicht erst seit Netflix und Co. ein beliebter Schachzug vieler Serien- und Drehbuchschreiber/innen. Kaum etwas erhält den Spannungsbogen besser aufrecht, als das in den Zuschauer/innen ausgelöste Gefühl, etwas verpasst zu haben, etwas nicht zu verstehen und damit die natürliche Neugier in Gang zu setzen. Auch Alex Schulman weiß, wie das funktioniert. Die Idee zu dem Twist in seinem Debüt „Die Überlebenden“, in dem Geschehnisse aus Gegenwart und Vergangenheit im unerbittlichen Wechsel stehen und die Gegenwartsszenen bis hin zur Schlüsselszene rückwärts geschrieben sind, kam ihm tatsächlich durch einen Film, erzählt er vorab. Der Schwede war vor gut zehn Jahren einer der erfolgreichsten Blogger in seinem Heimatland, am autobiografischen Schreiben erprobte er seine Fähigkeiten. Auch diesem Buch neigt man als Leserin zu unterstellen, dass es der Wirklichkeit entrissen ist. Das stimme aber nur teilweise, meint Schulman. Die Anfangsszene, die eigentlich die Schlussszene ist, und in der drei Brüder in der Wohnung ihrer toten Mutter einen Brief an sich finden, beruht tatsächlich auf realen Begebenheiten. Alles andere aber sei Fiktion.
Zum Glück, ist man versucht zu sagen, denn die Geschichte der drei Brüder Nils, Pierre und Benjamin – der mittlere, aus dessen Sicht der Roman erzählt ist – ist eine zehrende. Es ist die Geschichte einer verwahrlosten Kindheit, in der die Eltern oft betrunken sind, wenig Liebe für sich und ihre Kinder übrig haben und schon gar nicht wissen, wie sie mit ihnen und -einander umgehen sollen. Besonders erschütternd ist eine Szene, in der die Mutter voller spürbarer und ausdrücklicher Abscheu für ihre Söhne ist. Unvorhersehbare Launen und ständiges Auf-der-Hut sein prägen alle drei unterschiedlich. Der Ekel erwächst bei Schulman zum Stilmittel, etwa wenn die Mutter sich auf der Toilette scheinbar unberührt in eingetrockneten Urin setzt, oder Nils in seinem Job in einem Lebensmittelgeschäft Reste zusammenfegt, die die Brüder dann feierlich gemeinsam verspeisen. Und der Ekel kreiert schlussendlich auch die erste Selbsterkenntnis: „Zum ersten Mal roch er seinen Schweiß. Plötzlich sah er die Dinge klar.“
Das Erfolgsrezept dieses Titels liegt wohl einerseits im Marketing, Schulmans Agentur verkaufte bereits früh die Rechte in 25 Länder. Andererseits ist das wiederum vor allem dem hervorragend komponierten, in Richtung eines schweren Traumas erzählten Plot zu verdanken. Und dem wohl unvorhersehbarsten Ende in der Geschichte jüngerer Romane. (Katia Schwingshandl)
Alex Schulman
Die Überlebenden (dtv)
Ü: Hanna Granz, 302 S.