In absolut klarer und unverschachtelter Sprache kommt der neue Chandler daher. Foto: Diogenes Verlag.
Haben Sie schon Chandler gelesen? Ich schon, und jedes Mal wieder bin ich überrascht, wie sehr mich seine Erzählungen ansprechen, wie sehr mich seine knappe, klare Sprache erfreut. Keine Tricks, kein stundenlanges Hin- und Herüberlegen, keine unzuverlässigen Erzähler/innen, nur Philip Marlowe, eine Fliege, sein Büro und die unscheinbare Ordinationshilfe aus der Kleinstadt Orfamay Quest, die, zwar erschüttert über Marlowes rüpelhafte Manieren, seinen angedeuteten Tabak- und Alkoholkonsum, sich dann doch durchringt, den Detektiv – zum halben Tarif – um Hilfe bei der Suche nach ihrem Bruder Orrin zu bitten. Natürlich dauert es nicht lange, bis der erste Eispickel gefunden wird – nicht hinter der Bar, sondern im Nacken des Opfers – es ist nicht der Bruder. Und ach, natürlich ist klar, dass da nicht alles ist, wie es scheint, dass es um Macht geht, um Geld und Liebe, immer wieder die Liebe, dass sich einer für schlauer hält als alle anderen, und doch ist in der Literatur fast kein gleichwertiges Vergnügen zu finden als das, sich gemeinsam mit dem ikonischen Detektiv und Antihelden auf die Suche zu machen, auf die ewige Suche nach der nächsten Enttäuschung, nach der nächsten Bestätigung, dass die Menschen doch so sind, wie sie eben sind: getrieben, abartig, zerfressen von Verzweiflung, Sehnsucht und Gier. Die Hoffnung stirbt zuletzt, auch hier, und auch, wenn längst klar ist: Erlösung liegt nur in der Kapitulation. Chandler ist ein Genuss, allein deshalb, weil er nie solche Schachtelsätze schreiben würde, wie sie in dieser Rezension zu finden sind.
Zuerst erschienen in: Buchkultur 193, 6/2020
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Raymond Chandler
„Die kleine Schwester“ (Diogenes)
Übers. v. Robin Detje, 352 S.