Die besten Krimis der Saison 2020:

Young-ha Kim, „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ (Cass)
Übers. v. Inwon Park, 152 S.

Platz 1

Sich selber als Mörder verdächtigen zu müssen: Die ironische Darstellung des Serienmörders mit Demenz ist ein Höhepunkt in Young-ha Kims Werk um Erinnerung, deren Verlust und sozial wie moralisch unangepasste Menschen. Foto: Eunsoo Chang.


Der alte Herr Kim, pensionierter Tierarzt, war wirklich fleißig – 30 Jahre lang hat er getötet. Nicht aus Lust daran, sondern um sich darin zu verbessern. In der Einsicht, sein Ziel wohl niemals zu erreichen, hörte er auf. Er kann zwar von Natur aus keine Trauer empfinden, für Humor hält er sich durchaus für empfänglich. Deshalb hat er wohl den Lyrikdozenten am Leben gelassen, der seine gar drastische Ausdrucksweise – Herr Kim versuchte, seine Taten in Gedichtform festzuhalten – für erfrischend hielt. Seine literarische Form bleibt also das Tagebuch, denn: „Morden ist eher wie Prosa“, und „das Gefühl, Gedichte zu schreiben, die niemand liest, und Morde zu begehen, von denen man niemandem erzählen kann, sind sich nicht unähnlich“. Wenn er Angst hat, was nach der niederschmetternden Diagnose von rasch fortschreitendem Alzheimer immer öfter vorkommt, liest er Sutren, jene kurzen Lehrtexte in Versform des indischen Schrifttums. Auch Nietzsche-Zitate kommen ihm immer wieder in den Sinn: „Schreibe mit Blut …“

Zudem bewahrt er in Reichweite des Bettes eine Spritze auf, wie man sie benutzt, um Kühe oder Schweine einzuschläfern: Letzte Demütigungen sollen ihm erspart bleiben. Die beunruhigenden Momente werden häufiger: Dinge verschwinden aus dem Haus – Einbrecher?

Der Hund, der im Hof pinkelt und sich nicht verjagen lässt, soll seiner sein? Jetzt machen auch Nachrichten von Mädchenmorden in der unmittelbaren Umgebung die Runde. Herr Kim wird hellhörig: Ein Unbekannter, in dem er sofort einen Jäger, wie er selbst einer war, erkennt, kreuzt seinen Weg. Denselben Unbekannten stellt ihm die Tochter als zukünftigen Verlobten vor – sie ist in Gefahr! Zum ersten Mal im Leben sieht sich Herr Kim gezwungen, aus reiner Notwendigkeit heraus an Mord zu denken, als letzte Lebensaufgabe.

Young-ha Kim erlitt als Kind eine Kohlenmonoxidvergiftung, die er überlebte. Seitdem weiß er nichts mehr über die Zeit davor. Beschäftigt ihn deshalb das Thema Erinnerung/Erinnerungsverlust? Sein eigenes Leben dient ihm sonst eher nicht als Ideenquelle. Im „Serienmörder“ überzeugt er durch den Stil – knappe, einprägsame Sätze, die ganz nebenbei das beeindruckende Psychogramm einer Krankheit entwickeln. Aber auch mit lakonisch-witzigen Anspielungen: So fragt sich Herr Kim, ob es nicht einmal einen Film „Memories of Murder“ gab? Ja, von Regisseur Bong Joon-ho, leicht zu verwechseln mit „Memoirs of Murderer“, der Verfilmung von Young-ha Kims Roman.

Die Erzählung in Form von Tagebucheintragungen evoziert Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“. Und das Zimmer des alten Herrn, in dem eine Wand über und über mit Notizzetteln beklebt ist, ist eine Hommage an die japanische Schriftstellerin Yoko Ogawa, die schon 2003 ihren Professor, der das Kurzzeitgedächtnis verloren hatte, mit solchen Zetteln behängte. Großartig, wie Young-ha Kim den (scheinbaren) Widerspruch meistert, Erinnerungsverlust aus der Sicht des Betroffenen, noch dazu eines Killers, mit einer strukturierten Erzählung zu verbinden. Während die Einträge des Erzählers ins Tagebuch immer knapper und verwirrter werden, sieht der Leser immer klarer, was in Herrn Kims Vergangenheit wirklich geschah – oder geschehen sein könnte. Und das bleibt spannend bis zum Schluss. „Beängstigend ist nicht das Böse, sondern die Zeit. Denn gegen die sind wir alle machtlos.“

Young-ha Kim, geboren 1968, gilt als begnadetster koreanischer Schriftsteller seiner Generation. Er erhielt alle bedeutenden Literaturpreise seines Landes, seine Romane, Erzählungen und Essays wurden in viele Sprachen übersetzt. Kim lebte zeitweise in Kanada, den USA und Italien, übersetzte F. Scott Fitzgerald ins Koreanische und ist Katzenliebhaber.


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