In seinem historischen Roman mit dem sprechenden Titel »Kremulator« rechnet der belarussische Autor Sasha Filipenko mit alten und neuen Diktaturen ab.


Als Direktor des ersten Moskauer Krematoriums hat Pjotr Nesterenko (1886–1942) schon viele Menschen zu Staub zerfallen sehen. Die Zahl der Verstorbenen, die er täglich (und mehr noch: heimlich in der Nacht) einäschert, geht in die Hunderte, denn wir schreiben die Zeit der stalinistischen »Säuberungen«. Es vergeht kein Abend, an dem man ihm nicht ganze Lastwagenladungen von hingerichteten (angeblichen) Regimegegnern und einstigen Revolutionshelden bringt, deren Knochen er nach ihrer Verbrennung mit dem Kremulator zermalmt. Doch als Träger solchen Wissens ist er selbst in permanenter Gefahr. Und so ereilt auch ihn eines Tages das Unausweichliche: Er wird verhaftet und der Spionage bezichtigt wie die Unzähligen, die er über den Totenfluss gekarrt hat. Lange Zeit hat sich Nesterenko für die russische Inkarnation des griechischen Fährmanns Charon und für unsterblich gehalten. Nun droht ihm selbst die Reise in die Unterwelt.

Ein Nesterenko in allen Gassen. Abenteuerlich und riskant war sein ganzes Leben, das Sasha Filipenko anhand von authentischen Verhörprotokollen und mit schwarzem Humor und großer literarischen Kunstfertigkeit in Szene gesetzt hat (die Unterlagen wurden ihm von der in Moskau inzwischen verbotenen und im Vorjahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation »Memorial« zur Verfügung gestellt). In den Wirren des Russischen Bürgerkriegs kämpfte Nesterenko auf der Seite der Weißen Armee. Dann flog der begeisterte Pilot im Dienst der Zentralna Rada, der Zentralversammlung der Ukrainischen Volksrepublik, später emigrierte er nach Istanbul und Paris, wo er Taxi fuhr und vom sowjetischen Geheimdienst angeworben wurde (der ihn, Jahre später, verhaftete). Im Roman kehrt Nesterenko der (fiktiven) Liebe zu einer Schauspielerin wegen in seine Heimat zurück, wo er seinen Posten im Krematorium antritt. Um nicht sofort als Volksfeind erschossen zu werden, muss er zuvor den russischen Sozialrevolutionär und Schriftsteller Boris Sawinkow ans Messer liefern (der zuerst den Zaren und später die Bolschewiken stürzen wollte). Menschen am Wendepunkt: Für welche Seite entscheiden wir uns im Leben? Welcher Weg ist der moralisch richtige? – Das sind Fragen, denen wir uns heute wieder stellen müssen.

Die Schatten der Vergangenheit reichen weit. Seit vielen Jahren schreibt Sasha Filipenko gegen altes und neues Unrecht an: Von den Gräueln der Stalin-Zeit handelte schon sein Roman »Rote Kreuze«. In »Der ehemalige Sohn« erwacht ein Minsker Cellist nach zehn Jahren aus dem Koma, nur um festzustellen, dass noch immer derselbe autoritäre Präsident das Land und jeden Protest mit Gewalt unterdrückt. Von Korruption und Terror im modernen Russland erzählt »Die Jagd«.

In seiner Heimat Belarus wurde Filipenko mit Verhaftung bedroht, inzwischen lebt er im Exil. Auch die Recherchearbeit zum Roman »Kremulator« gestaltete sich schwierig. In Putins Russland (wo Filipenko jahrelang als Journalist arbeitete) ist die historische Aufarbeitung unerwünscht. Dass sich die Geschichte wiederholt, ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg traurige Gewissheit: Damals wie heute wurden und werden die Verbrechen vertuscht, kritische Stimmen mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Umso bewundernswerter und wichtiger ist Sasha Filipenkos auch literarisch höchst bedeutsame Arbeit. Alles in diesem Buch ist wahr, selbst das Erfundene, heißt es anstelle einer Widmung. Denunziation, Manipulation, Brutalität, Verrat und Liebe in einem »Land, in dem ein riesiges Krematorium Menschen, Ideen und sogar Erinnerungen vernichtet«: Gekonnt zwischen Fakten und Fiktion jonglierend, erreicht »Kremulator« höchste Authentizität. Ein unentbehrlicher Beitrag zum Verständnis alter und jüngster Geschichte und ein Muss auf jeder Leseliste!

Sasha Filipenko
Kremulator
Ü: Ruth Altenhofer
Diogenes, 256 S.