Von der Wirklichkeit eingeholt: Von Korruption, Terror, Brutalität und falschem Patriotismus im modernen Russland erzählt Sasha Filipenko in seinem Roman „Die Jagd“.
Eine harte Anklage, hochpolitisch und von beißender Ironie – das ist Sasha Filipenkos Roman „Die Jagd“. Das in mehreren Stimmen erzählte Buch erschien bereits vor sechs Jahren in Russland und hat seither nichts von seiner Brisanz eingebüßt. Der skrupellose Oligarch „Onkel“ Wolodja (Kurzform für „Wladimir“) Slawin, Besitzer eines Fußballklubs und eines echten Chagall, inszeniert sich in der Öffentlichkeit gern als Patriot – und das, obwohl seine Familie mehr Zeit an der Côte d’Azur verbringt als im „heiligen Russland“ und seine Kinder in Paris in die Schule gehen. Nach einer Karriere u.a. als Sektenführer und Geldwäscher drängt es ihn nun in die Politik. Da kommt es ungelegen, dass der Journalist Anton Quint seine Konten im Ausland (und Immobilien in Küstennähe) aufdeckt und auch sonst über Informationen verfügt, die dem Oligarchen auf dem Weg zur Macht hinderlich werden könnten. Der unbestechliche Redakteur, der vor kurzem Vater geworden ist (er schreibt an einer „dystopischen“ Erzählung, in der ein Journalist wegen eines leeren Blogeintrags vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wird), muss zum Schweigen gebracht und aus dem Land vertrieben werden. Im Wald hetzt Onkel Wolodja Hunde auf Bären. Jetzt bläst er zur Menschenjagd.
Systematische Rufschädigung, Psychoterror, Schein- und Schauprozesse, antiwestliche Propaganda und Korruption: Filipenkos „Die Jagd“ bildet das (Un-)Sittenbild eines im Innersten amoralischen Staates ab – beklemmend nah an der Realität und literarisch und dramaturgisch brillant. Leider keine Dystopie. Wir wissen es nicht erst seit der Affäre Nawalny: Regierungskritische Journalist/innen, Oppositionelle und Aktivisten/innen werden im größten Land der Welt schikaniert, strafrechtlich verfolgt, attackiert, ermordet oder kommen unter mysteriösen Umständen ums Leben.
Filipenko weiß, wovon er schreibt: Der gebürtige Belarusse studierte und arbeitete als Journalist in Russland. Kurz nach den abermals manipulierten Wahlen 2020 in Belarus wurde er ebendort mit Verhaftung bedroht und lebt seither im Ausland. Aus der Hölle des Lukaschenko-Regimes erzählte sein im Vorjahr erschienener Roman „Der ehemalige Sohn“. „Rote Kreuze“ von einem dunklen Kapitel russischer Geschichte, den stalinistischen Säuberungen. Mit seinem Roman „Die Jagd“ setzt Filipenko seine bewundernswerte literarische Aufklärungsarbeit fort. Als Autor und Kritiker aktueller und vergangener Unrechtsgeschichten ist Filipenko nicht hoch genug zu schätzen. Großartig!
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Sasha Filipenko
Die Jagd
Ü: Ruth Altenhofer
Diogenes, 288 S.