Vier Frauen, die eine Geschichte teilen: Zu Lenas fünfzigstem Geburtstag kommen sie wieder zusammen, Mütter und Töchter, die vor über zwanzig Jahren die Ukraine verlassen haben. Sasha Maria Salzmann stellt in ihrem neuen Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (Suhrkamp) die Frage nach Zugehörigkeit, beschreibt Einzelschicksale, den Zerfall der Sowjetunion und die Wahrnehmung unterschiedlicher Generationen – und wirft so ihr eigenes Licht auf die Geschichte. Im Interview erzählt sie eingehend von ihrem Schreibprozess, ihrem Dasein als Schriftsteller*in sowie von den Themen, die sie umtreiben. Die schriftlichen Gender-Selbstbezeichungen von Sasha Marianna Salzmann mit * haben wir im Text unverändert belassen und nicht an die sonst üblichen Buchkultur-Regeln angepasst. Foto: Heike Steinweg.
Buchkultur: Im September ist Ihr neuer Roman erschienen (herzliche Gratulation!). Wenn Sie vor einem neuen Schreibprojekt stehen, was ist da das Härteste? Das Anfangen, das leere Blatt?
Sasha Marianna Salzmann: Auf eine Art gibt es für mich keine Anfänge, weil ich immer wieder kleinere Texte produziere, die zu größeren Projekten wachsen können. Gleichzeitig kann es auch immer sein, dass ich die bereits geschriebenen 100 Seiten verwerfe, weil ich mit der Thematik oder den Figuren keine Langstrecke, die ein Roman ja darstellt, laufen möchte. Das, wovor ich beim Schreiben also am wenigsten Angst habe, ist die erste Seite. Die steht meistens ganz am Schluss des Schreibens. Wenn ich den Roman beendet habe, überprüfe ich, ob der Anfang noch stimmt. Schreibkrisen hatte ich noch nie, aber man soll nie nie sagen.
Sie schreiben unterschiedliche Textsorten: Prosa, Drama und Essays. Fällt das unterschiedlich schwer?
Für mich sind das unterschiedliche Disziplinen, fast wie unterschiedliche Künste: Theaterstücke schreiben bedeutet, viel mehr mit realen Menschen zu hantieren, denn mit Syntax, Wortwahl oder Stil. Theater ist ein Gemeinschaftssport, als Dramatiker*in ist man nur ein Baustein von vielen. Schauspieler*innen verkörpern meine Texte, ich empfinde stets eine Verantwortung dem gesamten Regie-Team gegenüber. Prosa ist das Gegenteil, sie ist einsam, sie ist introvertiert. Man ist erst einmal für alles selbst verantwortlich. Am Ende steht man alleine da und die Figuren, die man geschaffen hat, sind nur im eigenen Kopf (und wenn der Roman gelungen ist, hoffentlich auch im Kopf der Leser*innen). Und Essay-Schreiben ist für mich denken mit den Fingern. Thesen hin- und herwälzen. Ich mag alle drei Gattungen gleich gerne.
Woher wissen Sie, wann ein Text fertig ist?
Dass ein Text fertig ist, wissen andere eher als ich. Wenn die Lektorin mir das Manuskript abnimmt, oder im Fall von Drama, wenn der Regisseur sagt, so, jetzt gehen wir zur Verbeugung auf die Bühne. Zufrieden bin ich nie, auch lange nach der Veröffentlichung bzw. nach der Premiere nicht.
Haben Sie literarische Vorbilder? Lesen Sie zur Inspiration? Auch während des Schreibprozesses oder da gar nicht? Im aktuellen Roman wird ja zum Beispiel auch auf Oksana Sabuschko verwiesen.
James Baldwin und Toni Morrison fallen mir auf Anhieb ein, aber auch Maria Stepanova und Serhij Zhadan, Esther Kinsky. Ich lese intensiv während der eigenen Schreibphasen und liste am Ende meistens auf, wen ich gelesen habe, bedanke mich für die Inspiration. Mein Kollege Necati Öziri hat einmal zu mir treffend gesagt: „Lesen ist einatmen, Schreiben ist ausatmen.“
In der Danksagung am Ende Ihres aktuellen Romans erwähnen Sie Anfangsschwierigkeit, wie zum Beispiel den richtigen Erzählsound und eine Struktur zu finden. Was waren die härtesten Kämpfe beim Schreiben dieses Buches? Was hat Ihnen geholfen?
Dass der Sound des Textes nicht gleich stimmt, ist kein Problem, ich muss ja erst einmal meine Geschichte verstehen, die Art und Weise, wie meine Figuren mit mir sprechen. Mely Kiyak hat in einem Interview dazu gesagt: „Finde heraus, wer du bist in Sprache.“ Daran muss ich oft denken. Der härteste Kampf, den ich führe, ist gegen mich selbst. Gegen meine eigenen Ansprüche an mein Schreiben. Gegen meine eigenen Erwartungen. Ich bin mein erbittertster Kritiker. Der Austausch mit meiner Lektorin rettet mich dann. Und die Diskussionen mit meinen Freund*innen geben mir eine Außenperspektive auf meine Arbeit.
Sind Sie schon einmal an einem Schreibprojekt gescheitert? Warum?
Ich glaube nicht ans Scheitern beim Schreiben, weil es nichts zu gewinnen gibt.
War der Wunsch zu schreiben immer schon da? Oder ist das erst gewachsen? Gab es ein auslösendes Moment?
Ich habe sehr früh angefangen zu schreiben, aber ich fürchte, das macht einen Menschen noch nicht zum geborenen Schriftsteller. Ich kann nicht genau den Punkt ausmachen, an dem ich mich angefangen habe zu professionalisieren, ich wollte immer so vieles sein: Theatermensch, Aktivistin, Romancier. Irgendwann erstellte jemand einen Wikipedia-Artikel über mich, in dem stand, ich sei eine deutsche Schriftstellerin. Ich glaube, ich habe selber noch eine Weile gebraucht, um das über mich selbst sagen zu können. Da war mein Debütroman schon längst draußen.
Sie haben mit dem Schreiben fürs Theater begonnen. Wie ist der Wunsch gewachsen, auch Prosa zu schreiben? Einfach eine organische Weiterentwicklung der eigenen Schriftsteller*innen-Tätigkeit?
Im Rückblick scheint es so, als wäre das Schreiben von Prosa ein notwendiger Schritt gewesen, auch wenn ich es mir nicht vorgenommen hatte. Es schien mir, ich kann die Geschichte, die ich in „Außer sich“ erzählen will, nicht in einem dramatischen Text unterkriegen, als würde sie nach einer anderen Form verlangen.
Was interessiert Sie am Schreiben bei Prosa? Und was bei Theatertexten?
Am Theater interessierte mich die politische Form. Das Miteinander. Theater ist immer ein Mannschaftssport: die Kommunikation mit anderen Gewerken, die permanente Verhandlung, die Krise, die Katharsis … Und Prosa ist der größte Genuss, den ich je beim Schreiben erfahren habe. Es ist ein leiser, ein intimer Prozess. Ich bin Geschichtenerzähler*in, am jetzigen Punkt meines Lebens macht mir das Alleinsein mit meinen Figuren an einem Schreibtisch am meisten Freude.
Wie haben Sie für Ihren aktuellen Roman recherchiert? Haben Sie Interviews geführt? Viel gelesen? Haben Sie auch auf eigene, familiäre Erinnerungen zurückgegriffen? Wie kann man sich Ihren Arbeitsprozess vorstellen?
Ich habe für „Im Menschen muss alles herrlich sein“ viele Interviews mit Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion (vorwiegend aus der heutigen Ukraine) geführt. Außerdem habe ich verstärkt ukrainische Literatur gelesen und einen Historiker kontaktiert, der selbst Bücher über die Region Donbass (vor dem Krieg 2014) schreibt, um die Fakten zu verifizieren, auf denen ich versuchte meine Geschichte aufzubauen. Rekonstruktion von Verhältnissen in einem Land, das es nicht mehr gibt und in dem teilweise Gesetzlosigkeit herrschte, war denkbar schwer. Die Lebensbedingungen der Menschen zu beschreiben, die sich immer wieder anders an das Vergangene erinnern, war eine große Herausforderung. Die Schwierigkeit, eine Zeit zu portraitieren, die ich selbst nicht erlebt habe, lasse ich meine Figur Nina formulieren: „Ich las mich durch online gestellte Diplomarbeiten und Zeugenberichte, und fast wäre ich in eine Bibliothek gegangen, weil sie sich so sehr widersprechen. Die historischen Studien stimmen oft genug nicht überein mit den Meldungen und Berichten in den Nachrichtenportalen, die Blogeinträge über eine Jugend im Pionierlager sind in alberner Märchensprache verfasst, fast schon in Reimform zum Mitsingen. …“
Wie immer – wie schon bei „Außer sich“ – fand ich die Antworten, nach denen ich suchte in Büchern: Bei Serhij Zhadan, bei Oksana Sabuschko, vor allem aber auch in den Arbeiten von Masha Gessen. Bei Texten von Masha Gessen erfahre ich immer eine Art von Erleuchtung.
Wenn Sie schreiben, haben Sie dann ein bestimmtes Publikum vor Augen? Schreiben Sie anders für ein Theater- als für ein Romanpublikum?
Ich habe immer ein Publikum vor Augen, wenn ich für die Bühne schreibe, denn Theater ist Konzeptkunst. Das Theater fängt ja quasi schon beim Plakat an einer Litfaßsäule an (welche Namen darauf stehen, welche Gesichter zu sehen sind, das alles erzählt bereits eine Geschichte). Dann spielt die Architektur des Theaters eine Rolle, wo es zu finden ist, wie es zu erreichen ist, wie viel ein Ticket kostet. Über all das denke ich nach, noch bevor ich über die Bühne nachdenke. Bei Romanen plane ich nichts, meine Figuren führen mich durch Katakomben einer Geschichte, ich muss ihnen nur vertrauen.
Sie sind mit Ihrem Debütroman gleich bei Suhrkamp untergekommen, haben den klassischen Literaturbetrieb also quasi am Olymp betreten. Gibt es noch Träume, Wünsche literarischer Natur, die Sie sich noch verwirklichen wollen?
Ich möchte schreiben, das ist schon der Traum. Kein Berg ist für immer erklommen. Der Zugang zum Schreibraum muss für mich immer wieder neu gefunden werden. Wie Leonard Cohen sagte: „Poetry is not a place you can conquer.“
In Ihrem öffentlichen Auftreten wirken Sie auf mich wie eine sehr aufmerksame, achtsame, engagierte Person. Wie schafft man es da gerade am Theater, das ja immer noch sehr patriarchale und oft auch despotische Strukturen hat, seinen Platz zu finden und nicht unterzugehen?
Ich glaube an temporäre autonome Zonen, in denen eine Utopie von hierarchiefreien Räumen für kurz möglich wird. Die bespiele ich gern, dort nehme ich Engagements an. Keine Branche der Welt ist frei von Patriachat und Gewalt. Und wenn Verzweiflung die Überhand bekommt, muss man gehen. Ich verlasse die Theaterszene immer mal wieder, um Luft zu schnappen. Und tauche dann glücklich ein, wenn ich mich daran erinnern kann, dass der Dialog mit Kolleg*innen sich lohnt und dass Theater, wenn es gut ist, etwas schafft, was keine andere Kunstform mit so viel Vehemenz kann: direkt und unmittelbar in die Gesellschaft einzugreifen.
Schaut man sich Ihre Arbeit an, bemerkt man auch Ihre vielseitigen Interessen gesellschaftspolitischer Natur. Könnte es passieren, dass Ihnen der Literatur- und Theaterbetrieb bald einmal zu eindimensional sein wird?
Ich glaube, dass der Kulturbetrieb ein hochpolitischer Raum ist. Dort wird es nie langweilig. Unabhängig davon, ob ich schreibe, Festivals kuratiere oder Veranstaltungen moderiere, mein Ziel ist es stets, gesellschaftsrelevant zu bleiben. Wenn man sich anschaut, dass die politische Rechte oft genug als erstes gegen die Kultur(schaffenden) schießt, kann man den Literatur- und Theaterbetrieb als einen Ort denken, an dem weit mehr als ästhetische Fragen verhandelt werden. Und schließlich liegt es ja an den Künstler*innen selbst, den Raum spannungsreich zu halten.
Sie haben in jungen Jahren schon so viel erreicht, gelingt es Ihnen manchmal einen Schritt zurückzutreten und Ihren Erfolg zu genießen, sich daran zu erfreuen, auch stolz zu sein, auf das Erreichte?
Nein, leider nein. Aber ich tanze unheimlich gerne nach meinen Premieren, die ganze Nacht durch.
Haben Ihnen Preise und Auszeichnungen in Ihren frühen Jahren als Autorin geholfen, in Ihrem Selbstbewusstsein als Schriftstellerin oder Theatertexterin?
So wie bei jedem Tun, egal ob künstlerisch oder nicht, ist Anerkennung ein Ansporn, weiterzumachen.
Ihr Buch ist dieses Jahr nicht das erste, das von einer Autor*in geschrieben wurde, die als Kontingentflüchtling in jungen Jahren aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland gekommen ist und sich an dieser Thematik abarbeitet. Verbindet einen diese „gemeinsame“ Geschichte, findet da Vernetzung statt? Beschäftigt man sich mit dem Werk der anderen? Vergleicht man sich?
Ich würde nicht von einem Netzwerk unter den post-sowjetischen Schriftsteller*innen sprechen – zumindest kenne ich es nicht –, aber es freut mich sehr, dass wir so sichtbar sind. Es ist immer gut, wenn dieselbe Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, um der Gefahr der Einzigkeit zu entgehen. Damit Lesende nicht denken, „Ah, so war die Sowjetunion! Ich habe es doch bei X gelesen!“ Insofern hoffe ich auf eine dissonante Polyphonie der post-sowjetischen Stimmen.
In Ihrem aktuellen Roman gibt es eine sehr eindrückliche Szene, in der Edi darüber nachdenkt, wie es ihrer Mutter eigentlich gegangen ist, als sie ihr Leben in Deutschland noch einmal neu und unter anders schlechten Bedingungen von vorne beginnen musste. Sie weiß es nicht, weil sie nie gefragt hat und weil ihre Mutter es für „überflüssig hält, über sich zu sprechen“.
Sind das Themen, die Sie mit Ihrer eigenen Familie besprechen können? Oder wird darüber auch geschwiegen? Wäre es ein Wunsch, dass die Lektüre Ihres Buches vielleicht Familien mit ähnlicher Geschichte zum Miteinanderreden bringt?
Ich denke, dass wir alle – ob aus migrierten Familien stammend oder nicht – viel zu wenig unsere Angehörigen befragen. Wer hat schon seine Mutter gefragt, wie die eigene Geburt war? Ob und wovor die Mutter in den ersten Jahren Angst hatte? Ich wäre unheimlich glücklich, wenn nach der Lektüre meines Romans Lesende auf ihre Eltern zugehen würden. Es scheint das Schwierigste zu sein, die eigenen Eltern als Menschen zu begreifen, mit Nöten, Sorgen, eigenen Bedürfnissen, aber ich glaube, allein der Versuch ist ein großer Gewinn für alle Seiten. Mit meiner Familie kann ich mittlerweile über alles sprechen, aber ich bin Schriftsteller*in und meine Angehörigen sind abgehärtet.
Wie geht es Ihnen jetzt, zu Erscheinen von „Im Menschen muss alles herrlich sein“? Stecken Sie in Gedanken schon im nächsten Projekt? Oder fällt man in ein Loch, vermisst man seine Protagonist*innen nach Beendigung eines so großen Projektes?
Ich habe nach der Abgabe des Romanmanuskripts gleich angefangen am Literaturinstitut Leipzig und an der Angewandten in Wien zu unterrichten und fiel dadurch nicht in die postnatale Depression, aber ich vermisse meine Figuren und ich freue mich auf die Wiederbegegnung auf der Lesereise. Ich bin gespannt, was ich alles noch über sie erfahre, jetzt wo ich anfangen werde, sie aus der Distanz zu betrachten.
Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman »Außer sich« (Suhrkamp) wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt.
Sasha Marianna Salzmann
Im Menschen muss alles herrlich sein
Suhrkamp, 384 S.