Dževad Karahasans »Einübung ins Schweben«, oder: Grauen, Krieg und Geist.
Was nur geschah mit Peter Hurd, dem Philologen, Mythenkundigen und Übersetzer, dem großen Hellenisten und Polyhistor, der mehrere tote Sprachen beherrschte und bewundert wurde ob seines immensen, kommerzbefreiten Wissens? Was geschah mit ihm in Sarajevo 1992?
Zu einer Lesung kam er im Frühjahr jenes Jahres in die multikulturelle, polyphone Metropole, die einzige Stadt der Welt neben Jerusalem, in der über viele Jahrhunderte hinweg alle drei monotheistischen Weltreligionen vertreten waren. Rajko nahm die Rolle als guide geehrt wie hingebungsvoll an. Dann, als sie eigentlich am Busbahnhof voneinander Abschied nehmen wollten, warf Hurd spontan seinen Plan über den Haufen. Und blieb in der beschossenen, belagerten Stadt, auf die von den Hügeln ringsherum Granaten regneten. Er wollte wissen, wie es sich im Extrem lebe, wie man in existenziellen Grenzerfahrungen noch Witze reiße. Er, in eine Frau verliebt, wollte spüren. Und zwar allein, was ihm zum Verhängnis werden sollte. Denn am Ende fiel er geistiger Auflösung und heilloser Zerrüttung, grausigem Wahnsinn anheim, war Peter Hurd eine menschliche Ruine.
Hochelegante Prosa legt der zwischen Sarajevo, Graz und Berlin pendelnde, 1953 geborene, preisgekrönte Dževad Karahasan dem Ich-Erzähler Rajko in den Mund. Dieser subtile, klug konstruierte, feinnervige, unter die Haut gehende Roman ist das literarische Pendant zu Karahasans 2021 ergänzt und neu übersetzt publiziertem »Tagebuch der Übersiedlung«, seinen Aufzeichnungen aus dem Kriegs-Sarajevo anno 1992.
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Dževad Karahasan
Einübung ins Schweben
Ü: Katharina Wolf-Grieshaber
Suhrkamp, 304 S.