»Muna oder Die Hälfte des Lebens« heißt Terézia Moras erster Roman ihrer »Trilogie der Frauen«. Ein sprachlich großartiges Buch, erschütternd und schmerzvoll, weil es Themen berührt, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine mehr sein sollten. Foto: Antje Berghäuser.


Die in der DDR geborene Muna ist achtzehn, als sie sich in Magnus verliebt. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht verschwindet er scheinbar spurlos. Kurz danach fällt die Mauer und Muna geht zum Studium nach Berlin, London und Wien. Nach sieben Jahren führt der Zufall sie wieder zueinander und sie werden ein Paar. Doch schon bald befindet sich Muna inmitten einer missbräuchlichen Beziehung, die ihr die Luft zum Atmen abschnürt und ihr Leben und ihre (Selbst-)Wahrnehmung vergiftet. Im Interview erklärt die Büchner-Preisträgerin Terézia Mora, weshalb dieses Buch so wichtig für sie war.

Buchkultur: Was für ein Mensch ist Muna? Kennen Sie Frauen wie Muna? Ihr Vater ist früh gestorben, ihre Mutter ist Alkoholikerin. Dennoch scheint sie zu Beginn des Romans auf einem guten Weg in eine gelingende akademische Karriere zu sein. Bis sie Magnus kennenlernt bzw. wiedertrifft. Muna lässt sich im Laufe der Beziehung alles nehmen, ihren Beruf, ihre Freundinnen, und wird immer handlungsunfähiger. Was passiert da mit ihr, mit den beiden? Ist das Liebe? Auch die anderen (Liebes-)Modelle, die Muna begegnen, sind nicht gerade ermutigend (Ingrid, Milla …). Weshalb gelingt es Muna (wie so vielen Frauen nicht), sich aus dieser für sie so ungesunden Beziehung zu lösen? Weshalb sucht sie die Schuld für die Gewalt, die ihr widerfährt, bei sich?

Terézia Mora: Natürlich kenne ich Frauen wie Muna, das war ja der Anlass, ein Buch über »so eine Frau« zu schreiben. Allerdings ist Muna natürlich eine gemachte Figur, um eine Aussage zu transportieren, und die Aussage setzt sich genau aus den oben gestellten Fragen (und allen darauf möglichen Antworten) zusammen: Was passiert mit ihr? Wie kommt es zu solchen Beziehungen? Jede von uns kann, als Außenstehende, auf zahlreichen Seiten des Romans mit dem Finger auf Möglichkeiten zeigen, wie sich die Figur hätte anders, für sie günstiger entscheiden können. Ich brauche nicht zu betonen, dass es ganz anders aussieht, wenn wir keine Außenstehenden mehr sind. Liebe oder sagen wir: Beziehungen basieren im Idealfall auf einem Gleichgewicht, auf Gegenseitigkeit, in ihnen sind Rahmenbedingungen geschaffen, unter denen man blühen kann und nicht verkümmern muss. Sobald man verkümmert, ist das keine Liebe und keine gute Beziehung. Ich denke nicht, dass Muna das nicht weiß. Sie weiß es, sie versucht auch Widerstand zu leisten, sie ist nur nicht erfolgreich damit. Der Verlust von Beruf, Freunden, der finanziellen und der mentalen und psychischen Unabhängigkeit ist ein typisches Muster für Personen in Missbrauchsbeziehungen. Und natürlich sucht sie die Schuld dafür bei sich. Wer sich nicht erfolgreich wehren kann, wird immer auch sich die Schuld geben. Natürlich ist auch Muna nicht »perfekt«. Wer ist das schon? Aber, Preisfrage: Geht man so mit einem nicht-perfekten Menschen um? Die Antwort ist natürlich: nein. Ebenso wie es gilt: Natürlich hast du die Gelegenheit, die Mutter deiner Kinder, dein Au-pair, eine potenzielle Leihmutter oder eine Mitarbeiterin (nur einige Beispiele) auszunutzen, aber du MUSST es nicht. Natürlich geht es dabei um Machtmissbrauch. Das ist, meiner Meinung nach, der springende Punkt. Die Rahmenbedingungen begünstigen Machtmissbrauch.

Muna und Magnus sind in der DDR aufgewachsen. Wie sehr hat sie das Aufwachsen in einem totalitären Regime beschädigt?

Darius Kopp reagiert auf die vielen Verluste in seinem Leben durch Fressorgien, Alkohol und Aussteigertum. Magnus, dessen wissenschaftliche Karriere nicht so recht in die Gänge kommt, reagiert darauf mit Gewalt. Immer, wenn Muna ihre Stimme erhebt oder (am Ende durchs Schreiben) gefunden hat, will Magnus sie mit Gewalt mundtot machen. Gewalt gegen Frauen, Femizide sind ein strukturelles Problem, das patriarchalische Gesellschaften betrifft. Was ist es, das Magnus Muna gegenüber, was Männer, Gesellschaften Frauen gegenüber zu Gewalt greifen lässt? Was können wir dagegen tun? Wie gegensteuern?

Ich habe mich für die DDR entschieden, weil das Aufwachsen in einem totalitären Staat das ist, was ich mitgebracht habe. Das ist das, was ich kenne. Man hätte diese Geschichte auch ohne die DDR erzählen können, andererseits war das nicht zwingend, also blieb ich dabei, was ich kenne. Das Chaos um den Mauerfall herum hat mir auch in die Hände gespielt dabei, Magnus erst einmal zu verlieren.

Wer das Buch liest, wird feststellen, dass die Herkunft der Figuren nicht die Erklärung dafür ist, weshalb Magnus zu Gewalt neigt. Wie wir wissen, können Personen vor jedem möglichen Hintergrund gewalttätig werden, während es andere bei gleichem Hintergrund nicht werden.

Da bleibt immer ein Stück Unerklärbarkeit. Warum der eine so, der andere so? Weil wir eben verschieden sind. Magnus ist ja auch nicht gleichbleibend in seinen Reaktionen. Er hat in der Beziehung mehr Macht, er nutzt sie aber nicht immer auf die gleiche Weise. Ebenso, wie in einer patriarchalischen Gesellschaft ja auch nicht immer alles, und nicht immer alles auf die gleiche Weise, mit der gleichen Intensität schlecht für diejenigen läuft, die weniger Macht haben. Man kann nicht alles kommen sehen und man kann sich nicht auf alles vorbereiten. Es gab auch Schauspielerinnen, die der bekannte verurteilte amerikanische Filmproduzent NICHT belästigt hat.

»Muna« ist Teil 1 einer geplanten Trilogie? Was hat den Ausschlag zu diesem Buch gegeben, in dem Sie erstmals eine weibliche Protagonistin zu Wort kommen lassen? Ist »Muna« eine Art (weibliches) Gegenstück, Pendant zu Kopp, zu Ihrer Kopp-Trilogie?

Können Sie uns schon ein wenig über die nächsten zwei Bände verraten? Werden auch diese aus der Perspektive einer Frau, womöglich Munas, geschrieben sein (schließlich hat sie die Hälfte des Lebens noch vor sich …)?

Ich habe mir tatsächlich eine »Trilogie der Frauen« vorgenommen, aber Muna wird – nach derzeitigem Stand der Dinge – in keinem weiteren Buch vorkommen. Ich plane mit anderen Protagonistinnen. Ich wollte lernen eine weibliche Hauptfigur zu schreiben, nachdem ich so viel Zeit mit männlichen Hauptfiguren verbracht habe. Und, was soll ich sagen, es war nicht einfach. Ich musste mich viel mit meiner »internalisierten Misogynie« auseinandersetzen. Ich durfte während der Arbeit erkennen, wie sehr ich von patriarchalisch geprägten Urteilen über Frauen beeinflusst bin. So sind wir aufgewachsen. Schon allein dafür hat es sich für mich gelohnt, das Buch zu schreiben. Wenn ich schreibe, bemühe ich mich, zu verstehen, ich bemühe mich um »Fairness« gegenüber meinen Figuren. Im Schreiben gelingt mir das jedes Mal besser als im Leben.

Um welche patriarchalisch geprägten Urteile über Frauen handelt es sich da zum Beispiel?

Nun, eigentlich stolpern ja alle meine Figuren durchs Geschehen, aber mir ist aufgefallen, dass ich das bei den männlichen Figuren einfach als etwas Allzumenschliches hinnehme und gelassen damit umgehe, dass ich offenbar eine Neigung zu solchen Figuren habe. Ich werfe ihnen nichts vor (was ja auch Nonsens wäre, schließlich habe ich sie ausgewählt). Bei der weiblichen Hauptfigur hatte ich aber Gefühle, wie ich sie auch »im wahren Leben« habe. Ich habe die Frau für ihre »Dummheit« verurteilt, für ihre Eitelkeit, ihre Abhängigkeit, ihre »Schwäche« usw. Ich fühlte das und gleichzeitig wusste ich, dass ich das deswegen fühle, weil mich das Leben in einer misogynen Welt so konditioniert hat. Der Mann ist allzumenschlich, die Frau macht einfach nur alles falsch. Ich habe mich erst mit meiner Figur versöhnt, als ich folgenden Trick anwandte: Ich opferte einen ganzen Monat Schreibzeit, um den ganzen Roman umzudrehen. Ich habe alles so belassen, wie es war, ich habe bloß Muna und Magnus gegeneinander ausgetauscht. Und schon sah ich viel deutlicher, dass »man so mit einem Menschen nicht umgehen darf«. Sobald meine Hauptfigur keine Frau mehr war, konnte ich sie als »Mensch« sehen, und es wurde ein absolut skandalöser Text. Deswegen steht unter dem Titel auf der ersten Seite des Buches »Die weibliche Variante«. Als Hommage an diesen einen Monat, in dem ich Opfer und Täter gegeneinander ausgetauscht hatte. Der Gedanke, das Buch so – nämlich umgedreht – herauszubringen, so, dass dieses Umdrehen deutlich zu sehen gewesen wäre, war für einen Moment sehr reizvoll, aber ich hätte dann doch sehr vieles ändern müssen, z. B. die Verweise auf die Literatur von Frauen, die ich in die Erzählung hineingewoben habe. Ich einigte mich mit mir selbst darauf, dass ich diesen »Trick« gebraucht habe, um mir selbst die Augen zu öffnen und so das Buch nun als Sehende zu Ende bringen zu können. Dass ich diesmal – anders als bei allen anderen Büchern bisher – die Befürchtung habe, dafür »bestraft« zu werden, dass ich es gewagt habe, eine weibliche Hauptfigur zu haben und eine »Frauengeschichte« zu erzählen, zeigt aber auch deutlich, wie sehr ich von einem misogynen Umfeld negativ geprägt worden bin. Ich habe Angst davor, für das Weibliche abgetan und geringgeschätzt zu werden. Nicht, weil ich es bin, sondern weil ich erwarte, dass das Weibliche abgetan und geringgeschätzt wird.

Wie bleibt man handlungsfähig und zugleich ein anständiger Mensch?

Anständig zu sein ist nicht so schwer. Tue einfach das Böse nicht. Oder, wie es religiöse Menschen sagen: Begehe die Sünde nicht. Das Böse nicht zu tun ist wesentlich einfacher als das Gute zu tun. Unsere Handlungsfähigkeit wird wiederum durch sehr viele Faktoren beeinflusst. Ich habe meiner Hauptfigur bewusst noch nicht alle Hemmschuhe mitgegeben, die sie hätten hindern können. Sie ist nicht ungebildet, nicht schwer krank, nicht körperlich oder geistig eingeschränkt, sie ist nicht illegal, sie hat keine Kinder usw. Und selbst so ist es schwierig. Meiner Erfahrung nach muss man die Handlungsfähigkeit jeden Tag neu herstellen. Das kann frustrierend sein. Aber was wäre die Alternative?

Frauenhass und Femizide gehen meistens Hand in Hand mit Rassismus und Rechtsextremismus. Die Frauenrechte, aber auch die Rechte von LGBTI-Menschen (Siehe Noah im Buch) stehen weltweit, auch in Europa, auf der Kippe. Die ungarische Fidesz-Regierung drängt Frauen zurück an den Herd und weigerte sich, die Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren. Wie gefährlich ist das? Wie ist das möglich? Sie haben eine Tochter. Die Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen, ist keine schöne. Macht Ihnen der Rechtsruck, macht Ihnen das alles Angst?

Dazu: Soll die EU Ungarn den Ratsvorsitz verweigern?

Dass Rechtsextremismus gerade wieder so in Mode ist, ist natürlich niederschmetternd, ebenso wie die Tatsache, dass es Wähler nicht auf die Straßen bringt, wenn ihre Regierung klar frauenfeindliche Positionen bezieht. Ich muss daraus schließen, dass sie diese Ansicht teilen. Offensichtlich haben sie kein Problem damit, wenn mehr als die Hälfte von ihnen benachteiligt wird. Es ist noch ein langer, langer Weg zu einer toleranten Gesellschaft. Meine Tochter ist noch jung, sie sieht das alles deutlich, aber zum Glück wird sie noch von uns beschützt und muss die Konsequenzen nicht direkt am eigenen Leib erfahren. Natürlich hofft man als Eltern, dass ihr auch später so wenig Ungerechtigkeit wie möglich widerfährt. Ein Preis, den sie dafür wohl zahlen wird müssen, ist, nicht dauerhaft in dem Land leben zu können, dessen Sprache sie so sehr liebt.

Viele unserer gegenwärtigen Probleme – Putins Krieg gegen die Ukraine, Klimawandel, Gewalt etc. – scheinen die direkte Folge dieses jahrhundertelang in der Gesellschaft vorherrschenden »toxisch männlichen« Verständnisses von Welt und Macht zu sein. Ihr Wort dazu?

Ja, das trifft es genau. Das genau sind die Folgen toxisch männlichen Verhaltens. Und, was nun? Es werden noch viele sterben müssen, bevor die aktuelle Welle der Destruktivität wieder etwas abebbt und wir dann wieder für eine kurze Zeit hoffen, dass wir die nächste Welle vielleicht verhindern können. Hätte ich das Rezept dafür, wie man das von jetzt auf gleich beenden könnte, hätte ich das schon verraten. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit unseren bescheidenen Mitteln kontinuierlich zu erinnern, zu analysieren, öffentlich zu machen.

Was braucht es, damit Frauen handlungsfähiger werden können, dass die Welt für alle eine bessere wird?

Diese Frage weist weit über mein Buch hinaus. Wir alle kennen die Probleme, die gelöst werden müssen. Die Lebensumstände von Frauen müssen verbessert, ihre Ausbeutung eingedämmt werden, damit ihnen genug Raum bleibt, beispielsweise in der Politik für sich selbst handeln zu können. Hier entsteht aber häufig ein Teufelskreis. Du brauchst Freiheit, um Freiheit zu schaffen. Im Kleinen können wir schon mal in der Familie anfangen. Wahre Geschichte, die mir gerade vor einigen Tagen widerfahren ist: Ich wartete in einem Fahrradladen, dass ich an die Reihe kam. Ein Ehepaar kam mit dem Fahrrad ihres Sohnes herein und sie versuchten, einander ins Wort fallend, zu klären, was getan, wann das Fahrrad wieder abgeholt werden sollte. Irgendwann sagte der Mann, sagte zur Frau, sie solle den Mund halten, damit er in Ruhe sprechen könne. Nachdem sie das nicht tat, sagte er: Du gehst jetzt raus und wartest draußen! Woraufhin die Frau mit gesenktem Kopf und eingezogenem Hals den Laden verließ und auf dem Gehsteig wartete. Sowohl der junge Verkäufer als auch ich waren schockiert über diesen Umgang. Keiner von uns wollte sich aber einmischen. Keiner von uns wollte den Mann provozieren. Ich stand da herum und fragte mich, sollte ich rausgehen zu der Frau? Sollte ich sie ansprechen? Aber was konnte ich für sie konkret tun? Ich wollte mein Rad repariert haben und nicht in fremde Angelegenheiten hineingezogen werden. Es war ja schließlich nichts Justiziables vorgefallen. Steht es uns zu, andere Erwachsene erziehen zu wollen? Usw. Es ist kompliziert. Eine Erfahrung, die ich in meinem Umfeld gemacht habe, zeigte mir, dass man eher bereit war, mit mir zu brechen als mit dem Misshandler. Was natürlich ins Muster solcher Beziehungen passt. Das Einzige, was mich in der oben geschilderten Szene tröstete, war, wie der junge Verkäufer, der vom Alter her mein Sohn hätte sein können, später darauf reflektierte. Er sah ebenso deutlich wie ich, dass das keine gute Beziehung war.

Mussten Sie selbst jemals, auf die eine oder andere Weise, Gewalt, Diskriminierung durch Männer erleben? (Ich kenne leider kaum eine Frau, die das nicht hat.) Hat die #MeToo-Bewegung den Frauen geholfen?

Selbstverständlich musste ich das. In der Tat: Es gibt kaum eine Frau, die das nicht musste. Ich jedenfalls kenne keine, bei der man es nicht wenigstens versucht hätte. Natürlich versuchen sie es. Und dann versucht man, zu widerstehen oder auszuweichen, je nachdem, was möglich ist. MeToo ist absolut ein wirksames Mittel des Widerstandes. Warum soll jemand, der seine Macht oder seine physische Kraft missbrauchen will, keine Angst vor Sanktionen haben?

Was verbindet Sie mit Wien? Haben Sie je hier studiert wie Muna? (Sie schildern das teils so ironisch-witzig, dass ich da gerne ganz kurz nachfragen möchte.)

Ich habe nie in Wien studiert. Ich habe recherchiert. Von meinem ungarischen Dorf aus ist Wien die nächste Großstadt. Ich hatte es also nicht so weit. Aber natürlich konnte ich nicht »rückwärts in der Zeit« recherchieren. In den 90er Jahren war ich in Berlin. Ich habe halt versucht, mich mit vielen Leuten zu unterhalten, die zu jener Zeit vor Ort waren.

Das Formale war schon in »Das Ungeheuer« sehr spannend. Auch hier haben Sie Munas Gedanken teils in Klammern gesetzt, und das, was sie sich gar nicht zu sagen oder schreiben traut, durchgestrichen. Ergibt sich das Formale beim Schreiben oder wissen Sie das schon vorher?

»Ich war gute Ware«, heißt es im Buch, »und man konnte es nachlesen«. (Das, was sie auch ist, nämlich »single, pleite und einsam«, ist durchgestrichen, das hat da natürlich keinen Platz.)

So etwas ergibt sich unterwegs. Man schreibt und dann sieht man: Das würde sie denken, aber nicht aussprechen oder schreiben, dennoch ist es da, also muss es sichtbar sein, und dann markiert man es mit den zur Verfügung stehenden graphischen Mitteln. Dafür sind diese da.

Wie wirkt sich unser kapitalistisches Denken, unsere kapitalistische Ordnung auf die Liebe, auf unsere Beziehungen aus? Wenn es keine Sicherheiten gibt, jedes Arrangement jederzeit kündbar ist und wir jederzeit alles verlieren können?

Ich finde nicht, dass sich unser kapitalistisches Denken schlimmer auf Beziehungen auswirkt, als es bisherige Ordnungen getan haben. Im Gegenteil, wir sind freier, als wir jemals waren. Die Ungleichheit, wie sie bis Mitte der 70er Jahre in den bürgerlichen Gesetzen für Frauen festgeschrieben war, hatte keine »sicheren«, sondern nur starre Strukturen zur Folge. Natürlich sehen Unfreiheit und eingeschränkte Möglichkeiten von außen so aus, als wäre da eine verlässliche Struktur. Aber Strukturen können auch verlässlich sein, wenn sie nicht zu einschränkend sind und nicht auf Ausbeutung aufbauen. Wie sich gezeigt hat, fielen die Familien nicht auseinander, als die Frauen ein eigenes Konto haben durften, ohne Erlaubnis ihres Ehemannes einem Beruf nachgehen und als ledige Mütter oder Witwen selbst Vormünder ihrer eigenen Kinder sein durften. Studien zeigen, dass ein Großteil der Menschen das Ziel hat, sich zu Familien zusammenzufinden und gemeinsam Kinder zu erziehen, auch in Gesellschaften, in denen sie auch jede andere Möglichkeit hätten. Manchmal klappt es eben nicht exakt so wie in der Margarinewerbung und manchmal klappt es durchaus, aber die Familie sieht nicht so aus wie auf Plakaten von vor 100 Jahren. Eventuell sind nicht alle blond und blauäugig und eventuell sind es nicht Papa-Mama-Kind, sondern andere Konstellationen. Zurück zum Anfang: Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus schädlicher wäre als andere Wirtschaftsordnungen. Ich glaube, die freiheitliche Gesellschaft, in der wir heute hier leben, ist sogar die formbarste Ordnung, in der wir bis jetzt gelebt haben. Jederzeit alles verlieren konnten wir immer schon.

Sie arbeiten auch als Übersetzerin (vom Ungarischen ins Deutsche). Haben Sie je überlegt, auch vom Deutschen ins Ungarische zu übersetzen bzw. Ihre Werke selbst zu übersetzen?

Wie wichtig ist Ihnen das Übersetzen? Welche Erkenntnisse gewinnen Sie durch Ihre Arbeit als Übersetzerin?

Ich kann nicht aus dem Deutschen ins Ungarische übersetzen. Traditionell ist es so, dass man in seine Muttersprache übersetzt. Offenbar ist Deutsch meine Muttersprache. Das hat sich erst durch die Übersetzung herausgestellt. Später hat sich das auch beim Schreiben bestätigt. Ich habe auf Deutsch zu schreiben angefangen, weil ich in Deutschland lebte und sich die Gelegenheit dazu ergab (sprich: Ich wollte einen Text für einen Wettbewerb verfassen). Als ich später versuchte, auch auf Ungarisch zu schreiben, merkte ich, dass ich im Deutschen eine viel versiertere und reifere Schriftstellerin bin. Ich hätte mir vornehmen können, auch im Ungarischen aufs gleiche Niveau kommen zu wollen, aber erstens wäre das überhaupt nicht garantiert gewesen und zweitens fehlt mir dafür die Zeit. Ich brauche all meine Zeit dafür, mich im Deutschen auf ein Niveau hochzuturnen, auf dem ich mich traue, mich öffentlich zu äußern.

Durch das Übersetzen anderer Autorinnen und Autoren lerne ich jedes Mal etwas über das Schreiben als solches und über meine eigenen Möglichkeiten. Es ist wie ein Training. Ich muss flexibel genug sein, die Sprache von jemand anderem zu verstehen und zu dolmetschen. Diese trainierte Flexibilität kommt mir natürlich beim eigenen Schreiben zugute. Ich werde nie das Jahr vergessen, in dem ich an vier Übersetzungen arbeitete, und alle vier hatten einen anderen sprachlichen Hintergrund, der ihnen deutlich anzusehen war: Und das bei so einer kleinen Sprache wie dem Ungarischen! Das war sehr faszinierend.

War die deutsche Sprache in Ihrer Kindheit in Ungarn verpönt?

Ich denke, nicht nur die deutsche. In der ländlichen Umgebung, aus der ich herkomme, hat sich, was geschichtliche oder politische Bildung anbelangt, bis heute nicht besonders viel getan. Man segelt mehr oder weniger mit dem Rückenwind seiner Vorurteile durchs Leben. Vor dem Gesetz sollen alle gleich sein, ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Religion usw. In der Praxis wird genau entlang dieser Unterschiede entschieden. Wer spricht was für eine Sprache, wer geht zur Kirche und wer nicht, und wenn doch, dann in welche, wer hat welchen Ehestand, wer sieht wie aus etc. etc. Ich wundere mich, ehrlich gesagt, nicht darüber, dass Menschen gerne diese Unterscheidungen machen. Sie machen sie, um sich selbst zu definieren. Was mich wundert, ist, wie man die volle Zeit der Schulpflicht in Bildungseinrichtungen verbringen kann und trotzdem so wenig informiert sein kann, beispielsweise über die Geschichte der Minderheiten auf dem Gebiet des heutigen Ungarns. Es würde sehr helfen, wenn wir eine Regierung hätten, die ihre Feindbilder nicht in die Schulen tragen würde. Aber natürlich trägt eine jede Regierung ihre Feindbilder in die Schulen. Man will ja schließlich effektiv für die Zukunft vorsorgen. Gottlob hat man heutzutage wenigstens Zugriff auf andere Quellen. Die dann ein jeder – das muss man in Kauf nehmen – seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend interpretiert. Ein alter Witz, noch aus dem Sozialismus: »Gibt es bei Ihnen Antisemitismus?« »Nein, überhaupt nicht. Dabei gäbe es den Bedarf!«

Wie war Ihre sprachliche Erziehung? Welche Sprache hat man bei Ihnen zuhause gesprochen? Wurde darauf geachtet, dass Sie Ihre beiden Erstsprachen gleich gut können?

Und wie kam es dann dazu, dass Sie (fast) ausschließlich auf Deutsch schreiben? An welcher der beiden Sprachen machen Sie Ihre »Identität« fest? Welche empfinden Sie als Ihre »Muttersprache«?

Meine Großeltern haben eine deutsche Mundart gesprochen, meine Mutter mit mir Hochdeutsch, später Ungarisch. Sie hat darauf geachtet, dass ich Ungarisch kann, bevor ich in den Kindergarten kam, da sie das in ihrer Kindheit nicht konnte und es schmerzlich war, nicht mit den anderen Kindern sprechen zu können. Dank der Dauerbeschallung durch österreichisches Radio und Fernsehen hatte ich auch während der Zeit in der rein ungarischsprachigen Schule keine Schwierigkeiten, das Deutsche beizubehalten. Ich las und schrieb allerdings wenig auf Deutsch, so dass ich noch als Studentin in Berlin erst »Puskin« statt »Puschkin« schrieb, aber so etwas lernt man zum Glück schnell.

Wie sehr hat Sie das Aufwachsen in einem kommunistischen Land geprägt? Wie traumatisch war das bzw. welche Folgen hatte, hat es?

Obwohl ich nur 18 Jahre im Kommunismus verbracht habe, hat es natürlich seine Spuren hinterlassen. Aber ich schätze mich glücklich. Ich musste nicht 40 Jahre darin verbringen, und davor 30 im Horthyismus und dem Faschismus, und davor x Jahre im Feudalismus, wie es meine Urgroßeltern und dann meine Großeltern taten. Ich verbrachte genügend Zeit darin, um es erkennen und meine Lehren daraus ziehen zu können, aber nicht genug, dass es mich hätte auszehren oder zerstören können. Im Übrigen weise ich immer gerne darauf hin, dass das andere K in meinem K.u.K. neben dem Kommunismus der Katholizismus war. Ich bin auch dann kein Fan von Autokratien, wenn sie in einem religiösen Gewand daherkommen. Ich erkenne das Bedürfnis des Menschen nach Spiritualität an, ich persönlich kann mich aber mit keiner Institution (hier: keiner Kirche) identifizieren, die Ungleichbehandlung bis hin zur Ausbeutung und Missbrauch praktiziert.

Ungarn scheint ja, wie viele rechtspopulistische Regierungen, nicht gerade an der Aufarbeitung von Geschichte interessiert zu sein. In dem Dorf, in dem Sie aufgewachsen sind, gab es ein jüdisches Zwangsarbeiterlager. Sie haben dort mit den letzten Zeitzeugen gesprochen und sie über diese Zeit befragt. Was ist damals passiert? Was ist aus diesem Projekt geworden? Was konnten Sie noch in Erfahrung bringen? Was haben die Menschen Ihnen erzählt? Und konnten Sie auch mit Ihrer Familie darüber sprechen, die ja nach dem Krieg als eine der wenigen deutschsprachigen in Ungarn geblieben ist. Wie kam es eigentlich dazu? War es tatsächlich so, dass damals kein Zug mehr kam? Glauben Sie, dass wir jemals aus der Geschichte lernen?

Nachdem ich gebeten worden war, etwas über Ernö Széps »Zerbrochene Welt. Drei Wochen 1944« zu schreiben, das gerade auf Deutsch erschien (darin beschreibt der ungarisch-jüdische Autor, wie er im faschistischen Ungarn Zwangsarbeit leisten musste; Anm. d. Red.), erinnerte ich mich, von meinen Großeltern etwas über »die Juden« im Dorf gehört zu haben. Also habe ich zwei Frauen und meine Großeltern (alle geboren zwischen 1929 und 1934) befragt, woran sie sich erinnern können. Leider sind meine beiden Interviewpartnerinnen inzwischen verstorben, dabei hätte insbesondere Hermine noch so gerne über die Vertreibung geredet. Der Essay, den ich aus den Interviews gewonnen habe, ist dann zusammen mit einem Aufsatz eines Schulkameraden, der Historiker geworden war, in einem ungarischen Magazin (Soproni Szemle) erschienen. Zunächst schien es so, als würde das kein weiteres Echo erzeugen, aber dann kam dieses Jahr plötzlich eine Historikerin zu meinen Großeltern, um sie auch noch einmal zu interviewen. Sie nahm ihre Erinnerungen auf Video auf. Ihr Projekt ist noch nicht abgeschlossen, ich bin gespannt, was daraus wird. Ich gehe davon aus, dass sie auch in den anderen Dörfern der Gegend die letzten Zeitzeugen befragt hat. Es wird also irgendwann Zeitzeugen-Dokumente in irgendeinem Archiv geben. Natürlich waren die Zeitzeugen damals noch Kinder und sind heute hochbetagt. Und viele sind durch die Vertreibung auch nicht mehr auffindbar. Die Familienlegende besagt in der Tat, dass »kein Platz mehr im Zug« war, aber das war vielleicht auch nur Hörensagen. Fakt ist: Sie standen mit ihrem Gepäck auf der Straße und dann hieß es, sie werden doch nicht »ausgeliefert«. Ihr Vermögen, sprich das Haus, in dem sie lebten, und ihre Felder wurden ihnen aber weggenommen. Und dann lebten sie noch Jahrzehnte im gleichen Dorf mit denen, die in ihrem Haus wohnten und den anderen, die bei der Vertreibung geholfen haben. Selbst das ist mir eine beinahe unerträgliche Vorstellung. Wenn ich dann noch bedenke, wie es den Überlebenden des Holocaust gegangen sein muss. Die Interviews mit Mitzi und Hermine kann man in meinem Arbeitsbuch »Fleckenverlauf« nachlesen. Den Essay gibt es weiterhin nur auf Ungarisch. Aber es gibt doch einiges an Forschung dazu in Ungarn. Leider interessieren sich dafür auch in Ungarn nur die Gebildeteren, womit ich nicht Akademiker meine, sondern diejenigen mit Herzensbildung. Der Ort selbst fängt mit seiner Geschichte im 20. Jahrhundert im Moment noch wenig an. Offenbar ist es zu schmerzlich, zu schambehaftet. Vielleicht fällt jemandem in Zukunft etwas Kluges dazu ein, wie man die Leute mit ihrer Geschichte versöhnen kann, die ihnen ja auch dann gehört, wenn sie nicht glorreich war, und auch dann, wenn sie erst »nachher gekommen« sind.

Haben Sie noch Verwandtschaft in Ungarn? Mit welchen Gefühlen besuchen Sie heute das Land?

Sie leben nun schon seit mehr Jahren in Deutschland als in Ungarn. Besitzen Sie noch die ungarische Staatsbürgerschaft? Was bedeutet »Heimat«, Zugehörigkeit für Sie? Wo fühlen Sie sich zuhause?

Alle Familienmitglieder, die nicht vertrieben wurden, leben weiterhin in Ungarn. Seitdem ich ein Kind habe, verbringen wir alle Schulferien in Ungarn, denn meine Tochter liebt die Sprache, das Essen, ihre Oma. Also die wichtigen Dinge. Das ist ihr Erbe, das ihr nicht weggenommen werden kann. Unsere Heimat gehört nicht unseren Regierungen.

Als EU-Bürgerin darf ich beide Staatsbürgerschaften haben. Beide Pässe zu haben beschreibt ziemlich genau meine Existenz. Das bin ich, so lebe ich. Ich fühle mich an diesen beiden Orten zu Hause: dort, wo Deutsch gesprochen wird, und dort, wo Ungarisch gesprochen wird. Das ist unabhängig von Nationalstaaten, so gesehen zeigen die beiden Pässe meinen Status doch nicht zur Gänze an. So etwas können Pässe nicht. Wie ich lebe, ist meine Heimat, wie Zsófia Balla so treffend formuliert hat.


Terézia Mora, 1971 in Sopron geboren, ist eine der bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Sie lebt seit 1990 in Berlin, wo sie Hungarologie und Theaterwissenschaften studierte. 1999 entschied sie mit ihrer Erzählung »Der Fall Ophelia« den Bachmann-Preis für sich. Es folgten der Roman »Alle Tage«, die dreibändige Reihe um den IT-Spezialisten Darius Kopp (»Der einzige Mann auf dem Kontinent«, »Das Ungeheuer«, »Auf dem Seil«), »Die Liebe unter Aliens« sowie das Tage- und Arbeitsbuch »Fleckenverlauf«. 2018 erhielt sie den Büchner-Preis. Terézia Mora ist auch eine begnadete Übersetzerin.

Terézia Mora
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Luchterhand, 448 S.