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Angela Lehner

»Im Zweifel stehe ich immer auf der Seite meiner Figuren«

von Konrad Holzer 

11. November 2021

In ihrem Interview mit Buchkultur erzählt die Autorin Angela Lehner von ihrem frühen Traum Autorin zu werden – den sie für ähnlich unrealistisch hielt wie den Beruf Astronautin. Doch sie hat es geschafft und mittlerweile findet sich ihr Namen in fremden Bücherregalen wieder. In ihrem Schreiben begegnet Lehner ihren Figuren ganz auf Augenhöhe, erzählt sie, ohne dabei auf „Gesetzmäßigkeiten“ zu achten oder etwaige Erwartungen erfüllen zu wollen. Auch in ihrem neuen Roman „2001“ beobachtet sie die Protagonistin Julia während des Schreibprozesses und endet schlussendlich mit der Geschichte ganz woanders, als sie ursprünglich erwartet hätte. Illustration: Jorghi Poll.


Buchkultur: Zuerst einmal zu Ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin: Was war zuerst, das Studium der Komparatistik oder der Wunsch, schreiben zu wollen?

Angela Lehner: Den geheimen Wunsch, eines Tages ein Buch zu schreiben, gab es schon recht früh. Autorin empfand ich aber nie als einen realistischen, erreichbaren Beruf, ebensogut hätte ich den Wunsch haben können, Astronautin werden zu wollen. Ich kannte ja auch niemanden aus dem Literaturbetrieb, sodass eine Karriere in dieser Richtung nahegelegen hätte. Für das Komparatistikstudium habe ich mich als junge Frau wahrscheinlich einfach aus Mangel an Studienberatung eingeschrieben. Ich habe halt gern gelesen. Als ich in der Uni Wien dann dauernd in überfüllten Hörsälen am Boden gesessen und in der restlichen Zeit gejobbt habe, habe ich schnell gemerkt: Oh je, das wird eine prekäre Sache. Irgendwann bin ich sogar zum WIFI am Währinger Gürtel gegangen und hab mich auf verborgene Fähigkeiten testen lassen. Lieber hätte ich BWL studiert oder Jus, irgendetwas Zukunftsträchtigeres eben.

In dieser Zeit schrieb ich übrigens kaum literarisch, für den verborgenen Wunsch Schriftstellerin zu werden, schämte ich mich eher. Ich versuchte also eher, journalistische Erfahrung zu sammeln, um nach meinem Abschluss in diesem Bereich arbeiten zu können. Erst als ich später meinen Master in Erlangen gemacht habe, ist mir zufällig ein Plakat mit einer Ausschreibung für eine Schreibwerkstatt des Literaturhauses München aufgefallen und ich habe mir gedacht: Einmal versuchst du es. Die eine Bewerbung machst du. Dort wollten sie mich tatsächlich haben und von da an habe ich einfach immer mit dem Schreiben weitergemacht.

Sie nahmen an der „Autorenwerkstatt Prosa“ des Literarischen Kolloquiums Berlin teil. Was haben Sie dort gelernt?

Sobald ich in der ersten Schreibwerkstatt war und einen Preis beim ersten Wettbewerb gemacht hatte, wurde mir klar: Das ist der Moment, in dem du Gas geben musst, keiner im Literaturbetrieb hat nach einer Angela Lehner gefragt, du musst nachlegen und dich beweisen, sonst kräht morgen kein Hahn mehr nach dir. Ich habe mich also mehrere Jahre lang für so ziemlich jede Ausschreibung, die ich finden konnte, beworben; habe jede freie Minute neben dem Studium und später neben dem Job genutzt, um mein Romanprojekt („Vater unser“) voranzutreiben. Das sieht man im Nachhinein nicht, all die Mühe und die Absagen, die man kassiert. Außerdem hat man am Anfang wenig Feedback und die Leute im Freundeskreis schauen einen erschrocken an, wenn man erzählt, dass man seine Festanstellung kündigen will, um seinen Roman fertigzuschreiben. Die denken halt, man ist deppert geworden und selber denkt man das irgendwann auch. Man ist plötzlich gezwungen, einen unfassbaren Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, was so überhaupt nicht mit der Unsicherheit einhergeht, die man am Anfang so einer Künstlerinnenkarriere mit sich schleppt. Dabei hat mir beispielsweise die Prosawerkstatt des LCB sehr geholfen. Dort herrschte einerseits ein recht hohes Niveau, was die Qualität der Texte betraf und andererseits wurde recht schonungslos kritisiert. Das hat mich gezwungen, selbstbewusst hinter meinem Projekt zu stehen und zu sagen: Ich glaube an meine Geschichte, ich weiß, was ich kann, und das mache ich jetzt einfach.

Auf Wikipedia steht auch, dass Sie als selbständige Schriftstellerin und Texterin in Berlin leben. Wie geht das zusammen? Ist Texterin Ihr Brotberuf, von dem Sie sich für Ihre Arbeit als Schriftstellerin eine Auszeit nehmen müssen?

Seit ich meinen eigenen Wikipedia-Artikel gelesen habe, verstehe ich erst, wie unzuverlässig die Seite sein kann. Die Infos dort sind teilweise doch sehr veraltet bzw. wahllos gestreut. Ich habe in der Zeit zwischen meiner Vollzeitanstellung und der Veröffentlichung von „Vater unser“ immer wieder kleine Brotjobs als Texterin, Übersetzerin, Lektorin, usw. übernommen. In Wirklichkeit bin ich aber irgendwann tatsächlich „Astronautin“ geworden – ich lebe mittlerweile schon seit mehreren Jahren von der Schriftstellerei.

Bevor ich zu Ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin komme, würde ich noch gerne erfahren, was Sie antreibt, wenn Sie in der ZEIT über „dieses kleine, süße Nachbarland“ oder den „Körper der Mutter“ schreiben.

Ich bin ja fast schon ein bisschen stolz, dass diese alten Artikel noch immer zitiert werden – wahrscheinlich wegen Wikipedia. Beim „süßen kleinen Nachbarland“ hat mich diese Ambivalenz angetrieben: Dass hier (ich lebe ja in Berlin) einerseits die Deutschen ständig verniedlichend über Österreicher/innen reden, unsere Dialekte als unterhaltsam empfinden und das Land eher als Urlaubsidyll wahrnehmen. Und auf der anderen Seite liest man wieder in den Nachrichten, wie in Österreich Femizide fast schon an der Tagesordnung sind ,Kinder abgeschoben werden, rechtspopulistische Parteien am aufsteigenden Ast sind. Dann schaut es euch halt einmal genau an, liebe Deutschen, habe ich mir gedacht: Schaut euch dieses „niedliche“ Land einmal genau an und überlegt euch, was ihr davon für euch selbst mitnehmen wollt. Für eure eigenen politischen Entscheidungen usw.

Ihre zwei Heldinnen: die Kunstfigur und „höchst unzuverlässige Ich-Erzählerin“ Eva Gruber und jetzt Julia Hofer. Die eine ist eine unzuverlässige Erzählerin, so die begeisterte Kritik, die andere ist – so scheint es – eine höchst zuverlässige Erzählerin, die einfach alles erzählt, was mit ihr passiert. Nur eben das nicht, was sie nicht erzählen will.

Ich hab ja schon vor langer Zeit meine Bachelorarbeit über „Unzuverlässiges Erzählen“ geschrieben und dieses spezielle Erzählverhalten hat mich auch bei „Vater unser“ beschäftigt. Nun bei „2001“ ist mir klar geworden, dass dieses Konzept noch viel umfassender ist. So viele Texte funktionieren nur über kalkulierte Informationsvergabe. Streng genommen ist man als Leser/in ständig dem/der Erzähler/in ausgeliefert, und muss hoffen, dass diese/r auch ein/e Zuverlässige/r ist. Fürchterlich, oder?

Bei der Lektüre von 2001 hat mich ein gewisses Gefühl nicht verlassen und zwar: dieses 2001 wäre eigentlich – geht es nach den Gesetzmäßigkeiten der österreichischen Literatur von Barbara Frischmuth bis Franz Innerhofer usw. – ein Erstling. So oft war doch Aufarbeiten der eigenen Kindheit und Jugend Inhalt der Erstlingswerke österreichischer Autor/innen. Wobei ich von der Ansicht ausgehe, dass das, was Julia in 2001 erlebt, stark autobiografisch gefärbt ist. Sie sagen es mir bitte, wenn ich mich da irre. Haben Sie eine „Crew“ erlebt, haben Sie Kenntnis vom „Restmüll“?

Ich freue mich, dass Sie den Roman als so lebensnah empfinden, dass Sie auf die Idee kommen, er müsse auf autobiographischen Tatsachen beruhen. Als Leserin bewundere ich auch diejenige Autor/innen am meisten, die eine Geschichte so glaubhaft und prägnant erzählen können, dass man am Ende denkt, sie müsse wahr sein.

Ich bin genauso wenig Julia Hofer, wie ich Eva Gruber war, aber Sie haben recht: ich teile mir bestimmte Lebensrealitäten mit meinen Figuren. Eva Gruber ist in einem katholischen Dorf in Kärnten aufgewachsen, genau wie ich. Und Julia Hofers Teenagerzeit ist sehr von der Identifikation mit Rapmusik geprägt. Ich konnte mich gut in Julias Leidenschaft für die Musik hineinversetzen, weil es tatsächlich dieselbe Musik ist, die ich in meinen eigenen Teenagerjahren gerne gehört habe. Am Ende des Buches ist auch eine Playlist, die einige meiner eigenen Lieblingslieder dieser Zeit enthält. Und die kommen alle auch im Text vor.

Ich würde sagen, dass meine eigene Lebenswelt meinen Texten einen Anker gibt, aber die Geschichte entwickelt sich über die Figuren. Am Anfang ist da nur die Erzählstimme und ich höre zu. Da kenne ich die Person noch gar nicht, ich schätze sie noch falsch ein. Mein Schreiben ist erstmal ein Beobachten der Figuren, ich protokolliere, was sie in welcher Situation denken, wen sie so treffen, und was sich aus diesen Begebenheiten entwickelt. Wenn ich die Figuren dann kenne, schaue ich, was ihre Sehnsüchte und Wünsche sind, und wie sich das in der erzählten Welt entwickeln könnte. Dann beginne ich zu strukturieren und versuche, die Sache rund zu machen. Dabei begegne ich meinem Figuren-Ensemble auf Augenhöhe. Ich würde sie niemals zwingen etwas zu sagen, was mir oder dem Publikum wichtig ist, wenn es zur Figur nicht passt. Auch wenn es nicht immer einfach ist: Im Zweifel stehe ich immer auf der Seite meiner Figuren. Dabei können sie mich auch überraschen. Julia hat sich beispielsweise auf eine Weise entwickelt, die ich nicht vorhergesehen hätte, damit war ein anderer Ausgang der Geschichte möglich, als ursprünglich von mir erwartet.

Übrigens habe ich ein anschauliches Beispiel für Sie, wie das Wahre und das Erfundene bei meinem Schreiben zusammenarbeiten. „Das Tal“, der Ort, an dem mein neuer Roman spielt, ist nämlich beispielsweise ein Hybrid aus Schauplätzen in Tirol, Kärnten und Salzburg. In der fiktiven Kleinstadt Tal spielen sich Konflikte ab, die damals im ganzen Land gewütet haben, auch über die Grenzen Österreichs hinaus in den Nachbarländern. Trotzdem erinnert die Stadtgeographie aber an meine Heimatstadt Lienz. Das Eisgeschäft in Tal ist dem Lienzer Eisgeschäft nachempfunden, der Hauptplatz dem Hauptplatz meiner Jugend. Das heißt aber überhaupt nicht, dass sich irgendetwas von dem Erzählten tatsächlich 2001 in meiner Heimatstadt abgespielt hätte. Die Orte meiner Jugend dienen der erfundenen Erzählwelt sozusagen als Realitätseckpfeiler.

Marcel Reich-Ranicki hat einmal im „Literarischen Quartett“ provokant geäußert, dass ihn die Schicksale unintelligenter Menschen überhaupt nicht interessierten. Wie stehen Sie zu Ihrer Heldin? Sie kommentieren ihre Aktionen eigentlich nicht wertend, sie lassen Julia einfach vor sich hin erzählen. Mögen Sie Julia? Haben Sie – wie es mir im Laufe der Erzählung gegangen ist – Mitleid mit ihr? Wenn das Schluchzen nicht ins Tal fallen soll? Wenn Bene zu ihr sagt: „Glück ist nichts, was Du hast. Das kommt freiwillig nicht zu dir, Julia. Du bist halt eine, die das Glück erst zwingen muss.“ Wird sie es zwingen?

Naja, Marcel Reich-Ranicki hat auch gesagt „Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert?“, was in meinen Ohren heute ziemlich unintelligent klingt und mich wiederum überhaupt nicht interessiert.

Ich glaube, dass wir im Jahre 2021 bereit sind, einer jungen, weiblichen, unterprivilegierten Erzählstimme zu folgen, ohne ihr eine Randposition in der Literaturwelt zuzuweisen, ohne sie als unrelevant abzutun oder nach einem Genrestempel suchen zu müssen.

Ich finde aber interessant, dass Sie Julia anscheinend als „unintelligent“ wahrgenommen haben. Meiner Meinung nach verhält sich die Hauptfigur in „2001“ im Gegenteil ziemlich klug und schlagfertig, das Prädikat „dumm“ oder „langsam“ wird ihr höchstens von ihrem Umfeld zugeschrieben.

Was viel mehr über eine Figur aussagt, als Rollenzuschreibungen, ist doch wie diese agiert, wie sie sich entwickelt. Hätten Sie eine Julia, die Zuhause Klavierunterricht bekommt, anstatt ihre eigenen Rap-Songs zu schreiben automatisch ernster genommen?

Wie ist Julias Verhältnis zu Ihrem Bruder und welche Rolle spielen Eltern in der Erzählung?

Julias Verhältnis zu ihrem älteren Bruder Michael ist ambivalent. Er ist ihr Hauptansprechperson und Elternersatz, verhält sich ihr gegenüber aber oft abweisend. Als Leser/in versteht man das Dilemma des Michaels besser, der eigentlich selbst noch Kind, zu früh in eine verantwortungsvolle Rolle gedrängt wird. Der Roman ist geprägt von der Abwesenheit der Eltern, es treten kaum Erwachsene auf.

Dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit, der fehlenden Antworten, prägt für mich auch sinnbildlich die Gesellschaft der frühen 00er-Jahre. Vieles, das bis dahin galt, will plötzlich nicht mehr greifen. In Österreich und vielen Nachbarländern erstarken nationalistische Gedanken, gleichzeitig gibt es mit dem Euro zum ersten Mal eine gemeinsame Währung für Europa. Terroranschläge prägen schon vor 9/11 die Medienlandschaft. Man fürchtet sich einerseits vor dem, was kommt, ist andererseits aber auch fasziniert von den Möglichkeiten neuer Technologien. Das alles kommt im Roman ja auch vor. Es ist gesamtgesellschaftlich gesehen eine Phase der Adoleszenz.

Die Musik spielt eine große, sehr große Rolle in dem Buch. Was ist, wenn einem all diese Titel und Sänger/innen nichts sagen, wie mir zum Beispiel. Dann gehe ich darüber hinweg. Nehme es einfach als Julias Begeisterung hin, wie wenn sie meine Enkelin wäre. Aber Sie wollen doch mit dieser Musik auch etwas ausdrücken, oder?

Wenn ich selbst Roman lese, ist es keineswegs so, dass ich immer alle Anspielungen auf Kunstwerke oder andere Umstände verstehe. Ein guter Text muss meiner Meinung nach erstmal für sich stehen, er muss funktionieren und die Leser/innen abholen, ohne diese in eine Rechercherolle zu zwängen. Musik ist im Text ein wichtiges Instrument für Zusammenhalt und Identitätsstiftung, das ist wichtig, das soll ankommen. Wenn man darüberhinaus einige der Lieder noch kennt, ist das ein zusätzliches Zuckerl.

Wollten Sie ein Buch für junge Leute schreiben, die sich in Julia wiederfinden können oder wollen Sie bei Erwachsenen Verständnis für die Probleme dieser Jugendlichen erwirken?

Weder noch. Ich denke beim Schreiben in erster Linie an meine Figuren, an die Geschichte, die erzählt werden will. Ich habe keine Zielgruppe im Kopf. Wenn der fertige Text Jugendliche in irgendeiner Form bestärkt, freue ich mich aber natürlich. Ich mag es generell, wenn jemand richtig viel aus dem Text herausziehen kann, genau liest, sich mit sprachlichen Feinheiten auseinandersetzt, vielleicht auch versteckte Anspielungen versteht.

Wie geht es Ihnen jetzt, zwanzig Jahre danach damit?

Hin und wieder fühl ich mich ein bisschen alt, besonders wenn ich die Musik wieder höre und sofort wieder Erinnerungen meiner eigenen Jugend kommen. Dann denke ich mir: Das soll schon 20 Jahre her sein? Das ist doch gelogen.

Wie geht es Ihnen jetzt, wo das Buch seinen Weg geht, Sie nichts mehr dazu machen können? Ist man da aufgeregt oder ruhig?

Doch, ich bin schon aufgeregt. Es ist schon seltsam, nach einer langen Schreib- und Coronaabstandsphase wieder aus seinem Elfenbeinturm zu steigen und den Text vor Publikum vorzustellen oder Interviews zu führen. Aber das hat ja auch alles seinen Reiz.


2001
Hanser Berlin, 384 S.

Der Bär
Sukultur, 20 S.

Vater unser
Hanser Berlin, 288 S.