Bevor in diesen Krisenzeiten noch Bestellungen beim Online-Buchhandel des Vertrauens getätigt werden, kann auch der Blick ins eigene Bücherregal manchmal recht lohnend sein.


In meinem Regal steht da zum Beispiel das Buch „Ikigai“ von Ken Mogi, einem Neurowissenschafter, der präzise und geduldig an diese japanische Glücksphilosophie heranführt und dabei überraschend viel Hilfestellung für ein heruntergefahrenes Sozialleben wie unseres zur Zeit leistet. Ikigai – wörtlich der „Sinn des Lebens“ – lehrt uns, dass das Glück nicht etwa im großen Erfolg liegt, sondern in den kleinen Details des alltäglichen Lebens, im Wertschätzen dieser und im adäquaten Umgang mit den jeweiligen Umständen. Vor allem auch in der Erkenntnis, dass eine jede Wiederholung sich nur als solche tarnt und sich doch immer von der vorhergehenden unterscheidet.

Warum also nicht noch viel öfter die liebsten Bücher wiederlesen? Ich greife ohne zu Zögern zu Leïla Slimanis Erstling „All das zu verlieren“, im Regal direkt neben „Ikigai“. Die französisch-marokkanische Schriftstellerin und Preisträgerin des Prix Goncourt versteht es wie kaum eine andere, die Zerrissenheit der Frau in der Gesellschaft abzubilden. Besonders ihr marokkanischer Hintergrund hat ihre Sensibilität für Sozialkritik aufs Höchste geschärft und so ist es kein Zufall, dass ihre Protagonistin Adéle den Riss nahezu körperlich darstellt. Überzeugt, den allgemeinen Erwartungen an sie gerecht werden zu wollen, lebt sie ein Leben der Kompromisse. Sie arbeitet als Journalistin in einem Job, der sie eigentlich langweilt, gründet mit ihrem Mann eine Familie, deren Verantwortung sie in Wahrheit erdrückt und führt von außen betrachtet das, was man gemeinhin ein glückliches Leben nennt. Slimani entlarvt Adéle allerdings auf höherer Ebene: Sie überführt sie mit diesem genialen Roman des Missverstehens des eigenen Wollens.

Das äußert sich in extremen Eskapaden, bis hin zu Gewalttaten, denen sich Adéle willentlich aussetzt. Adéle antwortet der Sexualisierung der Frau in unserer Gesellschaft mit vollkommener Überspitzung. Was man als „Sexsucht“ bezeichnen könnte, ist verzweifelter Versuch ihren Körper und ihre Lust wieder selbst zu besitzen, wo er doch schon lange verloren ist. Leïla Slimani vermeidet es als Autorin, wertende Urteile zu fällen, und umso leichter ist es für die Lesenden sich in Adéles Welt und all das, was darin zu verlieren ist, zu begeben. Das Buch beschreibt die vorsichtig trippelnden Tanzschritte auf dem Grat, der heile Welt vom Abgrund trennt.
Bücher wiederzulesen lässt Dinge in neuem Licht erscheinen. Man erinnert sich an das wohlig warme Gefühl, das entsteht, wenn Worte etwas haargenau treffen. Man erlaubt sich einmal mehr im Sog der Geschichte verloren zu gehen. Besonders unter dem Paradigma des Ikigai, bei dem es darum geht, das eigene Ich der Wahrnehmung zuliebe zu unterdrücken und stattdessen völlig präsent im Hier und Jetzt zu sein, ist das Lesen so fernab von Leistungs- und Anerkennungsdenken fast schon revolutionär. In Anbetracht der Tatsache, wie viele Menschen derzeit um ihren Job zittern müssen, mag das vielleicht einen Anklang von Ironie haben. Doch gerade jetzt ist es so wichtig wie noch nie, sein Glück zu suchen. Und das liegt nicht selten im heimischen Bücherregal.