Provokant anders und seltsam vertraut: In Zeruya Shalevs wildem Debüt »Nicht ich« erzählt eine junge Frau um ihr Leben. Foto: Jonathan Bloom.


Literaturpapst Reich-Ranicki galt ihr 2000 erschienener Roman »Liebesleben« als eines der besten Bücher, die er je gelesen hatte. Die Israelin Zeruya Shalev zählt zu den profiliertesten Stimmen unserer krisengebeutelten Gegenwart, die sie zuletzt auch thematisierte: Im Roman »Schmerz« z. B., der aus eigener Betroffenheit erzählt – Zeruya Shalev wurde 2004 bei einem Bombenanschlag in Jerusalem schwer verletzt.

Vor ihrem Durchbruch veröffentlichte sie Lyrik. Und einen Romanerstling, der 1993 in Israel harsche Kritiken einfuhr. Das erstmals auf Deutsch vorliegende Debüt enthält schon alle Themen ihrer späteren Werke, könnte aber stilistisch nicht weiter davon entfernt sein: Ein wilder, surrealistischer Seelen(s)trip durch die »gefährlichste Krankheit von allen«, die Liebe, und mit einer Protagonistin, die »Nicht ich« ist, wie Zeruya Shalev ausrichtet, aber aus ihr herausgeschrien habe zu einer Zeit, in der sie gerade Mutter geworden war und sich zerrissen fühlte zwischen ihren zwiespältigen Gefühlen. Der wüste Klagegesang einer Frau, die alles riskiert, um am Ende alles noch einmal von vorne zu lernen – schmerzvoll und wütend wie die Proteste der Propheten (Shalev studierte Bibelwissenschaften).

Das »Verbrechen« der unzuverlässigen Erzählerin, die mit der (leidvollen) Wahrheit noch nie gut ausgekommen ist? Sie hat offenbar ihren Mann und die fünfjährige Tochter für ihren Geliebten verlassen und verliert darüber fast den Verstand. Welches Recht hat sie, ihr Glück vor das ihres Kindes zu stellen? Das dem Anschein nach Heile und Ganze aus dem Fenster zu werfen, das man Familie nennt? Oder war es ganz anders? Wurde die Tochter vom Spielplatz weg von Soldaten entführt und über die Grenze gebracht? In Gängen unter dem Kindergarten verschwinden unbemerkt Kinder. »Nicht ich« liest sich beängstigend aktuell, wie eine Allegorie auf vergangene und gegenwärtige Schrecken. »Wir waren allein auf der Welt, daran hatte ich keinen Zweifel«, heißt es da, »und auch die Soldaten, die mit schwarzen Stiefeln um uns herum marschierten, hatten keine Zweifel daran. Auch sie wussten, dass wir allein in der Welt, dass wir vogelfrei waren.«

Im Land der Haare (die Protagonistin hat ihre verloren) stülpen sich die Menschen eine Plastiktüte über den Kopf. Wenn sie am Leben zerbrechen, ziehen sie am Faden und der Sack schließt sich. Der Tempel brennt, Katzen beginnen zu bellen, Vögel fallen vom Himmel und der Vater mutiert zur Kuckucksuhr. Große Literatur muss sich weder erklären noch vollständig erschließen. Ein Buch wie ein Fieberwahn: surreal, rätselhaft, grotesk, sprachgewaltig.

Zeruya Shalev
Nicht ich
Ü: Anne Birkenhauer
Berlin Verlag, 208 S.