Momentan vollzieht sich in der kanadischen Literatur ein tiefer Veränderungsprozess. Dieser historische Wandel ist auf eine breite wie offensive Bewegung der Ureinwohner in Kanada zurückzuführen, die 2012 aus der „Idle No More“-Bewegung hervorging, eigentlich aber Teil eines Jahrhunderte langen Widerstands ist. Die „Idle No More“-Bewegung folgte dem Druck der Indigenen auf die Bundesregierung nach der 1996 erfolgten „Royal Commission on Aboriginal Peoples“ und der „Truth and Reconciliation Commission“ (2007-2015), die eingerichtet wurde, um zu untersuchen, wie der Staat Kanada, beginnend in den 1880er-Jahren, über 100 Jahre versuchte, die indigenen Kulturtechniken im Bildungssystem zu marginalisieren und totzuschweigen. Die positiven Folgen dieses Aussöhnungsprozesses, vor allem die Anerkennung des tatsächlichen Wertes indigener Kulturen und deren profunder Fähig- und Fertigkeiten, spiegelten sich in einer nachhaltigen Reform des Bildungssystems wider – und haben dadurch nun auch eine dynamische neue Generation indigener Künstler, Musiker und Schriftsteller hervorgebracht.
Derzeit ist besonders die Lyrik der indigenen Schriftsteller bemerkenswert. Sie bauen auf der Arbeit jener indigenen Dichter auf, die in den 1990er-Jahren eine herausragende Stellung erlangten, wie Louis Bernice Halfe, Gregory Scofield und Marilyn Dumont. Mit den jungen Vertretern, die 2016 (Liz Howard), 2017 (Jordan Abel) und 2018 (Billy Ray Belcourt) den Griffin Poetry Prize, den wichtigsten privaten Literaturpreis in Kanada, gewonnen haben, geriet dieses literarische Wiedererwachen auch in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, da die Texte der drei Genannten nicht nur diverse, sondern auch so herausfordernd wie einnehmend sind. Liz Howards Buch „Infinite Citizen of the Shaking Tent“ wechselt zwischen indigenen Sichtweisen auf das Land und westlichen wissenschaftlichen Diskursen, um klassische Landschaftsbeschreibungen in der Poesie auszuhebeln. Es ist ein wunderschönes Buch mit präzisen und eindrucksvollen Gedichten. Jordan Abel, aus der Nisga-Nation im Norden von British Columbia, greift in existierende Texte ein, um die Geschichte der Indigenen Kanadas umzuschreiben und ein neues Bild davon zu entwerfen, wie kanadische Kultur sich die Ureinwohner vorstellt. Sein erstes Buch „A Place of Scraps“ ist eine lange und erstaunliche Auseinandersetzung mit dem Anthropologen Marius Barbeau, der im frühen 20. Jahrhundert die Völker der First Nations an der Westküste analysierte. Mit einer Reihe literarischer Techniken – von Ausradierungen bis zur Visuellen Poesie – macht Abel dessen anthropologischen Blick rückgängig. Für sein nachfolgendes Buch „Injun“ scannte der Autor öffentlich zugängliche Schund-Western-Romane aus den Jahren 1840 bis 1950 und suchte darin nach dem Wort injun, jener umgangssprachlichen Beleidigung, die einen wesentlichen Bestandteil dieser Western ausmacht. Aus den 509 Sätzen, die sich aus dieser Suche ergaben, konstruierte Abel eine Art Umkehrtext, der wiederum populäre Sichtweisen auf die Ureinwohner freilegt.
Jeff Derksen (Foto: Sabine Bitter)
Mit „The World is a Wound“ tauchte schließlich ein wirkmächtiger Gedichtband auf, der „die Auslöschung durch die Kolonialherrschaft ablehnt“, und dessen Autor Billy-Ray Belcourt für seinen Einsatz in der Community mit dem Indspire Youth Award ausgezeichnet wurde. In ähnlicher Weise hat sich Joshua Whithead mit seinem Gedichtband „Full-Metal Indigiqueer“ und dem Roman „Jonny Appleseed“ zu einer mächtigen Stimme für queere und two-spirited Schriftsteller und einem Kritiker von CanLit – wie Kanadische Literatur jetzt gelabelt wird – entwickelt. Und die „North Side Love Songs“ von Katherena Vermette, für die die Autorin 2013 mit dem Governor General’s poetry award ausgezeichnet wurde, stellen ein hervorragendes Beispiel für die urbane Perspektive in der indigenen Lyrik dar (in Anlehnung an frühere Werke wie Marvin Francis‚ „City Treaty“ oder Marie Annharte Bakers ausgesprochen komischen und schonungslosen Gedichtband “Indigena Awry“), weil es einen klar-kritischen, jedoch liebevollen Blick auf die Stadt Winnipeg wirft.
Die steigende Anerkennung indigener Schriftsteller hat jedoch auch einige der eingefahrenen Strukturen der kanadischen Literatur ins Wanken gebracht; es gab nicht wenige, dezidiert öffentliche, Widersprüche, die zeigen, dass CanLit nach wie vor ein konservatives Zentrum hat, das darauf abzielt, indigene Schriftsteller am Rand zu halten, selbst wenn sie als solche mit ihren Auszeichnungen Teil der Marke und dazugehörigen Kulturindustrie werden. Dies hat einige Protagonisten wie Whitehead und Gwen Benaway dazu veranlasst, sich vom gesamten Apparat einer nationalen Literatur zu distanzieren, die auf Siedlerkolonialismus basiert. Leanne Betasamosake Simpson, eine Schriftstellerin und Wissenschaftlerin aus Michi Saagiig Nishnaabeg, stellt die Vereinnahmung der indigenen Literatur in CanLit jedoch positiv in Frage und verweist auf die Qualität dieser Wiederauferstehung: „Unser Schreiben sieht anders aus als CanLit – und das ist eine gute Sache, denn unsere Brillanz stammt von einem anderen Ort.“
(Erstveröffentlichung: Buchkultur Bücherbrief, August 2019)
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Jeff Derksen studierte in Nelson, BC, und an der Universität von Calgary. Er ist derzeit Dekan an der Simon Fraser Universität in Vancouver am English Department. Derksen ist außerdem einer der Begründer der Kootenay School of Writing in Vancouver. Und er ist im übrigen auch Poet (z.B. „Transnational Muscle Cars“). Zuletzt erschienen: „Scree. Fred Wah. Collected Earlier Poems“ (Talonbooks), 2015. (Foto: Sabine Bitter)
Link: Interview mit Leanne Betasamosake Simpson