Rechtzeitig zum 100. Geburtstag der brasilianischen Autorin Clarice Lispector ist der zweite Band ihrer sämtlichen Erzählungen erschienen: »Aber es wird regnen« ist eine der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres. Foto: ©Family History Photo Archive


Spätestens mit dem Erscheinen der gleichermaßen umfänglichen wie detailreichen Clarice-Lispector-Biografie von Benjamin Moser 2009 und der deutschsprachigen Übersetzung vier Jahre später hat eine internationale Wiederentdeckung dieser Meisterin der literarischen Moderne eingesetzt – endlich, so möchte und muss man ergänzen. Clarice Lispector (1920–1977) bündelt viele Zuschreibungen, nicht wenige davon haben mit ihrem Lebensverlauf und ihrer Selbstinszenierung zu tun. Als das Kind einer jüdisch-ukrainischen Familie auf der Flucht entgeht zumindest sie den Gräueln der Progrome, noch als Kleinkind wird aus Chaya nun Clarice. Der frühe Tod der Mutter und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten überschatten den Neustart in Brasilien, doch schon als Studentin veröffentlicht Lispector erste Texte, mit ihrem Debütroman »Nahe dem wilden Herzen« (1944) gelingt ihr bereits der sprichwörtliche Durchbruch. Als Gattin eines Diplomaten lernt sie in den Folgejahren die Vereinigten Staaten und Europa (neu) kennen. Sie knüpft Kontakte zu anderen Künstlern, kontinuierlich schreibt sie – und schreibt sich, retrospektiv betrachtet, in den Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts ein. Die Phase ab 1959 wird gemeinhin als besonders wichtig für ihr Werk eingeschätzt: Clarice Lispector kehrt nach Brasilien zurück, 1961 veröffentlicht sie »Der Apfel im Dunkeln«, 1964 erscheint »Die Passion nach G.H.«, heute ein Standardwerk der feministischen Literatur.


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Bis zu ihrem frühen Tod bleibt sie aktiv, wird als Autorin, Journalistin und Übersetzerin geschätzt, wenngleich das Veröffentlichen schwerer fällt, zahlreiche Verlagswechsel notwendig sind und gesundheitliche Umstände das Arbeiten erschweren. Den Vergleich mit anderen großen Namen der literarischen Moderne, ob Virginia Woolf oder James Joyce, ob Katherine Mansfield, Franz Kafka oder – um den in ihrem Kontext Vielgenannten einen neuen hinzuzufügen – Hermann Broch, hält sie zweifellos stand. Clarice Lispector ist ein Klassiker, gewiss, aber bedauerlicherweise ein posthumer.

Die Form der Erzählung begleitet Lispector ihr ganzes Leben über – doch darf man sich ihre Texte nicht als traditionell handlungsgetrieben erwarten. Die prinzipielle Krisenaffinität des Erzählens zeigt sich bei ihr auf völlig andere, aber eben auch reizvollere Weise. Lispectors Literatur steht für Atmosphären und Introspektion, für Innenansichten und produktive Verschiebungen der Perspektive im Blick auf die nur wenigen Seiten gelingt es ihr in direkter, ja mitunter fast schon unaufgeregter Weise, die Widersprüche der Realität zu entfalten, die Absurditäten und Zumutungen menschlicher Existenz sehr pointiert zu vermitteln. [ … ]

Der vollständige Artikel befindet sich in Buchkultur Ausgabe 193.
Weiterlesen:


Clarice Lispector, Traum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I, (Penguin)
Übers. v. Luis Ruby, 414 S.

Clarice Lispector, Aber es wird regnen. Sämtliche Erzählungen II, (Penguin)
Übers. v. Luis Ruby, 282 S.

Benjamin Moser, Clarice Lispector. Eine Biographie (btb), 564 S.