Das Ende der Sterblichkeit als Science-non-Fiction-Albtraum: Frédéric Beigbeder erforscht in seinem Roman „Endlos leben“ Sinn und Sitz des ewigen Lebens. Kritisch, komisch, erschreckend, berührend und herrlich politisch unkorrekt. Foto: JF Paga.
Buchkultur: Wie realistisch ist das Szenario, das Sie im Buch beschreiben: Blutjagden, Schwarzhandel mit Blut, Menschen mit künstlicher Intelligenz, WLAN-Babys usw.?
Beigbeder: Die Idee dieses Romans ist es, genau dasselbe zu tun wie zum Beispiel Mary Shelley, die „Frankenstein“ schrieb. Sie verwendet die Wissenschaft und stellt sich die Konsequenzen neuer Entdeckungen vor. Als sie das Buch verfasste, arbeitete man mit Elektrizität am menschlichen Körper, und heute weiß man, dass das funktioniert. Wenn jemand einen Herzanfall hat, kann man Elektrizität verwenden, um jemanden wiederzubeleben. Und so schrieb sie die Geschichte von „Frankenstein“. Und für mich war es dieselbe Idee, alle aktuellen gegenwärtigen Entdeckungen zu nehmen wie die iPS-Zellen, die CRISPR/Cas9-Methode, Genetik, Biotechnologie, die Transfusion mit jungem Blut, 3D-Bio-Printing der Organe, und mir vorzustellen, was passieren könnte. Das ist der Grund, Fiktion zu schreiben: sich Geschichten vorzustellen, indem man die Realität verwendet. Das habe ich versucht, und es ist möglich, dass alte Leute junges Blut jagen, wenn bestätigt wird, dass junges Blut jünger macht. Und dann wäre es logisch, dass es auch Handel mit jungem Blut von armen Ländern gäbe, so wie es Drogenhandel gibt. Es ist einfach, sich die Folgen solcher Entdeckungen vorzustellen. Aber natürlich hoffe ich, dass ich mich irre.
Eine Privatklinik in Monterey, Kalifornien, experimentierte bereits mit Transfusionen jungen Bluts.
Ich war angemeldet, aber ich änderte meine Meinung in letzter Minute. Ich sprach am Telefon mit Jesse Karmazin, der das organisiert. Aber ich war auch an der Harvard Medical School, und dort traf ich Professor Church, der mir sagte, dass das nicht seriös ist – noch nicht. Denn es gab keine wirkliche „Double Blind Placebo Controlled Randomized Clinical Trials“-Überprüfung, und wie ich im Buch sage, ist das die einzige Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Methode seriös ist oder nicht. Vielleicht werden wir in ein paar Jahren wissen, wenn wir es an uns bestätigt haben, ob junges Blut die Menschen jünger macht. Es funktioniert an Mäusen, aber wir sind keine Mäuse.
Wurden Sie denn, wie Ihr gleichnamiger Protagonist im Buch, von Ihrer Tochter gefragt, ob Sie eines Tages sterben müssen?
Ja, genau. Es ist sehr schwierig zu antworten: Ja, ich werde sterben, und du auch, und alle deine Freunde und alle Leute, die du kennst, und dein Kaninchen, deine Katze, und die Blumen, alles. Im Buch stelle ich mir vor, dass ich nicht nur ein Lügner werde, sondern auch mein Versprechen erfüllen muss. Das ist der Beginn des Buchs, und dann muss ich um die ganze Welt reisen, um herauszufinden, wie man den Tod tötet.
Ihr Kapitel über die österreichische Detox-Klinik Viva Mayr in Maria Wörth brachte mich sehr zum Lachen. Da ist die Rede von „einsamen Wiederkäuern, die traurig zum Steg am See blicken“, von der „Wandlung zum Übermenschen“ dank Blutlaser-Behandlungen, von einem Roboter, der die weiblichen Gäste belästigt. Sie waren vor Ort. War es wirklich so schlimm?
Nein, ich versuche natürlich, eine Komödie schreiben, ich war nicht mit einem Roboter dort. Aber es ist wahr, dass ich nach vier Tagen Brokkoli und nichts sonst außer Wasser und Soja hinausrannte, um Haribo-Gummibärchen zu kaufen. Es ist interessant, weil es die berühmteste Detox-Klinik der Welt ist und viele berühmte Leute gehen dorthin. Es ist sehr teuer, es ist auch wunderschön, mit dem Wörthersee, es ist ein wirklich wunderschöner Ort. Dann wollte ich die Blutlaser-Behandlungen und ein paar andere Techniken ausprobieren.
Die gibt es dort also wirklich?
Ja, das machen sie, sie erleuchten deine Venen. Ich versuchte es einmal. Man legt sich auf eine Couch, und sie tun rotes und gelbes Licht in deinen Arm. Aber ich hoffe, ich war nicht zu gemein, denn das sind sehr nette Leute und sie tun nur ihren Job, und ich wollte Fiktion schreiben und ein Buch. Sie waren sehr nett. Und ich schrieb es natürlich auf Französisch und wusste beim Schreiben nicht, dass es ins Deutsche übersetzt werden wird. Ich fürchte mich vor ihren Reaktionen.
Wie nahe kommt die Wissenschaft, kommen Transhumanismus, Biotechnologie und Genetik heute dem faschistischen Gedankengut, den Rassenperversionen der Nazis?
Diesen Traum, eine bessere menschliche „Rasse“ zu erschaffen, findet man nicht nur bei den Nazis vor und während des Zweiten Weltkriegs, sondern auch in Amerika vor dem Krieg. Die ganze Welt war in den Dreißigern fasziniert von Eugenik. Und tatsächlich kommt jetzt dieselbe Utopie zurück. Man will nicht Millionen von Menschen töten. Aber man will den Homo sapiens verändern und eine Art Superhero oder „Übermenschen“ erschaffen, und zwar nur mit Hilfe der Wissenschaft, nicht mit Gewalt.
Wie gefährlich ist das?
Die Gefahr ist sehr simpel. Wenn es sich nur sehr reiche Menschen leisten können, „übermenschlich“ zu werden, was passiert dann mit den „Undermen“, oder mit den Menschen, die für „niedriger“ gehalten werden? Mit allen normalen, nicht reichen Leuten, Leuten wie mich? Was wird mit mir passieren? Und das ist die Frage der Nazis. Was würde passieren in einer Welt, wo eine Elite von Leuten dreihundert Jahre alt werden würde und die anderen weiterhin sterben würden? Wäre das nicht gefährlich und würde das nicht Kämpfe oder Kriege hervorrufen, und eine neue Art von Unterschied zwischen Menschen schaffen?
Die Kluft zwischen Reich und Arm würde immer größer.
Genau. Der Traum einiger der reichsten Männer der Welt ist es heute, Inseln zu erschaffen, wo die reichen Unsterblichen zusammenleben würden. Der Rest des Planeten würde weiterhin sterben an verschmutzten Orten. Es ist normal, dass wir alle davon träumen, ewig zu leben. Das ist der älteste Traum der Menschheit. Und Religion erzählt uns, dass wir dann ein anderes Leben finden. In der Literatur wurde immer über diese Fragen geschrieben. Es ist wahr, dass das die älteste Utopie ist. Aber jetzt, da wir vielleicht die Mittel der Wissenschaft haben, das zu verwirklichen, wirft es eine Menge Fragen auf und Debatten, die mehr und mehr öffentlich gemacht werden sollten. Das war einer der Gründe, diesen Roman zu schreiben: Um diese Debatte zu schaffen, damit wir darüber reden können: Wollen wir die Menschheit beschützen, akzeptieren wir es, dass es vielleicht verschiedene Arten von menschlichen Lebewesen geben wird, von denen einige besser als die anderen sein sollen? Und das wirft hunderte von Fragen auf. Ich halte es für sehr wichtig, diese Diskussion um dieses Thema zu schaffen.
Hat die Wissenschaft die Agenden der Religion übernommen, die traditionellerweise mit dem ewigen Leben betraut war?
Am Ende meines Buchs erzähle ich von einem Treffen mit einem Priester, er heißt Thomas Julien, einen Seminaristen. Und er sagte mir: Wir werden uns entscheiden müssen zwischen der christlichen Religion, die sagt, dass Gott zum Menschen wurde, und den Wissenschaftlern, die denken, dass die Menschen Gott werden können. Es stimmt, dass viele der Wissenschaftler, die ich getroffen habe, so sprachen, als wären sie Gott. Sie sagen, dass sie die DNA verändern werden und die Kranken korrigieren und den Alterungsprozess umkehren werden. Es ist ihr Job, in diese Richtung Fortschritte zu machen. Ich tadle sie nicht, sie machen ihren Job. Aber wir müssen uns entscheiden, ob wir die Menschheit verbessern oder sie beschützen wollen.
Und Genetik kann eben nicht nur zur Heilung von Krankheiten betrieben werden.
Ja, sicher. Man kann sie dazu benützen, die Farbe der Augen, die Farbe der Haare, die Größe, Muskeln, zu wählen. Man kann die Menschen mit Tieren mischen oder mit einer anderen DNA, die man wählen kann – ich weiß nicht, ob es funktionieren würde. Aber wenn wir sehen, wie sehr sich die Welt verändert hat, wenn man sich vorstellt, dass sich das fortsetzt, dann ist die Biotechnologie der Ort, an dem das stattfinden wird. Biotechnologie und Genetik. Wir nennen es: die neue Welt. In Frankreich reden wir von der neuen und alten Welt. Das ist die neue Welt. Und ich bin 53 und Teil der alten Welt. Ich bin nicht Teil der neuen Welt. Und ich liebe die alte Welt. Ich hänge an vielen Dingen der alten Welt. Und ich weigere mich, mich anzupassen. Ich wollte mir vorstellen, was ich tun würde, wenn ich an der Stelle des Protagonisten in meinem Buch wäre, wenn ich angeboten bekommen würde, „höherwertiger“ zu werden. Und ich denke, am Ende würde ich es vorziehen, der alte Homo sapiens zu bleiben.
Haben Sie Angst vor dem Tod? Ist das im Buch beschriebene Endzeitszenario, das den Tod des Homo sapiens prophezeit, nicht viel furchterregender? Und was bevorzugen Sie: Nie endende Liebe oder ein endloses Leben?
Natürlich würde ich die nie endende Liebe bevorzugen! Aber existiert die? Ich nehme an, das Beste ist es, zu akzeptieren, dass alles ein Ende hat. Und der Sinn des Lebens besteht darin, zu lernen, wie man das perfekte Happy End findet! Nicht davor Angst zu haben.
Sie beschreiben im Buch eine sehr erfolgreiche „Chemical Show“ auf YouTube. Die Teilnehmer müssen vor der Live-Show Drogen einwerfen. Jugendliche sehen heute nicht mehr fern, sondern YouTube. Was halten Sie von dieser Video-Plattform? Viele YouTuber verdienen heute mit inhaltsleeren Videos oft mehr als ihre Eltern.
Wenn mir jemand erzählt hätte, dass ich mich nach dem alten Fernsehen zurücksehnen würde, das ich hasste, hätte ich es nicht geglaubt. Aber es ist wahr: Jedesmal, wenn es ein neues Medium gibt, ist es der größte vorstellbare Albtraum. Die Leute verwenden es nicht, um eine Sache gut zu machen, sie verwenden es immer, um etwas noch schlechter zu machen. Die neue digitale Welt ist sehr egozentrisch und am Ende dumm. Die kulturellen Objekte verschwinden. Wir haben die Schallplatten durch MP3-Dateien ersetzt und die Bücher durch digitale Bildschirme. Wir gehen nicht mehr ins Kino oder Theater, wir bleiben zuhause und schauen auf unser Mobiltelefon. Ich bin sehr paranoid, und stelle mir den Prozess vor, einen Mann zu erschaffen, der den ganzen Tag lang mit seinem Bildschirm verbunden ist. Der erste Schritt war es, die kulturellen Objekte zu zerstören: Bücher, Filme, Platten, sodass sie alle auf einem einzigen Bildschirm sind. Der erste Schritt ist ein großer Erfolg. Wir sind auf ihrem Schirm verbunden. Der nächste Schritt ist es, das in das menschliche Gehirn zu verpflanzen. Zum Beispiel die Google Glasses, das Mind Uploading eines Gehirns auf einen Computer, künstliche Intelligenz, künstliche neuronale Netze, künstliche Neuronen, alle diese Richtungen und verschiedenen Teile der Wissenschaft haben alle dasselbe Ziel, das ist der zweite Schritt: Den Bildschirm in unser Gehirn einzubauen, Google in uns zu installieren. Das ist das Ende des Menschen, wie wir ihn kennen. Das ist eine neue Art der menschlichen „Rasse“. Vielleicht ist das ihr Vorhaben. Da bin ich natürlich sehr paranoid. Die Tatsache, dass wir zum Beispiel Wi-Fi in unserem Gehirn mit uns verbunden hätten: Das würde uns natürlich sehr clever machen, wir würden alles wissen. Die Kinder müssten nicht mehr in die Schule gehen. Sie müssten nur mehr lernen, wie sie ihren inneren Computer verwenden müssten. Aber ich bin nur dazu da, andere zu alarmieren, ein Whistleblower. Ich fühle mich, als würde ich versuchen, jeden wegen meiner eigenen Ängste zu alarmieren. Einige der Bücher, die ich liebe, sind so: George Orwells „1984“, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. In Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ gab es viel Wissenschaft darin, er schreibt darin über Unsterblichkeit. Wenn ich einen Roman lese, mag ich es, wenn er komisch ist, sehr emotional. Wenn das Buch meine Augen öffnet, mich aufwühlt und zornig macht, mag ich es deshalb noch viel mehr.
Houellebecq reflektiert in seinen Werken ja auch die Zukunft der Menschheit, das Klonen, die Biotechnologie. Darin sind Sie einander ähnlich.
Ich liebe ihn sehr, er ist ein guter Freund. Er inspirierte mich sehr. Sicher. Er wollte, dass ich damals „Neunundreißigneunzig“ schrieb. Michel sagte, wenn ich in der Werbebranche arbeitet, muss ich der Welt zeigen, wie es dort zugeht. Ich habe meinem Freund gehorcht und dieses Buch geschrieben. Und es ist eine Tatsache, dass uns dieser künstliche Wunsch der Werbung zerstört. Ich schrieb das vor achtzehn Jahren und mittlerweile hat es sich noch viel mehr bewahrheitet, dass die Werbung unseren Planeten zerstört hat. Wegen unseres Bedürfnisses nach Dingen, die wir nicht brauchen. Es ist eine Tatsache, dass wir die Umwelt zerstört haben. Wir sind erfolgreich darin, eine Apokalypse künstlicher Bedürfnisse zu erzeugen. Das ist mein Job: Meine Aufgabe ist es, zu jedermann zu rennen und jedem zu sagen: Oh, mein Gott, es ist fürchterlich. Ich weiß nicht, ob man mir glaubt oder zuhört, aber das ist meine Aufgabe.
Und Sie tun das mit viel Ironie, Humor und Komik, was gut ist, denn dann wird man vielleicht eher gehört.
Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht schon zu spät ist. Das ist meine größte Sorge.
Houellebecq wird, auch von feministischer Seite her, oft kritisiert, zum Beispiel, weil er sehr verstörend über den körperlichen Verfall von Frauen schreibt. Die Männer kommen bei ihm allerdings auch nicht gerade gut weg.
Wissen Sie, wenn man verstörende Dinge sagt – und was er sagt, ist, immer wahr. Er erzählt Dinge, die wir nicht hören wollen, die aber wahr sind. Und es ist richtig, dass es sehr schwer ist, als Frau alt zu werden in unserem sexistischen Universum. Es ist unfair und schrecklich, aber es ist feministisch, das zu sagen. Er ist ein Feminist. Michel ist ein Feminist. Natürlich ist es wichtig, dass Frauen dasselbe wie Männer bezahlt bekommen. Aber es gibt noch eine Ungerechtigkeit, ein anderes Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen: Männern ist es erlaubt, älter zu werden, und Frauen nicht. Es ist auch wichtig, dass Männer und Frauen dasselbe bezahlt bekommen. Aber es ist so wichtig, dass man es Frauen erlaubt, alt zu werden oder fett zu sein oder hässlich und das sein zu dürfen. Denn uns Männern ist es erlaubt. Wir dürfen alt, fett und hässlich zu sein. Ich weiß es auch nicht. Jedesmal, wenn ich ein Buch veröffentliche, werde ich von vielen verschiedenen Leuten angegriffen, die untereinander auch uneins sind. Ich versuche einfach nur eine Geschichte zu erzählen und zu erreichen, dass die Leute Fragen stellen: Sich selber und weshalb sind wir hier und was tun wir, sollen wir so weitermachen wie bisher. Es gibt am Ende auch Positives in meiner Geschichte über mein nie endendes Leben. Es gibt Hoffnung. Ich hoffe, dass es Licht am Ende meines Tunnels gibt.
Ja, die gibt es. Ist das die Lösung, unsterblich zu werden? Kinder zu bekommen, Leben weiterzugeben?
Mein Held im Buch ist tatsächlich sehr dumm. Er sucht nach der Ewigkeit, und er ist ein totaler Idiot. Er nimmt seine Tochter überall hin mit, um die ganze Welt und zuletzt erkennt er, dass das Geheimnis ewigen Lebens sehr nahe ist und dass er es nur nicht gesehen hat. Ja, durch Vererbung und Liebe, das ist die Antwort. Das ist die wirkliche Lösung für den verzweifelten Sterblichen. Wenn man Leben schenkt, dann hat man gegen den Tod gewonnen. Ein Weg, den Tod zu töten, ist es, Leben zu gebären. Und der andere, auch im Buch, ist Schreiben. Frédéric schreibt über seine Erfahrungen. Literatur, wie wir alle wissen, ist immer eine Art Hoffnung, den Tod zu schlagen. Dass man sich an dich erinnert, das ist beides: sehr selbstbewusst und sehr absurd. Das ist der Traum jedes Schriftstellers, und ich muss zugeben, das ist auch mein Traum. Viele, viele Leute schreiben Bücher, und nur an wenige erinnert man sich. Aber wie auch immer: Es lohnt sich, es zu versuchen.
Die Welt hat sich seit Ihrem Erfolgsroman „Neununddreißigneunzig“ sehr verändert. Heutzutage macht jeder Werbung für sich selbst.
Ja, damit beginne ich den Roman. Es ist unglaublich. Wenn mir jemand vor zwanzig Jahren gesagt hätte, dass zwei Millionen Menschen ihren Tag damit verbringen und es brauchen, ihre privaten Geheimnisse, ihr Leben, ihre Kinder, ihre Adressen, Jobs, was sie essen, wohin sie gehen, zur Schau zu stellen – umsonst, nicht für Geld, nur, um zu existieren –, ich hätte es nicht geglaubt. Und ich glaube, George Orwell hätte Selbstmord begangen, wenn man ihm das erzählt hätte. Das passiert gerade, und es ist total verrückt. Die Menschen gehorchen nicht nur dem Diktat der Werbung, sondern sie opfern ihr geheimes Leben, ihre Privatsphäre nur für ein paar Likes, um ein paar Likes mehr zu haben als der Nachbar. Es ist nicht Geld, es sind nur Likes. Das ist leer. Das ist nur Luft, Wind.
Woher kommt dieses Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen und virtuelle Likes zu sammeln? Es sind ja nicht einmal echte Freunde, die man da hat, sondern nur virtuelle.
Ich glaube, es ist immer das Problem des Existierens. Jeder will existieren. Zuerst gab es das Kino, dann das Fernsehen und heute hat das Bedürfnis, berühmt zu sein, die ganze Menschheit erfasst. Früher gab es Strukturen, die es jetzt nicht mehr gibt: Religion, Familie. Die Menschen waren nicht über alles informiert, was möglich war. Die Menschen akzeptierten es, andere zu bewundern. Heute wollen sie selbst bewundert werden. Wenn jeder dasselbe will, wenn jeder George Clooney sein will oder Kim Kardashian, dann ist das schrecklich. Wir sind unsere eigenen Totalitaristen geworden, Totalitarsten des Selfies. Im Buch habe ich es „Selfist“ genannt. Wir sind „Selfisten“. Das ist die Religion der Nabelschau. Wenn das der erste Schritt dazu ist, eine neue Kreatur zu erschaffen, halb Mutant und halb Roboter, dann ziehe ich es vor, wegzugehen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich Paris verlassen habe. Ich lebe jetzt unweit des Meeres.
Sie haben auch Facebook verlassen?
Ja, ich bin bei keinem sozialen Netzwerk. Wie ich Ihnen gesagt habe: Ich bin ein alter Dinosaurier, ich werde bald ausgestorben sein. Ich bin Teil der alten Welt, der „Jurassic“-Welt. Ich lese gerne Bücher, blicke aufs Meer, beobachte meine Kinder, ich verbringe meine ganze Zeit in meinem Garten, von wo aus ich gerade mit Ihnen spreche. Ich bin so. Wenn man etwas über den „Homo Deus“ wissen will oder diese Maschine, die uns ersetzen wird – ich möchte nicht Teil davon sein. Manches davon ist nützlich, und natürlich nutze ich es manchmal, um Informationen zu haben. Es gibt nicht nur Schlechtes, was man über die digitale Welt sagen kann. Aber ich glaube, wir müssen die Gefahren der neuen Technologie lernen. Denn es ist jetzt zwanzig Jahre her, und es ist Zeit, einen neuen Code zu lernen, uns normal zu benehmen, einen Code, höflich zu sein oder einfach zu gesund für unsere psychische Ausgeglichenheit, und zwischen unserem Menschsein und der Maschine zu wählen. Die Maschine muss nicht für uns entscheiden oder uns ersetzen und uns einsperren. Das ist es, weshalb ich Widerstand gegen die Digitalisierung leiste. Ich versuche, Widerstand zu leisten, weil ich mich nicht anpassen möchte. Darwin sagte, dass Tiere, die sich nicht anpassen, eliminiert werden. Also: Bit – bye, bye.
Was sagen Sie zum Facebook-Skandal? Was interessant ist: Dessen Gründer, Mark Zuckerberg, investiert gewaltige Summen in die neuen lebensverlängernden Technologien.
Wie ich im Buch sage, gibt es eine Logik dahinter. Wenn man glaubt, dass Datenschutz nicht wichtig ist, wenn man denkt, dass Bücher, Musik, Kino auf denselben Bildschirm passt, wenn man glaubt, dass man alle Details der Leben von Millionen Leuten an Unternehmen verkaufen kann, um sie zu beeinflussen, bestimmte Produkte zu kaufen – diese Leute sind dieselben Charaktere wie in meinem Buch über die Werbung. Das sind Werbetreibende einer neuen Art. Das ist alles. Sie verkaufen dein Gehirn an Produkte. Das ist genau dasselbe wie das, was sie in den Werbeagenturen der Fünfziger gemacht haben. Es ist nur ein neues Medium. Neu für die Produkte und Unternehmen. Und dann geben sie das Geld, um unsterblich zu werden und die Menschheit zu verändern und zwar dahingehend, dass sie den Befehlen des Kapitalismus noch mehr gehorchen. All das ist nicht neu, es ist nur ein Weg, uns noch schneller zu zerstören. Das ist alles.
Wie denken Sie denn über unsere „politisch korrekte“ Zeit? Man darf kein Fleisch mehr essen, nicht mehr rauchen. Die politische Korrektheit hat auch die Kunst erreicht, Kinderbücher werden zensiert. Sind das nicht seltsame Zeiten?
Es ist seltsam, weil sie uns immer sagen, dass diese neuen Technologien uns Freiheit geben. Wir werden frei sein, wir werden frei sein, das und jenes zu tun, zu reisen und so weiter. Wenn man aber genau hinschaut, sieht man, dass sie sie nicht anwenden, sie mögen die Freiheit nicht. Globalisation ist eine Uniformierung der Welt. Sie mögen keine Unterschiede. Sie möchten, dass alle Menschen gleich sind. Das ist seltsam. Ich mag es, dass die Welt unterschiedlich ist und die Menschen nicht dasselbe essen, nicht dasselbe denken – das macht doch die Schönheit der Welt aus. Aber einige der Dinge, die gut für Kinder sein sollen, mache ich auch: Ich versuche zum Beispiel, dass meine Kinder mehr Gemüse essen als ich. Ich trank dreißig Jahre lang Coca-Cola, und jetzt habe ich aufgehört, und ich hoffe, dass meine Kinder erst gar nicht damit anfangen. Aber das ist anders, das ist auch eine Art, Widerstand gegen die Werbung zu leisten. Ich versuche, dass sie nicht den Bildschirmen und all diesem Bullshit ausgesetzt sind. Aber nicht jede Sanktion ist schlecht. In Frankreich ist es zum Beispiel nicht erlaubt, manche Wörter zu sagen. Es gibt ein Gesetz, das einige Wörter verbietet, wie zum Beispiel „Nigger“, und das finde ich gut. Es ist gut, dass Leute nicht beleidigende oder gewalttätige Aussagen machen können. Also, manches davon verstehe ich. Aber was kann ich darüber sagen, ich bin nicht politisch korrekt, das ist wahr.
Warum werden Sie immer das „Enfant terrible“ der französischen Literatur genannt? Hat das mit Ihrer Verhaftung 2008 wegen Drogenbesitzes zu tun?
Ich weiß es nicht. Zuerst ärgerte ich mich darüber, aber nun habe ich es akzeptiert, und es ist besser, „Enfant terrible“ genannt zu werden als etwas anderes. Es ist ein Klischee über mich, wie auch der Glaube, dass ich ein Nachtclubbesucher bin – ich gehe nicht mehr so viel aus wie früher. Ich bin nicht dafür verantwortlich, was andere über mich sagen. Aber „Enfant terrible“ ist nicht das Schlechteste, was man über mich gesagt hat. Ich mag es, „enfant“ genannt zu werden, weil es bedeutet, dass ich jung aussehe.
Hat sich Ihre Haltung zu Drogen und all dem geändert, seit Sie Vater wurden? Denn so ist es ja oft: Um seine Kinder ist man besorgter als um sich selbst.
Ja, das ist wahr. Das Problem ist, dass ich viele Geschichten geschrieben habe, in denen es auch um Drogen geht. Ich hoffe, dass meine Kinder meine Bücher nicht lesen werden.
Aber die Vaterschaft hat Sie verändert?
Vollkommen. Ich bin aus Paris weggezogen, ich trainiere, ich betreibe Sport, ich esse anders. Es ist wahr, ich wache früh am Morgen auf, was ich nie getan habe, und nun entdecke ich die Morgen. Es ist ein netter Teil des Tages, der Morgen, und wenn man um sieben Uhr früh aufsteht, lebt man ein längeres Leben, denn das sind viele Stunden, die vorher nicht existierten.
Was halten Sie von der #MeToo-Bewegung?
Ich glaube an Recht und Justiz. Es ist etwas anderes zu schreiben. Wenn man einen Anwalt, Richter und Verteidiger hat, ist es besser, als wenn es nur jemand ist, der Dinge auf Twitter schreibt. Keine Gerichtsverhandlung. Keine Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen. Das ist schrecklich. Natürlich, wenn man Frauen berührt, ohne zu fragen, ist das ein Verbrechen und muss judiziert werden, aber vielleicht nicht als sofortige Zerstörung der Person, ohne dass diese eine Möglichkeit hat, sich zu verteidigen. Aber es ist besser, um Erlaubnis zu fragen. Man nennt das Verführung, Galanterie. Es gibt eine lange französische Tradition, mit Worten zu verführen. Das ist cool. Das sollte weiterhin existieren: Dass ein Mann eine Frau oder einen Mann oder eine Frau einen Mann oder eine Frau verführt. Das ist eine Form der Kunst: Über Liebe zu reden: Wie schön du bist, wie du mein Leben verändert hast, dass ich lachen möchte, wenn ich dich sehe – alle diese Worte sind doch wunderschön. Ich möchte, dass das weitergeht. Und wenn die Person, an die man das richtet, Nein sagt, und dass sie nichts mit dir zu tun haben will, dann ist das sehr traurig, dann geht man einfach weg und in eine Bar und betrinkt sich.
Sie haben das Fernsehen verlassen? Weshalb?
Es ist schwierig, jeden Tag beim Fernsehen zu arbeiten und Paris zu verlassen. Ich wollte hier auf dem Land sein, weit weg vom Lärm. Ich ging vom Fernsehen weg, auch vom dem Magazin „Lui“, wo ich Chefredakteur war, und nun bin ich eine wirklich armer Mensch, ich habe viel weniger Geld, aber ich bin viel, viel glücklicher.
Sie arbeiten als Literaturkritiker für „Le Figaro“?
Ja, ich muss jede Woche ein Buch lesen, und das ist perfekt, ich liebe es.
Kennen, mögen Sie österreichische Autoren, Autorinnen?
Wie jeder: Thomas Bernhard, er ist so gemein und unbarmherzig und komisch. Und den Dichter Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig. Viele, viele. Und auch die Autorin von „Lust“, die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Sie ist die einzige Nobelpreisträgerin, die wirklich eine Porno-Sache schrieb. Wenn man sich dagegen die Franzosen anscheut – Jean-Marie Gustave Le Clézio und Patrick Modiano – die sind wirklich sehr, sehr sanft. Und Elfriede: Sie ist sehr heiß. Gut, jetzt haben sie eine Menge Probleme, aber es ist wahr, dass sie sehr ruhig waren. Die Entscheidungen, die sie trafen, waren nicht skandalös, nicht subversiv, mit Ausnahme von Jelinek – als einzige. Die anderen waren alle sehr politisch korrekt. Sie gaben ihn nicht Philip Roth, was eine gute Idee gewesen wäre. Sie sind in den letzten Jahrzehnten nicht viele Risiken eingegangen, mit Ausnahme von Jelinek und vielleicht noch Dario Fo. Ihm den Nobelpreis zu geben, war ziemlich interessant. Bob Dylan ist ein anderer Fall. Denn das war keine riskante Wahl.
Was bedeutet Glück für Sie?
Früher hätte ich gesagt, dass Glück ein unglückliches Wort ist. Wenn man über Glück sprach, beschwerte man sich immer, erwähnte man immer etwas, was einem fehlte. Das sagte ich oft, als ich dreißig war. Aber jetzt bin ich dreiundfünfzig und beginne zu erkennen, dass es einige Menschen, Momente und Orte sind, die mich glücklich machen. Und ich versuche, mich selbst besser zu kennen und den Weg zum Glück zu finden. Das ist natürlich nicht einfach. Aber wenn man sich selbst kennt und die Orte, die Situationen kennt, an denen man sich gut fühlt, sollte man die suchen, und versuchen, die anderen zu vermeiden. Wenn ich mich irgendwo nicht wohl fühle, gehe ich einfach, gehe ich woandershin, bis ich mich gut fühle. Aber der jungen Generation würde ich eine andere Antwort geben: Glück ist es, das Telefon abzuschalten. Schaltet euer Telefon aus und schaut um euch: Das nennt man Leben. Glück ist zu entdecken, dass es eine Welt um dich herum gibt und man ein Leben hat, das interessanter ist, als alles sonst. Instagram macht niemanden glücklich. Ich bin sicher, dass sogar Justin Bieber nicht glücklich auf Instagram ist. Niemand ist glücklich, weil er Bilder von seinem Gesicht macht und sein Leben mit dem anderer vergleicht. Das macht einen nicht glücklich. Überhaupt nicht.
Der 1965 in Neuilly-sur-Seine geborene Frédéric Beigbeder studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Werbetexter, ehe er „39,90“ veröffentlichte, eine konsumkritische Abrechnung mit der Branche. Es folgten „Windows on the World“ und „Der romantische Egoist“. Teil drei seiner Trilogie rund um den Pariser Partylöwen Marc Marronnier wurde unter dem Titel „Das verflixte dritte Jahr“ von ihm selbst verfilmt. „Ein französischer Roman“ (2010) brachte den „Prix Renaudot“. Er lebt im französischen Baskenland.
„Endlos leben“ (Piper)
Übers. v. Julia Schoch, 352 S.
„Ein französischer Roman“ (Piper)
Übers. v. Brigitte Große, 256 S.